"Wikiwiki" stammt aus dem Hawaiianischen und bedeutet "schnell". Offenbar ein gutes Omen für das Online-Lexikon Wikipedia, das sich binnen weniger Jahre zum umfänglichsten und wohl auch bedeutendsten Kompendium seiner Art entwickelt hat. Noch nie zuvor ist der Versuch unternommen worden, das gesammelte Weltwissen derart vielfältig, umfangreich und in so vielen Sprachen darzustellen. Zugänglich für jeden und kostenlos obendrein. Noch nie wurde dabei so radikal auf Fachwissen verzichtet. An Wikipedia kann sich jeder beteiligen. Zehn, Hundert oder Tausend Laien ersetzen den Experten - ein Affront für die Fachwelt, deren Exklusivwissen üblicherweise in Lexika einfließt. Es erscheint daher schon heute absehbar, dass die traditionellen Druckausgaben von Enzyklopädien eines Tages nur noch einen Nischenmarkt für dekorative Regalmeter bedienen.
Im Januar 2001 ist die englischsprachige Wikipedia gestartet, die heute mehr als eine halbe Million Stichwörter umfasst. Zum Vergleich: Die renommierte Encyclopædia Britannica enthielt in ihrer Auflage von 2004 gerade einmal 75.000 Artikel. Noch die zweitgrößte Wikipedia-Version, die im Mai 2001 gegründete deutsche Fassung, beinhaltet mehr als vier Mal so viele Einträge, an denen rund 25.000 Autoren mitgeschrieben haben. Jeden Tag kommen 400 neue Einträge hinzu. Frankreich und Japan folgen mit geringem Abstand, wobei jede Landesversion unabhängig ist und meist von Muttersprachlern verfasst wird. Wikipedia ist in insgesamt mehr als 60 Weltsprachen sowie zusätzlichen Idiomen vertreten, darunter Chinesisch, Plattdüütsch, afrikanische Sprachen wie Bambara und Kisueli und die Kunstsprache Esperanto. "Einer der Grundgedanken für die Esperanto-Wikipedia war", erklärt ihr Gründer Chuck Smith, "Leuten in Entwicklungsländern, die keine europäische Sprache beherrschen, Wissensinhalte zur Verfügung zu stellen".
Das Wikipedia-Projekt ist deshalb so interessant und folgenreich, weil es die historische Demokratisierungsfunktion, die allen Enzyklopädien inne wohnt, weiter vorwärts treibt. Enzyklopädien waren frühe Vorboten der Aufklärung und haben besonders den Naturwissenschaften zu ihrem Recht gegenüber den Indoktrinationen von Kirche und Staat verholfen. In seinem spannend erzählten Buch Das vernünftige Ungeheuer beschreibt Philipp Blom, wie die Entscheidung für eine alphabetische Ordnung bei der von Denis Diderot ab 1746 begonnenen französischen Encyclopédie "sämtliche Formen von Wissen" demokratisierte: "Mit ihrer Hilfe entledigte man sich der Notwendigkeit, bestimmten Themen wie der Theologie ganze Abschnitte zu widmen".
Gemessen an ihren historischen Vorläufern und den vielen kommerziellen Nachfolgern, die allesamt mit einer begrenzten Zahl an Fachautoren und zu Rate gezogenen Wissenschaftlern auskommen müssen, kann Wikipedia für sich in Anspruch nehmen, das erste Open-Source-Projekt in der Welt der Enzyklopädien zu sein. Mit Hilfe einer bestimmten Software, die es erlaubt, Texte auf einer Internet-Seite frei zu editieren, ist jeder befugt, einen neuen Artikel zu beginnen oder inhaltliche Änderungen an alten vorzunehmen. Alle Veränderungen werden automatisch protokolliert und sind für jeden einsehbar. Im Prozess des peer-reviewing "mendelt" sich dann allmählich Qualität heraus: durch diskursives Kreuzen der besten Informationen. Die manchmal spannenden Kämpfe um Deutungshoheit lassen sich in separaten Diskussionsforen verfolgen.
Dieses Verfahren hat einige Kritik heraufbeschworen. Wie kann Qualität gewährleistet werden, wenn sie sich so leicht wieder zerstören lässt? Darf man dem unautorisierten Wissen von Laien trauen? Wie repräsentativ gewichtet ist das Wissen gemessen an seiner Bedeutung? So lauten einige der Vorbehalte, die nicht selten von konkurrierenden Verlagen vorgetragen werden. Vor kurzem noch hatte das mit Brockhaus kooperierende Internetportal Bildungsklick.de mit einer übermütigen Hochrechnung auf sich aufmerksam gemacht: In zwölf Wikipedia-Artikeln hatte man durchschnittlich vier Rechtschreibfehler gefunden - das macht bei 250.000 Einträgen insgesamt eine Millionen Fehler, oder?
