So lang das Auge reicht

Bildbewegung In Hamburg lädt die Ausstellung "Schaulust - Sehmaschinen, optische Theater & andere Spektakel" den Besucher zu einer historischen Entdeckungsreise ins Reich der Bilder ein

Mit überwältigender Fülle umspannt die Ausstellung Schaulust mehrere Jahrhunderte an Wissenschafts-, Technik- und Wahrnehmungsgeschichte, von der Renaissance bis zum Zeitalter der Massenmedien. Über 1.000 Exponate auf 1.800 Quadratmetern Ausstellungsfläche zeugen von der Sammelleidenschaft des Filmemachers und Medienhistorikers Werner Nekes, der im Laufe von 40 Jahren ein weltweit einmaliges Bilderarsenal zusammen getragen hat. Gemälde, Kupferstiche, Aquarelle, Scherenschnitte, Grafiken und Fotografien, später wissenschaftliche Instrumente, Sehmaschinen und optische Apparate bis hin zum Kinematographen. Die Ausstellung konzentriert sich überwiegend auf die Zeit, bevor die Bilder laufen lernten. Und sie unterstreicht die zunehmende Bedeutung des Bildes, welches heute die Wortkultur überlagert hat und die Sinne usurpiert.

Zu jeder Zeit faszinierten Bilder das Publikum, besonders wenn sich mit ihnen Geschichten erzählen ließen oder wenn sie illusionistische Geheimnisse bargen. Im 19. Jahrhundert wurden auf Bali religiöse Epen mehrere Tage lang aufgeführt, wozu man an Stäben vor einer Lichtquelle geführte Schattenfiguren benutzte. In den Pausen lockerten kurze erotische Zwischenspiele mit grotesken Figuren die Darbietungen auf. In Europa waren bereits 1740 die Ombres Chinoises, chinesische Schatten, sehr beliebt - prunkvolle Bilder mit Natur- oder Stadtszenen, an einigen Stellen perforiert, so dass farbiges Hintergrundlicht durchschimmern konnte.

Licht, Perspektive, Spiegelung und die Illusion von Bewegung verleihen den Abbildungen einen geheimnisvollen Charakter. Bei den frühen Vorführungen der Laterna Magica um 1670 wurden monströse Höllengestalten auf Wände oder auf Rauchschwaden projiziert und verängstigten das Publikum. Von daher rührten die Namen "Zauber-" und "Schreckenslaterne". Eine figürliche Welt aus Licht und Schatten war den damaligen Zeitgenossen unbekannt. Später wurden Glaskarten mit mehreren hintereinander liegenden Motiven, so genannte Ziehbilder, vor einer Öllampe geführt, deren Strahlen gebündelt aus einer Linse hervortraten. Die im 19. Jahrhundert beliebten Rollpanoramen, Zeichnungen auf einem schmalen, sehr langen Papierstreifen, führten das Moment der Zeit in die Abbildung ein. John Clarks Description of the Most remarkable Places between London und Richmond von 1824 ist ein dreißig Zentimeter breiter und fünfzehn Meter langer, farbiger Aquarellprospekt, der Szenen einer Kutschfahrt von London nach Richmond zeigt.

Breiten Raum nehmen in der Ausstellung Anamorphosen ein - Bilder, die nur aus einem speziellen Winkel oder mit Hilfe eines Spiegels zu erkennen sind. Die Abbildungen selbst sind perspektivisch verzerrt und wurden anhand eines Malrasters angefertigt. Sie geben nur chaotische Umrisse zu erkennen. Legt man jedoch einen Kegelspiegel darauf, verdichten sich die willkürlichen Formen zu einem klaren Bild. Diese optischen Täuschungen wurden im Mittelalter zur Verschlüsselung von Botschaften verwendet, die nur entziffern konnte, wer den richtigen Winkel oder Platz für einen Spiegel wählte. Auch die Vexierbilder - Suchbilder, die eine zweite, schwer erkennbare Darstellung enthalten - bargen geheime Botschaften oder spielten mit unmöglichen Perspektiven.

