Herr Boris hatte in Campione gelebt, einer Steueroase, bevor er mit Frau und vier Kindern ins Schwäbische zog. Sein Leben hatte er dem Juwelenhandel verschrieben, ein Kenner der Steine, mit besten Kontakten nach Antwerpen, wo er einen der Branchenbosse kannte. Seine Familie versorgte er reichlich und führte ein gehobenes Bürgerleben, unauffällig und ziemlich langweilig, der Preis geordneter Verhältnisse, in denen den Menschen bisweilen die Decke auf den Kopf fällt, in diesem Fall die Decke eines Eigenheims.
Ich wusste davon nichts, als mich Herr Boris am Düsseldorfer Flughafen mit einer schwarzen BMW Limousine abholte, die mir ein Freund geschickt hatte, um mir die Taxikosten in die Stadt zu ersparen. Herr Boris riss den Schlag auf, ließ mich Platz nehmen, und ich versuchte, ihm hilflos zu erklären, dass er einen Feuilletonisten in bescheidenen Verhältnissen in einem viel zu großen Auto in ein Vier-Sterne-Hotel transportiere, das er sich nur als Spesenritter seiner Zeitung leisten könne. Aber Herr Boris ließ sich von Bescheidenheiten nicht beeindrucken. Er hatte diesen Charme der Bourgeoisie, die sich gern spendabel gibt, ohne allerdings über die wirklichen Bedürfnisse anderer Schichten nachzudenken. Es war klar, dass mich dieser schmale Mann um die 50, graumelliert und, wie es schien, ein Ausbund an Seriosität mit denselben Butlermanieren auch unter einer Rheinbrücke abgesezt und persönlich dort meinen Koffer abgestellt hätte, um am Abend auch noch sechs Austern vorbeizubringen, nur keine warme Decke. So sind sie.
Ich hatte Herrn Boris gründlich unterschätzt
Ich hatte Herrn Boris allerdings vollkommen unterschätzt, wie sich bald herausstellte. Ein paar Monate waren vergangen, da traf ich ihn im Haus des Filmemachers Peter Kern wieder, der damals vor den Toren Wiens wohnte, zwischen Klosterneuburg und Gugging , wo sich eine berühmte Nervenheilanstalt befindet. Herr Boris schlief in einem kleinen Zimmer im Kellergeschoss gleich neben der Garage, aber wenn er heraufstieg und sich am Abend im hübschen Garten des verwunschenen Bürgerhauses stilvoll eine Flasche Rotwein entkorkte und den steilen Wiesenhang zu dem kleinen Pavillon hinaufschaute, als hätte er dort als einziger Sohn nicht unvermögender Honoratioren sonntags im Ovid gelesen und seiner Jugendliebe aus den Amores rezitiert, schienen sich Rosamunde Pilchers Romane zu bewahrheiten. Obwohl sich in seinen eleganten Konversationen, wenn man genau hinhörte, Spuren von Kreuzworträtsel-Bildung fanden. Trotzdem war er ein Untermieter mit Stil, ein kreativer Mensch, der offenbar mit wenigen Mitteln viel herstellen konnte, und die Nähe seines damaligen Aufenthalts zu Gugging, wie zufällig auch immer, bekam seinen Sinn. Dort entdeckte man in Patienten Künstler, die später berühmte Maler wurden, und Peter Kern hatte wohl mit seiner Spürnase in Herrn Boris einen spannenden Größenwahn entdeckt, kurz vor dem Fall, und wollte ihn retten.
Kern erzählte mir später, dass er Herrn Boris in Düsseldorf kennengelernt hatte, als der dort seinen Freitod vorbereitete. Er hatte Eigenheim und Familie verlassen, war nahezu mittellos und irrte durch die schwule Subkultur der Stadt. Er hatte alle, aber auch wirklich alle Fassaden niedergerissen, hinter denen er sich verschanzt hatte. Aber selbst im Niedergang gab er noch den Sir. Nur ist es mit dem „brand new life“ oftmals schwierig, und so war er, ganz Herr, zum Abschied entschlossen. Kern holte ihn in sein Haus bei Wien, Herr Boris rappelte sich auf und blieb ein äußerst angenehmer Umgang.
Was niemand wusste: Nach Herrn Boris wurde gefahndet. Er hatte wohl irgendwann die Nase voll von seinen reichen Kunden, entschloss sich, sie zu linken und brachte perfekt geschliffene Glassteine unters vermögende Volk, mit Expertisen, die er sich aus dem Internet kopierte. Dass man einem wie ihm vertraut, darauf konnte er setzen. Außerdem hatte er die Telefonnummer dieses Juwelenmagnaten in Antwerpen, von dem er wusste, dass er zwischen 12 und 15 Uhr pausiert. Er stellte sich also als dieser große Juwelenhändler vor, und erbat sich Rückrufe im Büro gegen 13 Uhr. Die Sekretärin verwies dann auf die Mittagspause, und Herr Boris rief seine Kunden eine halbe Stunde später von seinem Handy zurück und machte den Deal fix.
