M wie Monetarisierung

Medientagebuch MTV und ich: Das künstlerisch avancierte Musikfernsehen ist zum Trash-Fernsehen verkommen

Musikfernsehen begann für mich in den frühen achtziger Jahren, als in einer westfälischen Diskothek - ungefähr zur selben Zeit als der amerikanische Musiksender MTV startete - ein Video von David Bowie auf den Monitoren lief: Ashes to ashes. Darin stolziert Bowie, als Harlekin verkleidet, in einer Mondlandschaft herum. Der Mann, der vom Himmel fiel, und sein ätherisches, etwas clowneskes Image schienen auf perfekte Weise in diesem Clip festgefroren. Auf dem Höhepunkt seiner künstlerischen Karriere hatte Bowie die Kontrolle über die Bilderproduktion seines Star-Images übernommen. Für mich stand fest: Zur Musik gehören einfach Bilder.

Leider hatte ich nur sporadisch Zugang zum Musikfernsehen. Als MTV 1987 in Deutschland startete, wohnte ich mit Kohleofen und Dachantenne. Anfang der neunziger Jahre war ein Umzug nicht unwesentlich vom Kabelanschluss in der neuen Wohnung motiviert. Endlich Musikclips bis zum Abwinken, die ich sogar auf Video aufnahm, bis ich merkte, dass sie in der Dauerrotation ohnehin ewig zur Verfügung standen. Ein schlechtes Gewissen, bloß den PR-Strategien der Musikindustrie aufzusitzen, deren willfährige Abspielfläche die Musiksender nun einmal waren, hatte ich nicht. Als Student konnte ich mir CDs nur selten leisten.

Wieder folgten Jahre ohne MTV und ein wachsendes Desinteresse an der amerikanischen Populärkultur, aus der ich mich herausgewachsen fühlte. Um nicht ganz den Anschluss zu verlieren, schaute ich gelegentlich bei Freunden Beavis Butthead oder das Celebrity Deathmatch, das erste eine Comic-Serie mit zwei heftig pubertierenden Jugendlichen, das zweite ein Ringkampf zwischen Popstars aus Knetgummi. Beide Programme zeichneten sich durch schweißtreibende Schürfarbeiten an den Diskursgrenzen des politisch Korrekten aus - ein Unterfangen, dessen sich MTV in seiner besten Zeit immer mehr bemächtigen sollte.

Den Wandel vom ästhetisch ambitionierten Musik-Fernsehen zum Trash-TV, das allmähliche Erodieren des Alleinstellungsmerkmals eines Musiksenders und die wohlfeile Selbstdemontage habe ich praktisch gar nicht mitbekommen. Umso größer mein Erstaunen, dass bei MTV und Viva seit Jahren nur noch Identifikationsshows für Jugendliche laufen. Statt flotter Musikclips gibt es schrille Klingeltöne - sinnfälliger kann die Krise in der Musikindustrie wohl kaum untermalt werden.

Die Musiksender betreiben heute einen Gemischtwarenladen mit konfektionierten Rollenmodellen für die Kids. MTV für Jungs, Viva für Mädchen. Bei "Hotsports" auf MTV werden die neuesten Trendsportarten vorgeführt, Pimp my ride beschwört das gute alte Handwerk beim Aufmotzen von Automobilkarossen, Jackass mit John Knoxville beweist, dass auch weiße Indianer keinen Schmerz kennen, und Dating-Shows wie Dismissed oder Date my Mom verlangen vom männlichen Kandidaten vor allem eines: eine Menge Coolness und die Begabung, noch aus der peinlichsten Situation erhobenen Hauptes hervorzugehen.

Musikfernsehen als solches hat ausgespielt. Die Tage, als es der Fernsehästhetik am laufenden Band grandiose Impulse bescherte, stilistische Innovationen mit Konsequenzen für Werbung, Mode und Alltagssprache, sind längst vorüber. Und Sendungen wie MTV Unplugged, aus denen einige der intimsten Pop- und Rockkonzerte hervorgegangen sind, bleiben Rarität. Dass sich bei MTV heute alles nur noch um den Kommerz dreht, wird nicht mehr kaschiert. Als der Sender kürzlich sein Web-TV-Portal Overdrive vorstellte, sprach ein PR-Mitarbeiter ganz unumwunden von der "Monetarisierung der Konsumenten".

Musiksender geben nicht mehr den Takt vor, sondern kopieren bekannte Fernsehformate auf billigste Weise. Von der mit großem Pomp eingeführten Talentshow Popstars (Pro7) erhält Viva, das seit 2005 zum MTV-Mutterkonzern Viacom gehört, den Abfall und überproduzierten Bildermüll, aus dem schnelle "Background Storys" gezimmert werden. Deutschland sucht den Superstar gerinnt beim selben Sender zur Billig-Karaoke-Show Shibuya mit der unvermeidlichen Gülcan, die immerhin als Rollenmodell mit Migrationshintergrund fungiert.

Dazwischen Werbeunterbrechungen für das Kaffeegetränk "Viva Slap" und spätabends eine Telefon-Gewinnshow, bei der man Buchstaben für 50 Cent pro Anruf Sinn verleihen soll. Offenbar sind die Sender auf eine rigorose Mischkalkulation angewiesen. Musikclips gibt es fast nur noch nachts, wenn auch ich, der Zielgruppe längst entwachsen, schon lange schlafe.


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