Frust über das Sosein des Daseins

Medientagebuch Wohnst du noch oder sägst du schon? Das Fernsehen stellt dem Zuschauer die Bude auf den Kopf

Anders als in Mietverträgen festgelegt, werden die eigenen vier Wände eher in einem individuellen Turnus denn im kalendarischen überholt. Erreichte Lebensetappen - der Uni-Abschluss, Familienzuwachs oder ein Wunschjob - zelebriert man gerne in einer frisch getünchten und neu gestalteten Behausung. Ein verändertes Selbst verlangt scheinbar nach einer verwandelten Umgebung. Auch der umgekehrte Fall ist gut denkbar: Aus Frust über das Sosein des Daseins gönnt man letzterem einen neuen Anstrich in der Hoffnung, alles werde gut.

Diesen Umstand machen sich eine Reihe von Deko-Shows mit Do-it-yourself-Charakter im Fernsehen zu Nutze. Wohnen nach Wunsch - Einsatz in vier Wänden (Vox, RTL), S.O.S. Style Home (Pro7), Rick´s Wohnwelten (ZDF), ServiceZeit: Bauen und Wohnen (WDR) oder Lust am Wohnen (NDR) mit der unvergleichlichen Alida Gundlach - fast jeder Sender fällt inzwischen in die privaten Gemächer seiner Zuschauer ein und sieht dort nach dem Rechten. Nicht zu vergessen die bereits abgelaufene Deko-Doku New Life - Mein neues Leben (Pro7), in deren Verlauf das Leben der Kandidaten noch am gründlichsten umgekrempelt wurde.

Die Ausgangssituation der Sendungen ist meist von dringendem Handlungsbedarf geprägt. Eine völlig zugemüllte Studentenbude oder ein mit ausrangierten Möbelstücken voll gepfropftes Kinderzimmer bringen Tine Wittler auf den Plan zum Einsatz in vier Wänden. Die unerschrockene Innenarchitektin guckt sich das Malheur an, entwirft komplizierte Pläne, und schon machen sich Schreiner, Maler und Designer daran, aus dem schreienden Chaos eine geordnete Wohnwelt zu basteln. Während die Bewohner ein wenig aus ihrem Leben plaudern, dürfen sie die Etappen der Umgestaltung nicht verfolgen. Überraschung muss sein. Dass es am Ende trotz aller handwerklichen Finesse, die fachkundig an den Tag gelegt wurde, meistens aussieht wie im aktuellen Ikea-Katalog, erschüttert hier niemanden.

S.O.S. Style Home operiert dagegen deutlich nutzwertiger. Nachahmbarkeit und die preiswerte Lösung sind das Credo, welches dem Ergebnis auch anzusehen ist. Jeder Handschlag und jeder Bohransatz werden sorgsam dokumentiert. Offenkundig waren hier TV-Kochshows das Vorbild, denn selbst die Preise für die Verhübschung des Zuhauses werden eingeblendet. "Mit beleuchteten Blumenkübeln beendet Sonya Krause die Terrassen-Tristesse" verspricht ein Trailer. Und tatsächlich: Die Moderatorin, die gleichwohl im Verdacht steht, außer einer Nagelfeile kein weiteres Werkzeug jemals angefasst zu haben, lässt aus einer öden Sechziger-Jahre-Wohnblock-Terrasse eine knallbunte Strandbar erstellen mit bunten Lichterketten, einem Sonnenschirm aus Bast, farbigem Bodenbelag und illuminierten Blumentöpfen.

