Fernsehen sieht alt aus

Medientagebuch Andere Aufmerksamkeitsspannen, andere Produzenten: Webisodes heißen Serien, die ein Millionenpublikum erreichen

Sie tragen Sakkos mit Schulterpolstern in indiskutablen Farben, fahren im weißen Peugeot Cabrio mit quietschenden Reifen durchs Regierungsviertel, die Magnum gezückt und eine Pumpgun im Anschlag. Sunny und Ricardo, zwei Achtziger-Jahre-Cops, ermitteln auf den Straßen von Berlin-Moabit. Ihre Klientel sind Handtaschenräuber und Sozialschmarotzer. Die beiden Undercover-Polizisten, Stars der Web-Serie Moabit Vice (www.moabit-vice.de), wollen in ihrem Kiez aufräumen und stehen sich dabei meist selbst im Weg.

Auch Blaschke.tv gibt es nur im Internet. Die Web-Serie des ZDF soll vor allem junge Zuschauer ansprechen, an denen der öffentlich-rechtliche Sender bislang vorbeigefunkt hat. Kurzerhand wurde eine Fortschreibegeschichte um den Prominentenchauffeur Hubertus Blaschke aufgelegt, der das Glitzerleben der Stars und Sternchen hinter seiner Windschutzscheibe verfolgt. An Blaschke.tv kann sich jeder mittels eines "eScript-Tools" (http: //blog.zdf.de/escript/) beteiligen. Sieben Wochen lang haben Web-Autoren "mit redaktioneller Unterstützung" an der ersten Folge herumgedoktert, in der Jenny Elvers-Elbertzhagen mitspielt. Der zweite Streich ist in Arbeit.

Solche seriellen Videos im Internet werden "Webisodes" genannt. Sie erzählen eine Geschichte über mehrere Folgen hinweg, ähnlich wie Soap-Operas im Fernsehen, bloß viel kürzer. Selten dauern die einzelnen Episoden länger als fünf Minuten. Das entspricht der Aufmerksamkeitsspanne im Internet, die durch YouTube-Clips präfiguriert worden ist. Und siehe da: Selbst in so kurzer Zeit lassen sich passable Geschichten erzählen.

Von der Webisode Roommates (www. myspace.com/roommates) gibt es bereits 47 Folgen. Augenblicklich wird die zweite Staffel produziert. Professionell beginnen die einzelnen Episoden mit "Previously on Roommates...", gefolgt von einer kurzen Zusammenfassung der bisherigen Geschehnisse. Dreimal in der Woche erscheinen neue Folgen. Die unter College-Abgängern spielende Story ist insgesamt 12,5 Millionen Mal angeschaut worden, von bis zu 100.000 Zuschauern täglich.

Gesponsert wird Roomates von einer Kontaktlinsenfirma und einem Autohersteller, dessen neues Kleinwagenmodell in den Episoden entsprechend in Szene gesetzt wird. Im Mediengeschäft hat das eine gewisse Tradition: Auch Soap Operas im Fernsehen wurden ursprünglich von Waschmittelherstellern produziert, die in den Pausen eifrig die Werbetrommel für ihre eigenen Seifen und Laugen rührten.

Andere Webisodes wie Quarterlife (www.myspace.com/quarterlife) und Dorm Life (www.dorm-life.com) reichen in ihrer professionellen Machart an die vom Fernsehen gewohnte Ästhetik von Teenie-Soaps heran. Quarterlife spielt unter frischen Uni-Absolventen und Dorm Life unter jungen Studienanfängern. Inzwischen hat auch Google eine Webisode namens Cavalcade angekündigt und Internet-Plattformen wie MySpace haben eigene Video-Sektionen (http://vids.myspace.com/) für audiovisuelle Serieninhalte eingerichtet.

Nach dem Motto "Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, kommt der Prophet zum Berg", haben Fernsehsender annonciert, spezielle Web-Versionen ihrer TV-Serien aufzubereiten. So plant der US-amerikanische Sender NBC, kurze Folgen von Heroes, Chuck und The Office ins Web zu stellen. Ob das funktioniert? Zumindest wirkt der Versuch, auf diese Weise die unter 30-Jährigen mit gewohnter Fernsehkost zu bedienen, etwas verzweifelt. Auch auf dem umgekehrten Weg liegen viele Stolpersteine: Beim Versuch, die Webisode Quarterlife im Fernsehen auszustrahlen, erlitt NBC erst im Januar mangels Einschaltquoten Schiffbruch.

An diesen Beispielen zeigt sich, wie sehr das Medium Fernsehen vom Erfolg des Internet überrannt worden ist. Offensichtlich hängen Fernsehmacher noch der Konvergenztheorie an und gehen wie selbstverständlich davon aus, dass sich ihre visuelle Vorherrschaft auch im Internet aufrechterhalten lässt. Mühsam versuchen sie, ihre Inhalte den neuen Begebenheiten anzupassen. Hatte man ihnen nicht versprochen, dass die beiden Medien Internet und Fernsehen zusammenwachsen würden? Und war nicht stets die Rede gewesen vom einfachen Content-Sharing und einer kinderleichten Inhaltedistribution? Auf Knopfdruck sollte aus einem Tatort ein Kurzkrimi für Web und Handy werden.

An den erfolgreichen Webisodes zeigt sich indessen, dass sie unabhängig vom Fernsehen entstehen. Sie mögen sich in ihrer Ästhetik und Dramaturgie nicht allzuweit vom Altmedium entfernt haben. Dennoch erscheint der Vorsprung groß. Den jungen Webautoren sind die Rezeptionsgewohnheiten der Internetjugend einfach viel geläufiger als altgedienten Branchenschreibern. Kürzlich erklärte Marc Cherry, Schöpfer der Serie Desperate Housewives, dass er fürs Internet nicht die nötige Energie habe.

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