Die Vorgeschichte des bewegten Bildes ist eine Welt voller kleiner Wunder und optischer Sensationen. Ein eigener Ausstellungsraum verdeutlicht den Einfluss der Naturwissenschaften auf die künstlerische Darstellung. Seit der Renaissance haben vor allem die Entdeckungen der Optik zu neuen Bild- und Blickwelten geführt. Findige Tüftler nutzten die neuesten naturwissenschaftlichen Entdeckungen für ihre spektakulären Apparate. Lamellenbilder - Vorläufer unserer "Wackelpostkarten" - ermöglichen je nach Standort des Betrachters erstaunliche Perspektivwechsel. Blickt man von links, ist ein Kleinkind zu sehen, von rechts ein Greis. Zerrspiegel deformieren Körperteile ins Monströse, Sorcières und Hohlspiegel das Gesicht. Der einen abschüssigen Schachbrettboden aufweisende "Ames-Raum" spielt mit der Irreführung des perspektivischen Empfindens. Und illuminierte Guckkästen bieten Tages- und Nachtszenen von ein und demselben Bildnis.

So führt einem die Superschau allenthalben die Historizität der Bilder vor Augen. Mit Techniken wie Drehmontagen, Scheinbewegungen, Rasterbilder und Stereoskopien, die noch heute so manchen Videoclip schmücken, befassten sich schon die Zeitgenossen vor Jahrhunderten. Johan Rudolf Schellenberg schuf etwa 1780 ein Aquarell namens Morphing, das den bildlichen Übergang von einer Frau zum Panther demonstriert. "Buchstäblich alle, heutigen neuen Medien zugeschriebenen Leistungen", schreibt der Kunstwissenschaftler und Nekes-Freund Bazon Brock im Katalog, "wie anamorphotische Verzerrung, Bildebenenstaffelung, Mehrfachüberblendungen, Bildanimationen, morphing, mapping, Multimedialität etc. sind bereits anschaulich evident und begrifflich bestimmt in den historischen Medien vorgegeben".

Als Wegbereiter heutiger Massenmedien gelten Lithografie und Fotografie. Bereits Eadweard Muybridges berühmte Reihenfotografien und Bewegungsstudien nehmen die Animation von Einzelaufnahmen vorweg. Eine weitere wichtige Entdeckung, die eine Lawine technischer Erfindungen mit tollen Namen nach sich zog, war die Nachbildwirkung (Persistenz) auf der menschlichen Netzhaut: Folgen Bilder in genügend rascher Folge, nimmt das Gehirn sie als Bewegung wahr. Beim Thaumatrop etwa verschmelzen zwei Bilder auf einer Pappscheibe zu einem einzigen. Daumenkinos, Tachyskop und Muschelmutoskop entwickelten den illusionistischen Effekt weiter. In den Amüsierhallen des 19. Jahrhunderts konnte man für einen Groschen die Kurbel eines Mutoskops bedienen, und eine spärlich bekleidete Tänzerin auf Hunderten kleiner Fotografien wiegte sich allein für den Betrachter.

Plenakistiskop, Stroboskop, Zoetrope, L´Anorthoscope, Filoscope oder Kinora lauten die Namen von weiteren optischen Erfindungen auf dem Weg zum Film. Als 1895 schließlich die Gebrüder Lumière in Paris und etwa zur selben Zeit die Brüder Skladanowsky in Berlin auf die Idee kommen, Filmstreifen durch einen Projektor laufen zu lassen, schlägt die Geburtsstunde des Kinos. Eine besonders skurrile Weiterentwicklung der Kinematographie befindet sich im letzten Raum der Ausstellung: die Scopitone-Filmbox. Als filmische Jukebox war das Ungetüm in den fünfziger Jahren in französischen Kneipen sehr beliebt. Regisseure wie Claude Lelouch drehten Hunderte billig produzierter Scopitone-Streifen zu den Schlagern jener Tage.

Mit ihrem deutlichen Akzent auf optische Täuschungen, Bildillusionen und die Inszenierungen des Scheins ist der Altonaer Ausstellung ein ausgesprochener Schaubuden-Charakter zu eigen: Viele der Objekte sorgten einmal auf Jahrmärkten für Sensationen und für die Faszination und Belustigung des Publikums. Weil hier mediale Archäologie aus mehreren Jahrhunderten mit einer ganz privaten Entdeckerfreude zusammengeht, kommt die Ausstellung sehr gut an. Das zeigen die faszinierten Kommentare der Museumsbesucher, welche die historische Begeisterung nachklingen lassen. Auch wenn die überwältigende Fülle manchmal etwas ermüdend wirkt (was die Museumsleitung veranlasst hat, kostenlose Zweit-Tickets einzuführen), ist gerade die Überwältigung der Sinne als Teil der Konzeption zu verstehen.

Ausstellung Schaulust - Sehmaschinen, optische Theater andere Spektakel, im Altonaer Museum, Hamburg, bis 1. April


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