Der Schrei nach dem Schuss

Kolumbien Die FARC-Rebellen sind die letzten Vertreter einer Epoche der Guerilla-Aufstände in Lateinamerika
Ausgabe 41/2016

Sicher haben die Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) noch mehrere tausend Männer und Frauen unter Waffen. Selbstverständlich wird sich das nach dem gescheiterten Referendum vorerst nicht ändern, schließlich sind sie militärisch nicht besiegt. Theoretisch können die Kombattanten weiter Minen legen, Militärposten überfallen und Politiker entführen. Trotz dieser realistischen Szenarien haftet diesen Guerilleros zugleich etwas unwirklich Gestriges an – sie sind ein Überbleibsel aus den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als der bewaffnete Kampf zum Selbstverständnis der lateinamerikanischen Linken gehörte, vor allem der Studenten und Intellektuellen.

Die Ikonen der Guerilla – von Ho Chi Minh bis Che Guevara – sind längst abgestellt im Museum der politischen Nostalgien. Woran sie erinnern, hat oft nur wenig mit der unmenschlichen Wirklichkeit des bewaffneten Kampfes von einst zu tun. Beim ersten Toten, den ich 1981 in der Guerillazone von San Vicente in El Salvador sah, handelte es sich um einen Zwölfjährigen, der kaum größer war als sein Gewehr. Beim Vormarsch hatte sich ein Schuss aus dem Karabiner seines Hintermannes gelöst und die Kugel eine Arterie am Bein aufgerissen. Der Junge fluchte und schrie, er wollte niemanden an sich heranlassen. Er verblutete in kurzer Zeit. Sie deckten ein Tuch darüber und trugen ihn zu seiner Mutter.

Sühne und Rache

Die Kolumbianerin Zenaida Rueda wurde im Alter von 18 Jahren in ihrem Heimatort El Playón (Departamento Santander) von den FARC zwangsrekrutiert. Sie war Funkerin unter dem berüchtigten FARC-Kommandanten „Mono Jojoy“ und lernte die gesamte Führungsspitze der Organisation kennen. Sie diente 18 Jahre in den Einheiten der FARC. In dieser Zeit brachte sie zwei Kinder zur Welt, die man ihr wegnahm, weil Familienleben und Babys im Dschungelkampf als Hindernis galten. Zenaida Rueda alias Miriam, hatte genug Standgerichte erlebt, um zu wissen, dass Desertieren mit Erschießen geahndet wurde. 2009 gelang ihr schließlich die Flucht, und noch im gleichen Jahr erschien ihr Buch Confesiones de una guerrillera, ein nüchterner, detailreicher Report über 18 Jahre Guerillakampf. In jener Zeit wurde sie schwer verwundet, konnte aber nach Operation und Genesung wieder zu ihrer Einheit zurückkehren. Als sie dem Untergrund endgültig den Rücken kehrte, traf sie ihren Bruder wieder, der als Soldat der Nationalarmee durch eine Mine der Guerilla ein Bein verloren hatte. Eine kolumbianische Familiengeschichte.

Wer sich der Guerilla anschloss, musste wissen, dass er einen Schritt getan hatte, der sich kaum mehr rückgängig machen ließ. Eine Wiederkehr in die bürgerliche Welt war ausgeschlossen, denn laut der Gesetzeslage in Kolumbien ist der Guerillero ein Delinquent, der bewaffnete Aufstand aus politischen Gründen wird als illegaler Akt eingestuft. Es gibt demnach zwei Möglichkeiten, um seine Haut als Guerillero zu retten und zurück zu einem privaten Leben in Frieden zu finden. Entweder die Aufständischen übernehmen die Macht, was auf dem lateinamerikanischen Subkontinent außer auf Kuba, in Nicaragua und – mit gewissen Abstrichen – in El Salvador nie der Fall war. Oder es gibt einen Waffenstillstand und Friedensschluss, wie er jetzt zwischen der kolumbianischen Regierung und den FARC ausgehandelt wurde. Wie weit dieses formale Agreement denen, die demnächst die Waffen niederlegen sollen, Sicherheit garantiert, ist ungewiss. Die FARC-Guerilleros haben in Fällen von Kriegsverbrechen nicht nur die Justiz zu fürchten, sondern auch die Rache von Teilen der Armee, rechtsextremen Paramilitärs und den Familien, die Opfer des Konfliktes wurden. Abrechnungen sind keine Seltenheit.

