Im Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe sind die Toiletten videoüberwacht. Draußen vor dem Eingang hängt ein Monitor, auf dem sich Kabinen und Pissoirs einsehen lassen. Seltsam nur, dass niemand je darauf zu sehen ist. In Echtzeit abgefilmt werden nämlich kleine Modelle der stillen Örtchen, die sich innerhalb der eigentlichen Toiletten befinden. Für den Direktor des ZKM, Peter Weibel, hat diese "Simulation einer Überwachungssituation" den Vorzug, das Reale nicht zu tangieren. Sie ist eine reine Repräsentation, die für real gehalten wird. Auf diese Weise lässt sich ein Missverständnis umgehen, von dem viele Medienkunst geprägt ist, die sich auf die Simulationstheorie Jean Baudrillards beruft und dabei das Reale mit seiner Darstellung verwechselt.
In den achtziger Jahren war Baudrillard besonders von amerikanischen Künstlern vereinnahmt worden, die sich mit der Bezugnahme auf seine Simulationstheorie auf der Höhe der Zeit wähnten. "Die Simulationstheorie wurde als intellektuelle Währung und als Referent benutzt", konstatierte Baudrillard auf dem Symposium. Dabei definiere sich Simulation gerade dadurch, "dass es keine Referenten mehr gibt". Das Reale ist durch Zeichen des Realen ersetzt worden, die auf nichts mehr verweisen; in der "Hyperrealität" lässt sich Reales von seiner Simulation nicht mehr unterscheiden. "Also", frozzelte der Meisterdenker in Anspielung auf seine Publikation über Michel Foucault, "vergesst Baudrillard!"
Das steht allerdings nicht zu befürchten. Jean Baudrillard liegt noch immer gut im akademischen Rennen. Sein inzwischen 34 Publikationen umfassendes Werk ist in viele Sprachen übersetzt worden. Allein in Deutschland liegen 24 Titel vor, die meisten davon im kleinen Berliner Merve-Verlag erschienen. An den geisteswissenschaftlichen Fakultäten der Unis gehört Baudrillard längst zur Standardlektüre, mit der sich nicht nur zeitgenössische Phänomene gut interpretieren lassen, sondern auch intellektuelles Potenzial überprüfen. Selbst angewandte Künste, etwa die Architektur, lassen sich gerne inspirieren, wie Colin Fournier auf dem Symposium zeigte, als er ein von ihm im österreichischen Graz errichtetes Kunstmuseum vorstellte, dessen amöbenhafte, auf Ambiguität abzielende Form gleichzeitig die Schwierigkeit einer Umsetzung von theoretischen Gedankengebäuden in die Praxis vorführte. "Baudrillards Wirkung ist so enorm", fasste Peter Weibel zusammen, "weil er nicht nur Philosoph, sondern auch Schriftsteller und Künstler ist."
Wie intellektuell herausfordernd das Werk des französischen Denkers ist, davon legte das Symposium beredtes Zeugnis ab. Baudrillard hat ja nicht nur mit seiner Simulationstheorie für Furore gesorgt, sondern viele weitere Stichwörter geliefert, die zumindest in die Alltagssprache der Feuilletons eingezogen sind: Präzession, Ekstase, Obszönität, Viralität, Transpolitik usw. Auch mit den stets pointiert formulierten Invektiven zum Zustand der Zeit machte er auf sich aufmerksam. Beispielsweise als er sich im Nachklang auf die Ereignisse des 11. September 2001 in New York mit einer Arbeit über Terrorismus auf die Theoriebühne zurückmeldete. Die von ihm frühzeitig beklagte "Agonie des Realen", welches sich nur noch durch "schwache Ereignisse" oder Simulationen auszeichne, war durch ein wahrhaft "starkes Ereignis", nämlich den Angriff auf die Twin Tower, mit einem Mal vorbei. In einem in Le Monde erschienenen Artikel und kurz darauf in seinem Buch Der Geist des Terrorismus beschreibt Baudrillard auf provozierende Weise, wie sich die Terroristen die Technologien des Westens zu eigen gemacht hatten, um ein "Spektakel des Terrors" zu inszenieren und so die Anfälligkeit des Westens für Anschläge dieser Art zu demonstrieren. Seitdem herrsche eine "posttraumatische Abreaktion sowohl auf das Ereignis selbst als auch auf die Faszination, die es ausübt".