"Stil ist, was man daraus macht", wüsste Alida Gundlach an dieser Stelle zu punkten. Ihre Sendung möchte die "Lust auf Wohnen" anregen, freilich im höheren Preissegment. Die langjährige Ex-Gastgeberin der NDR-Talkshow und Adelsexpertin empfiehlt sich nun als letzte Instanz in Sachen Stil. Selbst komplizierte Trendtheorie, wie das "Cocooning" - sich im Privaten gemütlich einspinnen -, geht ihr locker über die Zunge: "Nachdem ja die Häuslichkeit wieder entdeckt worden ist", weiß sie zu berichten, ist der Tisch "als Kommunikationszentrum" von eminenter Wichtigkeit. Mit Fischnetz, Seesternen und einer Handvoll Sand zaubert die patente Alida darauf eine maritime Stimmung, während im Garten ein Goldfischteich entsteht.

Wohler aber, das bleibt nicht im Verborgenen, fühlt sich Alida bei den Schönen und Reichen. Etwa in der an Hamburgs Außenalster gelegenen Wohnung von Marlies Möller, Star-Frisöse und langjährige Freundin der Gundlach. Dass Alida sich von Reichtum blenden lässt, ließ sie schon bei ihren Adels-Portraits erkennen. Um es zu vertuschen, wandelt sie ihre Schwäche einfach in Stärke um und nimmt dabei eine ausgekochte Hausfrauenperspektive ein. Was? Römer-Weinkelche zusammen mit arabischen Pfefferminzgläsern? Alida muss sich wundern: "Wie lernt man diese Stilsicherheit?" - "Mut zum Dekorieren", meint Marlies Möller. "Das Risiko bleibt ja überschaubar", kontert Gundlach schlagfertig und blickt aus dem Fenster auf Alster und die Hamburger Innenstadt.

Tatsächlich geht es in den Deko-Shows um nicht weniger als die nackte Existenz. Vom Grundgesetz geschützt, werden hier Wohnungstüren bereitwillig den einfallenden Kamerateams geöffnet, Intimstes ohne Scheu der Öffentlichkeit gezeigt. Im Gewand des Ratgebers weiden sich die Sendungen voyeuristisch am Stilanalphabetismus der Bewohner und erteilen ihnen Nachhilfe im Schöner Wohnen. Als Savoir-vivre lässt sich das schwerlich ausgeben. Die Stillösungen stammen unverkennbar aus den einschlägigen Hochglanzmagazinen. Und genau wie diese lassen auch die Deko-Shows mitunter eine saubere Trennung zwischen redaktionellen und werblichen Inhalten vermissen.

Wie wichtig Wohnen, oder besser gesagt: richtiges Wohnen geworden ist, lässt sich den Deko-Shows leicht an der Unsicherheit der Kandidaten in allen Fragen des guten Geschmacks ablesen. Längst reicht es nicht mehr aus, ein Renommierzimmer auf Vordermann zu bringen, in dem Gäste empfangen werden können. Das ganze Zuhause gehört durchgestylt. So suggerieren es zumindest diese Shows. Eigene Vorschläge haben die Kandidaten meistens nicht, es grassiert vollständige Ideenlosigkeit. Infolgedessen haben die Stilexperten leichtes Spiel und gestalten das fremde Domizil nach eigenem Gutdünken um. Dass Wohnen ein Spiegel der Persönlichkeit sei, erweist sich somit als Dahingeplauder, es sei denn, die Persönlichkeit des Experten war gemeint.

Am weitesten hat diese Insinuation New Life - Mein neues Leben getrieben. Dort hielt sich das Expertenteam keineswegs damit auf, lediglich die Wohnung auseinander zu nehmen. Die komplette Kandidatenperson wurde einer Umgestaltung unterzogen. Während ein Innendesigner sich die Privatgemächer vorknöpfte, lud Barbara Becker, Lifestyle-Expertin in eigener Sache, ins ferne Malibu ein und streifte mit den Kandidaten durch Boutiquen und Frisierstuben. Am Ende stand eine umdekorierte Person verdutzt in einer fremden Wohnung - Mach mehr aus deinem Typ! Und doch: Wer wüsste sich und sein Zuhause schon immer stilsicher in Szene zu setzen? Dazu bedarf es eines Zauberspiegels, den das Fernsehen gerne liefert.


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