Dabei hatte er Helfer, die er über die Welt der Steine und in angemessenem bürgerlichen Auftreten unterrichtete, sodass sie, ohne zu stottern und mit Haltung, die Waren abliefern konnten. Die Kunden waren oft sowieso nervös, weil es sich nicht selten um haufenweise Schwarzgeld handelte, das in den Tressors zum Glitzern gebracht werden sollte. Die Mitarbeiter bezahlte Herr Boris auf den Cent genau und pünktlich. Hatten sie nach dem Deal die Kurve gekratzt und waren auf der Autobahn, deutete er gern auf große Wagen und sagte: „Schau, die haben alle weniger Geld als wir!“
Dann kam es, wie es kommen musste: Drei Jahre Knast für 15 Fälle gewerblichen Betrugs, vorzeitig entlassen, selbstverständlich wegen guter Führung. Bei einer seiner letzten Freigänge rief er Peter Kern an, war gut drauf, wollte nach Wien zurückkehren, sich mit seiner Familie aussöhnen und sprach von großen Plänen. Kern befürchtete wohl nicht zu Unrecht, dass sie sich auf seinen Glashandel bezogen. Denn ein wegen Betrugs vorbestrafter Juwelenhändler hat im seriösen Geschäft auch nicht mehr die Spur einer Chance.
Er war wie von der Leinwand ins Leben hinabgestiegen
Am Abend nach dem Telefonat muss er noch ein paar Flaschen Rotwein geleert haben und am nächsten Morgen brach er im Badezimmer zusammen, eine Gehirnblutung. Sechs Stunden später war Herr Boris tot.
Als die Todesnachricht kam, war ich über das normale Maß hinaus traurig und wusste nicht so recht, warum. Ich stand Herrn Boris nicht nahe und hatte mich, als ich erfuhr, dass er im großem Stil betrügt und heftige kriminelle Energien entwickelt, distanziert. Aber von allem blieb dann doch diese angenehme bürgerliche Erscheinung übrig. Wohl wahr, dass er nie einer Oma faule Aktien angedreht, in Zinshäusern nie überflüssige Versicherungen verscherpelt hätte, er hat sich ganz oben bediehnt, wo 50.000 Miese nicht wehtun. Aber es gibt nunmal keine guten Betrüger. Betrug ist Betrug.
Herr Boris aber schien trotzdem aus den Kinos, von der Leinwand herunter ins Leben gekommen, eine Genrefigur, die Inkarnation der Ganovenmoral, des Gantlemenbetrügers. Er war tatsächlich ein grandioser Schauspieler wie Thomas Manns Hochstapler Felix Krull, der sich seine Selbstinszenierungen vom Theater abgeschaut hat.
Unsere Menschenkenntnis ging in die Binsen, als wir das Interesse am Menschen nebenan und gegenüber und sonstwo auf dem Planten verloren hatten. Kleider machten wieder Leute, es ging nur noch um Positionen, Einfluss, Image, und die Impertinenz hatte freie Bahn. Wir hatten die Frechheiten unhaltbarer Behauptungen herausgefordert, dankbar für jeden Rest noch so bezweifelbarer Vertrauenswürdigkeit inmitten einer sich demaskierenden Gesellschaft. Ich glaube, unsere Seele war mittlerweile auf Schwindler angewiesen.
Wie sonst, auch wenn zusätzlich Erotik im Spiel war, hätte eine Frau wie Frau Klatten in diesem Maß auf einen angeblich melancholischen Gigolo von über 40 Jahren hereinnfallen können, einen Menschen vom Fleischmarkt der Begierden. Sie konnte, sie musste vielleicht. Sie brauchte womöglich die Illusion.
Ich wüßte schon, wie ich mir, mittellos, eine Kreditkarte besorgen könnte, die mir nicht zusteht, und 5.000 Euro Überziehung. Über 20 Kilo abnehmen, schlank zu sein bedeutet Disziplin und Vertrauenswürdigkeit. Dazu einen Nadelstreifenanzug, wie ihn der Kreditgeber trägt, wenn er sich zu Fortbildungsseminaren in Vier- Sterne-Hotels aufhält, die er sich selber nicht leisten könnte. Natürlich müsste der Bart ab und eine Joop- Sonnenbrille her. Und dann mit größtmöglicher Unverschämtheit die Lage definieren und sich gleich darauf milde zurückziehen, auf diesen Herrn-Boris-Charme.
Ich denke oft an Herrn Boris. Und dann an Bernard Madoff, ein Quantensprung natürlich: vom Glashändler aus Schwaben zu mehr als 50 Milliarden Schwund an der Wall Street. Madoff, die Legende, galt als gutmütiger Finanzverwalter bei Bankprofis, Privatinvestoren und Prominten. Vor lauter Gier hatte man vergessen, dass der Weihnachtsmann im Kaufhof nicht draußen vom Walde kommt, sondern eine Maskerade ist. Aber die Naivität war nur die Kehrseite der Verkommenheit.
Ich muss also oft an Herrn Boris denken. Ein kleiner Fisch unter so vielen Haien, von denen noch viele Freischwimmer sind. Armer Boris, der du hangest! Verdammte neue Welt.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.