Angreifbar gemacht hatte sich Baudrillard dabei durch seine Hypothese, dass die Welt voll terroristischer Gewaltfantasien sei und sich jeder die "Zerstörung des Hegemons" USA als Antwort auf die Globalisierung insgeheim gewünscht habe. Das trug ihm den Vorwurf des Antiamerikanismus ein. Noch heute scheint der amerikanische Kulturwissenschaftler Douglas Kellner Schwierigkeiten zu haben, Baudrillard in seiner Radikalität folgen zu können. Dessen schlichte Gleichsetzung von Globalisierung als dem Gegenteil von Demokratie lehnte Kellner ab: "Baudrillards Darstellung von Menschenrechten, Demokratisierung und Gerechtigkeit als einer obsoleten Universalisierung zugehörig, die von der Globalisierung ausgeschaltet werde, ist theoretisch und politisch problematisch."
Der Kunstwissenschaftler Boris Groys nahm hingegen den Faden wieder auf, als er dem Westen ein Unvermögen bescheinigte, mit dem terroristischen Freitod umzugehen. Weil Tod im Westen generell tabuisiert, eliminiert und von der Doktrin des (möglichst langen) Weiterlebens ersetzt worden ist, sei die Idee des Opfertodes schwer nachvollziehbar: "Der Terrorist ist bereit zu sterben, aber niemals seine Würde zu verlieren."
Umgekehrt zeige sich die westliche Kunst und Kultur geradezu beseelt vom Wunsch nach einer restlosen Demontage ihrer eigenen Würde. Angefangen bei George Batailles´ Selbstverlust bis zum projektierten Scheitern als Programmatik aller historischen Avantgarden. Selbst populäre Phänomene, wie der Big-Brother-Container und die Holt mich hier raus! Ich bin ein Star-Show, basieren auf dem inneren Verlangen nach Desavouierung und Selbstbeschmutzung. In diesem Licht stellen für Groys die öffentlich gemachten Folterszenarien aus dem Abu-Graib Gefängnis quasi Selbstreflexionen des Westens dar, weil darin die Ikonografien der Subkultur der sechziger und siebziger Jahre zu erkennen sei: "Das Gezeigte ist die Wahrheit unserer Kultur".
Diese kunstimmanente Betrachtung konnte zumindest aufzeigen, dass sich die beabsichtigte Entwürdigung der Opfer gegen die Täter gewendet hatte: "Das schlechte Gewissen des gesamten Westens konkretisiert sich in den Bildern", stellte bereits Baudrillards fest, der die "Parodie von Gewalt" als "pornografisches Antlitz des Krieges" entlarvte.
Diese Beispiele machen deutlich, welche Suggestivkraft vom Baudrillardschen Denken immer noch ausgeht. Treffend formulierte Peter Weibel: "Die Philosophie von Jean Baudrillard ist scheinbar so unüberschaubar und komplex, dass alle Aussagen über sie falsch sein können - oder richtig." Als akademischer Außenseiter anfangs misstrauisch beäugt, brauchte es einige Zeit, bis Baudrillards beide frühen Hauptwerke La Société de Consommation und L´Economic Politique du Signe in die Curricula aufgenommen wurden. Der darin formulierten Ästhetik des Verschwindens versuchte jetzt in Karlsruhe eine parallel zum Symposium von Peter Gente (Merve-Verlag) zusammengetragene Ausstellung zu entsprechen. Neben einigen Siebdrucken von Andy Warhol, deren Radikalität Baudrillard verschiedentlich hervorgehoben hatte, sind dort auch Fotografien vom Meister selbst zu sehen.
Fotografie ist für Baudrillard ein Medium der Absenz: Sie bringt hervor, was längst verschwunden ist. Im Falle seiner eigenen Bilder müsste man aber eher von Schnappschüssen sprechen. Weit von jeglicher Komposition entfernt, beharren diese Bilder auf ihrer Zufälligkeit: Baustellen, verfallene Häuser, Gras im Fensterrahmen. Eine Öllampe, die Lichtreflexe auf ein Mauerwerk wirft, wird der französischen Corbières zugeordnet. Ein Wolkenhimmel samt inmitten einer Siedlung liegenden Kirche ist mit "Chicago" untertitelt. Welche Faszination und Verführung mögen diese gefundenen Objekte bloß in Jean Baudrillard wachgerufen haben, dass er sie ablichtete? Andere Fotografien zeigen den nackten Baudrillard, der sich im Spiegel mit der Kamera vor dem Gesicht beim Fotografieren ablichtet. Es drängt sich der Gedanke auf, dass Baudrillard nicht bloß in der Tradition von Nietzsche, Adorno, Marx und Freud verwurzelt ist, sondern auch in einer Romantik, die den unaufhaltsamen Lauf der Welt beklagt.
Link: www.zkm.de/baudrillard-treffen
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