Gleichwohl nehmen die Wikipedianer solche Kritik sehr ernst und arbeiten an der Verbesserung der Einträge. Inzwischen partizipieren einige Autoren nicht mehr inhaltlich, sondern lektorierend und durchforsten die Artikel auf Punkt und Komma. Internen Erhebungen zu Folge entspricht die Länge der Haupteinträge bei Wikipedia den großen Fachaufsätzen bei Brockhaus. Wird ein Thema für besonders wichtig erachtet, fällt der Artikel auch ohne redaktionelle Direktive entsprechend gründlich aus. In einem Referat mit dem Titel "Zu viele Köche verderben nicht den Brei" hatte der Schweizer Publizistikstudent Andreas Brändle auf dem Wikimania-Kongress Anfang August in Frankfurt das Zustandekommen von Qualität bei Wikipedia als Zusammenspiel von Interesse und Relevanz erklärt: Je mehr Relevanz ein Thema hat, desto mehr Leute beteiligen sich daran. "Und ein großes auch quantitatives Interesse", so Brändle, "hat wiederum großen Einfluss auf die Qualitätstiefe".
Brändles aus statistischem Material gewonnene Einsichten lassen das Mängelpotenzial bei Wikipedia als ein temporäres Problem erscheinen: Weil sich die Qualität auch an der Häufigkeit der Überarbeitung eines Artikels, an seiner Entstehungsdauer und den Verlinkungen zu früheren Versionen bemisst, ist es nur eine Frage der Zeit, bis weit gehende Stimmigkeit erzielt wird. Selbst "Vandalismus", die mutwillige Abänderung eines Artikels, schätzt Brändle positiv ein: Entsprechende Vorgänge gelangen auf eine Beobachtungsliste und werden von den Mitgliedern besonders argwöhnisch verfolgt.
Wikipedia ist ein Erfolgsprojekt des Internet. Ihr großer Vorteil gegenüber traditionellen Printausgaben liegt neben der allgemeinen Verfügbarkeit vor allem auch in der Aktualität. Zeitphänome und deren Stichwörter können schneller aufgegriffen werden als dies Verlagen und ihren behäbigen Aktualisierungszyklen möglich ist. Platzprobleme schaffen dort, neben redaktionellen Verteilkämpfen, eine Hierarchie der Bedeutsamkeiten, die nahe legen will, dass alle nicht vorhandenen Daten eben auch nicht relevant sind. Bei Wikipedia hingegen herrschen weder Platznöte noch Exklusivität vor. Wichtige aktuelle Stichwörter werden einfach aufgegriffen und bearbeitet.
Beispielsweise zeichnet der Eintrag über Papst Benedikt XVI. alle wichtigen Stationen im Leben des Kirchenmannes nach und stellt seine Geisteswelt vor. Im Artikel fallende Fachbegriffe wie Pallium, Kongregation und Katechismus sind mit den entsprechenden weiter führenden Einträgen verlinkt; fehlende, aber im Zusammenhang bedeutsame Stichwörter sind rot markiert und fordern den Leser zur Partizipation auf. Sogar eine Audio-Version des Papst-Artikels liegt vor. Überdies befasst sich ein eigenes Themenportal mit Informationen rund um den Pontifex, sammelt alle relevanten Nachrichten aus der Abteilung "Wikinews", stellt päpstliche Zitate bei "Wikiquote" vor und macht Fotos, Videos und weitere Audioquellen unter "WikiCommons" verfügbar. Alle Materialien unterliegen der General Public License (GNU), einer freien Software-Lizenz, und können mit Quellenangabe beliebig weiter verwendet werden, ohne dass ein Urheberrechtskonflikt entstünde.
Die Teilnehmer - insgesamt fast Hunderttausend, von denen bloß zwei Prozent über 73 Prozent der Beiträge verfassen - fasziniert die Vorstellung, eine freie und unabhängige Wissensallmende zu unterstützen. Niemand wäre so altruistisch, seine Zeit für ein Projekt zu opfern, das nicht uneingeschränkt nichtkommerziell und ehrenamtlich wäre. Die meisten Wikipedianer können sich auch ein Ende der Enzyklopädie schlecht vorstellen. Sie rechnen mit einem "Zeithorizont von Jahrzehnten". Schon heute stehen allerdings Neulinge vor dem Problem, dass die meisten Einträge bereits existieren und nur noch ausgesuchtes Fachwissen gefragt ist. Und so ist es absehbar, dass irgendwann alle lexikalischen Begriffe erfasst und in Wikipedia dargestellt worden sind. Dann müsste darauf gewartet werden, dass die Welt neue Fakten schafft.
http://de.wikipedia.org
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