Im Osten nichts Neues

Medientagebuch Beim MDR feiern Volksmusik-Sendungen weiterhin fröhlich Urständ

Bei der letzten Folge von Telebingo im nicht nur liebevoll so genannten "Muckeldeutschen" Rundfunk (MDR) kam es am Sylvesterabend zu einer angeblich technischen Panne. Wiederholt forderte das Moderatoren-Pärchen, Tatjana Meissner und Achim Geimer, die Zuschauer auf, an der Lösung des Bingo-Rätsels mitzuwirken und in die Sendung anzurufen. Doch das Telefon schwieg beharrlich. Sollte der Autor dieser Zeilen etwa der einzige Zuschauer gewesen sein? Waren alle anderen schon eingeschlafen? Oder wollte nur niemand zum Hörer greifen? Statt Telebingo nun die Reportagereihe Menschen und Straßen ins Programm zu hieven, wird sicherlich die richtige Entscheidung sein. Volksmusik dagegen wäre eine noch sicherere Nummer.

Es mag ja nur mir so ergehen. Doch wann immer ich mit der Fernbedienung am MDR vorbeizappen will, bläst mir eine Tuba den Marsch oder ein gegelter Jüngling schleicht im Habit mit ausgebreiteten Armen fröhlich trällernd durch ein Studio voll schunkelnder Silver-Ager. Ein Mühlrad meist im Hintergrund. Die gefühlte Volksmusik-Dichte beim MDR liegt bei mindestens achtzig Prozent. So kann es nicht erstaunen, dass die Vormittagssendung Weihnachten bei uns am ersten Weihnachtsfeiertag auf 470.000 Zuschauer kam und auf einen Marktanteil von 26,6 Prozent. Ein imposantes Ergebnis. Volksmusik- und Schlager-Sendungen sind ausgesprochene Quotenhits, nicht nur beim MDR. Dort jedoch scheint es die meisten davon zu geben. Von Achims Hitparade mit dem unbeschreiblichen Achim Menzel über die MDR Schlager Charts bis zur Wernesgrüner Musikantenschenke singt und klingt es volkstümlich vom "Arzgebirg" bis in den Harz.

Der "Kassenschlager Volksmusik" war dem MDR Anfang dieser Woche gar einen theoretischen Überbau wert. Alexandra Gerlach lud Protagonisten der Szene zum Dresdner Gespräch, bei dem die altbekannte Distinktion zwischen "echter" Volksmusik und kommerzieller "volkstümlicher Musik" neu aufgewärmt wurde. Hier das Hackbrett, die Zither und die überlieferte Weise aus der Mundorgel - dort die E-Gitarre, das Schlagzeug und ein Schmachtfetzen, der sich auf Liebe und Heimat reimt. Obschon beide Kategorien längst verwischt sind, sich ineinander verhakeln und die "reine" Volksmusik ein Mythos ist, an dem umso verbissener festgehalten wird, je weit reichender die musikalischen Modernisierungen ausfallen, existiert weiterhin ein Unterschied: An die Qualität der traditionellen Texte reicht heute wohl niemand mehr so schnell heran.

Trotzdem will der ungebremste Boom der Volksmusik im Fernsehen erstaunen. Anders als bei anderen Show-Formaten wollen sich hier anscheinend gar keine Ermüdungserscheinungen beim Publikum einstellen. Schon vor mehr als zehn Jahren, als die Menschen der beiden deutschen Staaten politisch zueinander fanden, musste die volkstümliche Musik den Kitt für diese labile Verbindung liefern. Scheinbar mühelos konnten die vierzig getrennten Jahre überwunden werden durch kollektives Erinnern an vorgebliche Gemeinsamkeiten: Brauchtum, Sprache und urdeutsche Idylle. Schunkelnd fanden Menschen zusammen, deren unterschiedliche Sozialisation nur über den Brückenschlag in die Geschichte und unter Ausblendung der Wirklichkeit die real existierende mentale Distanz überwinden konnte. Hartnäckig macht sich seitdem ein Eskapismus-Vorwurf an der Volksmusik fest.

Darüber hinaus bedeutet das auch, dass die Anhänger der Volksmusik nicht mehr die Jüngsten sind. Gern wird deshalb die volkstümliche Spielart als "Rentnermusik" bespöttelt, und wirft man einen Blick ins Publikum der stets mit Playback aufgeführten Sendungen, so festigt sich dieser Eindruck schnell. Dass Newcomer zum guten Ton gehören und mitunter schräge Vögel die Charts anführen, ist weniger Indiz für ein erwachendes Interesse an Volkstümlichkeit unter jungen Leuten, als vielmehr eine weitere Facette jenes "Luftschlosses Heimat", an dem die Impresarios der Szene basteln und vermutlich gut verdienen.

Dieser etwas polemischen Perspektive auf Volksmusik-Sendungen wohnt - zugegeben - ein Stadt-Land-Konflikt inne, der in entgegen gesetzter Richtung auch von den Liedern ständig heraufbeschworen wird. Schon im Heimatfilm der fünfziger Jahre ist die Provinz immerfort bedroht von den Zumutungen der modernen Welt, als deren Sinnbild in die heimatliche Idylle einfallende Städter gelten, die alles durcheinander bringen. Dieses Muster scheint bis heute die dritten Regionalprogramme zu prägen, die sich bemühen müssen, zwischen Tradition und Moderne zu vermitteln.

Natürlich nehmen Schlager- und Volksmusik-Sendungen im Programm der Dritten nur einen Bruchteil ein. Ihre ungebrochene Popularität muss indessen als symptomatisch gelten, als Indiz für die zunehmende Bedeutsamkeit von regionaler Identität in globalisierten Zeiten. Die Tagesquoten des MDR belegen, dass Sendungen mit Regionalbezug stets an der Spitze liegen. Nicht immer freilich greift auch dieser Sender zur Zaunpfahl-Methode. Erfrischend neue Formate wie Elefant, Tiger Co. mit Geschichten aus dem Leipziger Zoo gehören ebenso zu den Zuschauerlieblingen.


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