Seelische Not

Das zeigte bereits ein erster Friedensschluss Ende der 80er Jahre. Teile der FARC und andere Gruppen legten 1985 die Waffen nieder und versuchten, als politische Partei unter dem Namen Unión Patriótica (UP) an Wahlen teilzunehmen. Sie wurden – es gibt kein anderes Wort dafür – physisch liquidiert. Mehrere hundert Mitglieder dieser Allianz fielen Attentaten und Lynchmorden zum Opfer, darunter Parlamentarier sowie die Präsidentschaftskandidaten Jaime Pardo Leal und Bernardo Jaramillo Ossa. Der jetzige Staatschef Juan Manuel Santos, der in diesem Jahr den Friedensnobelpreis erhält, hat kurz vor dem Referendum am 2. Oktober immerhin die staatliche Verantwortung für das Schicksal von Politikern und Sympathisanten der Unión Patriótica eingeräumt.

Der amerikanische Arzt Charles Clements ging 1982 zur Guerilla nach El Salvador, um medizinische Hilfe für Verwundete zu leisten. 1984 publizierte er seine Erfahrungen in der Guerillazone am Vulkan Guazapa in dem Buch Witness to war. Clements war Vietnamkriegsveteran und kein Guerilla-Romantiker. Er beschreibt in diesen Erinnerungen sehr nüchtern eine enorme psychische Not, die das Eintauchen in die Untergrundexistenz mit sich brachte. Er bekam, während er in Mexiko auf seinen Einsatz wartete, Befehle von Unbekannten, die er auszuführen hatte. In seinem Buch heißt es dazu: „Es gab kein Mittel gegen meine Angst vor der Leere, die vor mir lag. Obwohl ich sicher war, dass ich das Richtige tat, begann ich die Isolierung zu fühlen, den Entzug der familiären Dinge, die Einsamkeit dessen, der unter einem Pseudonym – Camilo – lebt, unter Leuten, die keine Nachnamen haben, keine Geschichten, über die sie reden wollen, keine Identität als die des Guerillero. Ich war ein heillos ungewisses Wesen. Nie gesehene Andere planten nun jeden meiner Schritte und teilten mir nichts darüber mit. Es war der Anfang von einem fast vollständigen Untergang meiner Identität.“

Die lateinamerikanischen Guerilleros – von Uruguay über Argentinien bis Guatemala – bezeichneten sich als organizaciones político-militares. Und das Adjektiv „militärisch“ war nicht etwa auf die leichte Schulter zu nehmen. Die Guerilla verstand sich als Armee und wollte funktionieren wie eine Armee nach dem Prinzip von Befehl und Gehorsam.

Der Krieg selbst, die Counterinsurgency, also die militärisch-polizeiliche Aufstandsbekämpfung, wie sie bis Mitte der 80er Jahre lateinamerikanische Offiziere und Geheimdienstleute in der von den USA geführten Escuela de las Américas in Panama lernten, ließ einer solchen Guerilla keine Möglichkeit für große Meetings und basisdemokratische Entscheidungen. Unter der gnadenlosen Verfolgung durch sogenannte Todesschwadronen verhärtete sich ein militärisches Denken, gab es die entsprechenden Strukturen und Praktiken. Es existierten in der Guerilla Sicherheitsapparate und Tribunale. Interne Machtkämpfe konnten mit der Maschinenpistole ausgetragen werden.

