Als ich ihm zum ersten Mal begegnete, das ist schon über 20 Jahre her, damals am Wiener Schauspielhaus, kam er mir mit seinen etwas wirren, später weißen und noch wirreren Haaren und seinem sanften Lächeln, das mir als ein Zeichen von Weisheit erschien, wie der Prototyp eines Altphilologen vor, der, abseits vom banalen Lauf der Welt, vielleicht in einer Gelehrtenstadt wie Tübingen, seinen Homer studiert hatte und den anderen nachsichtig zusah, wie sie sich an den Alltag verschwendeten.
Aber er war Schauspieler, und wie sich bei den Proben herausstellte, eigentlich auch ein genialer Dramaturg. Seine offenbar angeborene Bescheidenheit und seine Zurückhaltung ließen im Marktgeschrei des Theaters manchen leisen, aber wesentlichen Hinweis seinerseits bisweilen untergehen. Künstlerpathos lag ihm immer fern, und wenn einer fragte, was Theater denn überhaupt sei, antwortete er: „die Illusion des sinnvollen Dialogs“. In Talkshows und im richtigen Leben dominiere das Geschwätz, während das Gespräch in den Repertoirestücken überraschenderweise funktioniere. Solchen Erkenntnissen schickte er gewöhnlich ein Lächeln hinterher.
Seine Mutter stammte aus Schneidermühl im heutigen Polen, jetzt Piła, ein Ort der Holzindustrie, umgeben von Wäldern. Als Polen 1971 seine Grenzen auch für Individualreisende öffnete, setzte er sich in seinen R4 und fuhr hin. Wo ehemals das Haus stand, war nur noch ein Bombentrichter. Aber mittendrin blühte eine einsame Tomatenpflanze. Vielleicht wurde sie ihm zu einem Begriff des Schönen, schließlich hatte er die Krudität der Existenz als Kriegskind durchlebt.
Sein Vater stammte aus Kärnten, ein überzeugter Nazi und späterer SSler, der schon 1934 beim Dollfuß-Putsch als junger Mann dabei war, aus Österreich ausgewiesen wurde und nach Deutschland ging. Er wurde technischer Direktor eines Wasserflughafens an der Ostsee, in einem westpommerschen Kaff, das tatsächlich Nest hieß, und hier verbrachte Roland Kenda, Jahrgang 1941, seine ersten vier Lebensjahre. Kurz vor Ende des Krieges wurde die Familie mit anderen auf die Insel Hiddensee evakuiert, fand sich dann auf offenem Meer wieder und erreichte den Hafen von Stettin, wo aufgebrachte Polen die Flüchtlinge verprügelten, der Junge sich aber zwischen den Beinen der Erwachsenen davonmachen konnte. Mutter, Sohn und Tochter, samt Großeltern, erreichten dann nach zehntägiger Wanderung mit einem kleinen Leiterwagen, auf dem sich die letzte Habe befand, Berlin und landeten schließlich im hessischen Friedberg. Der Vater versteckte sich bei Gesinnungsgenossen in Österreich.
„Besitz muss man bewachen“
Auch Kendas Onkel väterlicherseits war bei der SS. Er machte aber eine große Karriere in der westdeutschen Nachkriegswirtschaft, fuhr einmal pro Jahr ins österreichische Burgenland zu einem Wirt bei Oberwart, wo sich die SSler trafen, und auch bei den Partys in seinem Haus in Bad Godesberg bei Bonn holten alle ihre alten Abzeichen raus und steckten sie sich ans Revers. Das war noch in der siebziger Jahren so. Auch der Onkel mütterlicherseits war Antisemit, obwohl ansonsten ein gepflegter Mann mit humanistischer Bildung, der seine Klassiker auswendig konnte, fallweise auch auf Lateinisch, weshalb der junge Kenda ihm erst spät auf die Schliche kam.
Kenda hatte schon in Friedberg seine Naivität verloren. Die Amerikaner waren dort stationiert, und Elvis Presley, der seinen Militärdienst ableistete, fuhr täglich im weißen BMW von seiner Wohnung zu den Kasernen an der Wohnung der Kendas vorbei. Holzbaracken waren es, in denen die Familie die ersten sechs Jahre lebte, die Mutter Stenotypistin bei den Amerikanern. Im vom braunen Rassenwahn leergefegten Judenviertel der Stadt öffneten Wein- und Bierlokale, die von den US-Soldaten besucht wurden. Alles aber streng rassistisch aufgeteilt: Lokale für Weiße, andere Lokale für Farbige. Der Rassismus der Demokraten im toten Judenviertel. Das musste einem jungen Menschen zu denken geben.
Noch Schüler, wurde er infolge eines rheumatischen Fiebers herzkrank, lag ein halbes Jahr im Bett, ließ sich von seiner Großmutter aus einem Kiosk, der auch Bücher hatte, alles Lesbare bringen. Von Ganghofer bis Mickey Spillane. Es war immer dieses „Make the most of it“, was ihn antrieb. Im Kino sah er alle UFA-Filme und am Schluss auch Ruth Leuwerik vor lauter Sauberkeit weinen. So wurde ihm die Fiktion zur Alternative, und zum 68er zu alt, schuf er sich einen privatphilosophischen Standpunkt. Selbstbeobachtung und Distanz als das Wesentlichste. Auch wenn er über sein eigenes Leben spricht, erzählt er wie ein Historiker, aber immer voller Begeisterung.
Es ist diese betrachtende Lebensweise, die Kenda groß macht. Seine Antwort auf unsere hysterische Ich-Bezogenheit, die zu den Phänomenen der Psychopathologie gehört. Auch konnten ihn Geld und Besitz nie verführen: „Wenn man Besitz hat, muss man ihn bewachen. Das könnte man schon bei Wagners Ring des Nibelungen lernen. Die Riesen Fafner und Fasolt bewachen den Schatz. