Vorwärts in die Vergangenheit

Medientagebuch Eher Rollenspiel als Dokumentation: Die ARD übt sich weiter im historischen "Als ob"

Schiff ahoi! Der große Fernsehdampfer ARD sticht wieder mal in See mit einer Dokusoap. Diesmal begeben sich 40 sorgsam Ausgesuchte an Bord des Dreimasters Bremen, um die Küstenstadt Bremerhaven des Jahres 2004 hinter sich zu lassen und in die Zeit zurückzurudern bis ins Jahr 1855. Es geht auf Atlantikfahrt, quer über den großen Teich, die 5.000 Seemeilen lange Südroute folgend bis nach New York. Am Prinzip einer typischen öffentlich-rechtlichen Dokusoap hat sich bei der vom WDR produzierten Windstärke 8 - Das Auswandererschiff nichts geändert. Wie beim Schwarzwaldhaus 1902 und bei Abenteuer 1900 - Leben im Gutshaus wurde versucht, die historischen Umstände einer Meerüberfahrt möglichst detailgetreu nachzubilden. Nur für den äußersten Notfall stehen ein modernes Navigationssystem und ein Dieselmotor zur Verfügung, ansonsten wird mit Kompass und Sextant gesegelt. Die Mitreisenden treten in umständlichen Kostümen auf, verzichten auf jedes zeitgenössische Requisit, essen Pökelfleisch und Schiffszwieback und müssen sich auf dem "Schieteimer" entleeren. So war das anno 1855, als "Millionen Europäer vor Hungersnöten und politischer und religiöser Unterdrückung emigrierten".

Um die Strapazen einer solchen Emigration nachzuempfinden und nachzuinszenieren, eignet sich scheinbar die öffentlich-rechtliche Form der Dokusoap gut. Allerdings sollte gleich mit einem Vorurteil aufgeräumt werden: An diesem Programmformat ist formal so gut wie nichts dokumentarisch. Alles ist inszeniert und dem Effekt gewidmet. Mal umkreist die Kamera aus luftiger Höhe das stolze Segelschiff - offenbar hielt sich ein Helikopter zufällig in der Nähe auf. Mal ist die Bremen in gleicher Augenhöhe von einem Begleitschiff aufgenommen, das freilich nie im Bild auftaucht. Der Abiturient Rolf Baasch hoch oben in der Takelage wird mit seinen Point-of-view-Aufnahmen gegen geschnitten, ein Abklatschspiel zu einem Hannes-Wader-Song am späten Abend von einer am Boden liegenden Kamera gefilmt. Klaviergesäusel untermalt die atmosphärischen Schiffsaufnahmen im Abendrot. Wird eine Situation dagegen etwas brenzlig, schwillt gleich orchestraler Klang an. Immer wieder richten die Mitreisenden ihr Wort direkt in die Kamera, berichten von ihrer Reisemotivation oder kommentieren ihre Handlungen. Ein geschlossener Illusionsraum, den es ja auch im Dokumentarfilm gibt, wird permanent gleichzeitig hergestellt und formal wieder unterlaufen.

Die Bedingung dieses seltsamen Changierens zwischen Illusion und Authentizität ist das Rollenspiel. Der Begriff stünde übrigens dem gesamten Sendeformat besser zu Gesicht als die alles und nichts bezeichnende "Dokusoap". Die 40 Akteure an Bord des Segelschiffs - teils professionelle Besatzung, teils Passagiere - richten sich in einem Zustand des Als-ob ein und spielen 19. Jahrhundert. "Wie ist es den Leuten damals ergangen? Wie kann man damit fertig werden? Wie anstrengend ist das gewesen?", bringt Schiffskoch Piet Ammann sowohl seine eigene Motivation als auch die Intention der Sendung auf den Punkt. Doch das ist eine nur oberflächliche Erklärung, der die Distanz zur auferlegten Rolle schon anzumerken ist.

Jeder weiß, der Zuschauer inbegriffen, dass die Umstände einer Atlantiküberquerung heute schlecht nachzustellen sind, dass die Geschichtslektion etwas fadenscheinig wirkt und auch die Schaulust an den Qualen der Akteure nur vordergründig gemeint sein kann. In Wahrheit geht es um die soziale Konstellation an Bord: Wer setzt sich mit Hilfe welcher soft skills durch und übersteht die Reise am Besten? In dieser Hinsicht unterscheidet sich ein öffentlich-rechtliches Rollenspiel freilich kaum vom ursprünglichen Big-Brother-Format. Das vornehme Feigenblatt der Geschichtsrekonstruktion entpuppt sich so als Tand fürs Auge, als production value einer Sendeanstalt, die seinen Zuschauern keine drögen Container, sondern hehre Mythen schuldig ist.

Natürlich lässt sich gegen Exotik und Abenteuerlust, gegen die Imagination der Gefahren und Entsagungen an Bord einer Überseefregatte wenig sagen. Sie sind legitime Bedürfnisse des an ihnen krankenden Zeitgenossen, ob an Bord oder vor dem Schirm. Wer hätte nicht einmal vor einem Kolonialwarenladen gestanden und sich in die verstaubte Welt der dort ausgestellten Schrankkoffer, Globen und Teakholz-Paraphernalien hinein geträumt? An solchem Kolorit zeigt das Fernsehen sich allerdings wenig interessiert, vielmehr liegt sein Augenmerk auf den Akteuren und Identifikationsfiguren, für deren Auswahl man sich wohl viel Zeit ließ. Mit an Bord sind ein Landwirt, der sich wortkarg bloß ein "intensives Reiseerlebnis" verspricht, ein 66-jähriger Hobbykoch aus Münster, der schon in der ersten Folge an den Strapazen in der Kombüse verzweifelt, ein Pärchen, die auf See eine Art Bestandstest veranstalten, sowie eine komplette fünfköpfige Familie. Die 60-jährige Almuth Beck, eine ehemalige thüringische PDS-Abgeordnete mit Stasi-Vergangenheit, soll offenbar für kontroverse politische Diskussion sorgen.

Den Leistungen dieser Amateure des Rollenspiels sei schon nach der ersten Folge Respekt gezollt. Ungeachtet der mannigfachen Regieanweisungen, die es trotz aller Materialfülle gegeben haben muss - auf Arte läuft parallel ein eigener Zusammenschnitt und für 2006 ist aus den 320 Stunden Filmmaterial eine 16-teilige Vorabendserie in Planung -, gelingt es ihnen, unbedarft zu erscheinen. Ihr So-tun-als-ob besteht offenkundig vor allem darin, dem Zuschauer das Zustandekommen der filmischen Illusion nicht spüren zu lassen. Dass sie aufgefordert werden, versonnen in die Ferne zu blicken, oder mit Ansteckmikrofonen versehen wurden, damit unter den häufigen Perspektivwechseln der Ton nicht zu leiden hat, wird dem Zuschauer nicht auffallen. Er kann sich ganz auf die beginnende Gruppendynamik konzentrieren und sich fragen, ob er selbst eine bessere Figur in den beengten Räumlichkeiten des Segelschiffs gemacht hätte. Schon am Ende der ersten Folge wird dementsprechend angekündigt: "Es kommt zum Streit. Warum? Das sehen wir morgen."

Windstärke 8, montags und mittwochs 21:45 in der ARD


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