Suchen wir nach Zauberworten!

Sprache Neue Bezeichnungen ändern bestehende Systeme der Diskriminierung nicht – sie sind aber trotzdem sinnvoll
Ausgabe 20/2021
Suchen wir nach Zauberworten!

Grafik: der Freitag

Im Jahr 1974 sammelte Sharon Henderson Taylor 400 Begriffe für geringe Intelligenz. Viele waren einmal wertneutral gemeint oder klangen positiv. Doch fanden sie Eingang in die Alltagssprache, gerieten sie rasch zu Abwertungen, sodass die Wohlmeinenden ihre Suche nach neuen Bezeichnungen fortsetzten. Der Linguist Steven Pinker nannte das die „Euphemismus-Tretmühle“. Müssen wir vor dieser kapitulieren? Die Fahndung nach besseren Worten für besondere Gruppen einstellen, mit der ja immer die Hoffnung auf eine bessere Stellung derselben einhergeht?

Zunächst ist zu verstehen, wie dieses semantische Absinken funktioniert. Ein drastisches Beispiel ist das Wort „Idiot“. Im 19. Jahrhundert wollten Reformpsychiater damit sagen: Person, die besonderer Förderung bedarf, aber lernfähig und beschulbar ist, Teil der menschlichen Gemeinschaft. Doch seit Ende des 19. Jahrhunderts und in der Euthanasiedebatte, die sich ab 1920 zuspitzte, wurde das Wort immer böser, im Alltag wie in der Bürokratie. Unter den Nazis war „Idiotie“ dann Stichwort für 200.000 Morde. Trotzdem dauerte es bis 1958, bis auf Vorschlag einer Elterninitiative der Neologismus „geistige Behinderung“ aufkam – der sich seither auch verschlechtert: Heute soll als „bekloppt“ beschimpft werden, wer als „behindert“ oder „minderbemittelt“ tituliert wird. Oder nehmen wir „Asylant“. Formal ist das nur eine Beschreibung: Person, die Asyl beantragt. Und doch sind wir wohl einig, dass diese Bezeichnung nicht mehr geht.

Die „Pejoration“ wirkt oberflächlich: Schon eine bestimmte maliziöse Intonation signalisiert ein „Ihr wisst ja, was ich eigentlich meine“ – und irgendwann macht dieser Ton die ganze Musik. Darunter liegt aber ein tieferer Zusammenhang: Die strukturelle Gewalt, die Praxis und das Eigenleben der Institutionen, die auf solche Bezeichnungen gebaut sind, dringt immer wieder in sie ein.

So war die „geistige Behinderung“ Teil des Konzepts, ein Netz beschützender Einrichtungen von Fürsorge und Betreuung zu errichten. Ein Kernstück waren Behindertenwerkstätten: Rehabilitation durch Arbeit. Doch am Ende bewirkten diese auch eine Abtrennung der Arbeits- und Lebenswelten vom Gesellschaftsdurchschnitt, was die WHO Deutschland immer wieder vorwirft. Im Absinken der Bezeichnung findet sich also ein Abglanz einer zum Schlechten verselbstständigten Praxis. Ähnlich fußt unser Zurückschrecken vor der Bezeichnung „Asylant“ auf einer Ahnung von der repressiven Logik, die seit drei Jahrzehnten das Asylrecht prägt: Wir wollen Menschen nicht auf das reduzieren, was diese Maschine in ihnen sieht.

Wenn aber neue Bezeichnungen zur Verschlechterung tendieren, solange sich die bezeichneten Verhältnisse nicht grundlegend ändern, was heißt das für den Umgang mit besagter Tretmühle? Hilft es den Menschen im Asylrechtsapparat, wenn wir sie „Geflüchtete“ nennen? Ist es bloß „politisch korrekt“, folgenlose Wortkosmetik, wenn wir uns sprachlich bemühen? Im Einzelfall ausschließen kann man das nicht. Viel öfter aber signalisiert die Weigerung, sich solchen Bemühungen zu unterziehen, dass jemandem die Verhältnisse im Grunde egal sind.

Zentral ist bei all dem die Frage des „Wir“. So hat die sich selbst so nennende Krüppelbewegung seit den 1980ern bewirkt, dass Schimpfworte wie eben „Krüppel“ oder „Spasti“ an Virulenz verloren haben. Das abwertende „behindert“ zielt heute kaum noch auf motorische Eigenschaften. Entscheidend war das Mitreden derer, die nicht nur Objekt von Fürsorge sein wollten. Nun macht das Netzwerk „Mensch zuerst“ einen Vorschlag: „Wir wollen nicht ‚geistig behindert‘ genannt werden. Wir sind Menschen mit Lern-Schwierigkeiten.“ Reagieren wir mit Achselzucken?

Es geht bei der Sensibilität für diese Besonderheitsbegriffe nicht um das Finden des Wegzauberworts, das Diskriminierung magisch beendet. So etwas gibt es nicht. Aber trotzdem darf die Suche danach nie aufgegeben werden. Nicht nur, um jenen Verschlechterungsmechanismus nicht einfach hinzunehmen. Schon die Mühe dieser sich wiederholenden Suchbewegungen zeigt uns allen, dass ein Problem auch weiter besteht. So ist jene Tretmühle zwar oft ermüdend, doch umsonst bewegen wir sie nicht.

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