Zuweilen kam es zu Standgerichten, um Deserteure oder Saboteure abzuurteilen, die der Kollaboration mit dem Feind bezichtigt wurden. Zusammen mit vier anderen Guerilleros erhielt Zenaida Rueda einmal den Befehl, in einem Dorf einen Mann zu töten. Sie vermerkt dazu in Confesiones de una guerrillera: „Der Kommandant brüllte, alle sollten sich auf den Boden legen. Die Frauen warfen sich auf die Straße. Die Kinder weinten. (...) Als der Mann sich hinlegte, gaben sie mir ein G3-Gewehr. Der Kommandant schrie, dass ich ihn erschießen sollte. Der Mann betete und flehte mich an, ihn nicht zu töten. Ich stand da mit dem Gewehr in der Hand, wie vom Schrecken versteinert, und wartete, dass ich selbst erschossen würde, weil ich dem Befehl nicht gehorchte. Da schoss ein anderer Guerillero dem Mann in den Kopf. Er schoss fünf Mal. (…) Ich hielt es nicht mehr aus, ich übergab mich, ich weinte und fluchte.“

Last der Erinnerung

Wenn ich mich recht erinnere, war es der salvadorianische Schriftsteller Roque Dalton, der einmal sagte: „Für die Revolution zu sterben ist sicher einfacher, als für die Revolution zu töten.“ Dalton war einer der prominenten Intellektuellen der salvadorianischen Linken. Er schloss sich der Guerilla an und wurde von dieser im Mai 1975 wegen politischer Unzuverlässigkeit zum Tode verurteilt und exekutiert.

Anfang der 80er Jahre arbeitete ich für Salpress, eine Agentur der salvadorianischen Fuerzas Popular de Liberación (FPL), die zur Dachorganisation Frente Farbundo Martí para la Liberación Nacional (FMLN) gehörten. Ich durfte nicht wissen, wie die richtigen Namen meiner Compañeros waren, noch woher sie kamen. Erst Jahre später erfuhr ich, dass der Bürochef über jeden von uns eine Akte angelegt hatte.

In der Nacht vom 6. auf den 7. April 1983 klopften salvadorianische Freunde an meine Tür in Managua, der Hauptstadt Nicaraguas, und fragten, ob sie die Nacht über bei mir Zuflucht finden könnten. Die Nummer zwei der FPL, Comandante Ana María, war in einer der Sicherheitszonen der Stadt ermordet worden. Die bei mir Schutz suchenden Salvadorianer fühlten sich ihres Lebens nicht mehr sicher. Der Täter hatte auf die 53-Jährige mit einem Eiszerstückler wohl um die 80 Mal eingestochen. Nach wenigen Tagen stand fest, dass FPL-Chef Cayetano Carpio alias Comandante Marcial die Tat mit zu verantworten hatte. Er beging Selbstmord.

Keiner der Guerilla-Verbände in Lateinamerika blieb von diesen Auswüchsen verschont. Es geschah fast zwangsläufig, wenn ein bewaffneter Untergrund staatliche Macht attackierte und durchhalten wollte. Die Entgrenzung im Kampf blieb eine schwere Hypothek für demokratische Verhältnisse, sobald eine Guerilla die Macht übernahm. Doch kamen stets auch Erblasten in Betracht, die sich nicht ohne Weiteres abwerfen lassen. Der FARC-Kommandant „Mono Jojoy“ wurde im September 2010 bei einem Armeeangriff getötet. Kurz zuvor hatte er in einem Interview erklärt: „Wir sind keine Drogenhändler, aber wir leben nun einmal in einem Gebiet, in dem Koka angebaut wird, so ist das in Kolumbien. Wir können den Leuten nicht sagen, sie sollen damit aufhören, denn sie brauchen das zum Leben. Wir verlangen eine Steuer von den Käufern. Sie bezahlen uns eine Kleinigkeit, und davon haben dann auch wir etwas zum Leben.“ Dass es sich bei dieser Kleinigkeit um jährlich viele Millionen Dollar handelt, sagte „Jojoy“ nicht.

Für Che Guevara war der Guerillero der Prototyp des „neuen Menschen“, von dem er träumte. Man kann sich fragen, was der Argentinier sagen würde, wenn er heute die FARC in Kolumbien sähe. Sein liebstes Schimpfwort hatte er in Kuba gelernt: comemierdas, was sich mit „Dummköpfe“ ins Deutsche übersetzen lässt.

Helmut Scheben arbeitete ab 1977 gut sieben Jahre in Lateinamerika, unter anderen für die salvadorianische Guerilla in Mexiko

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden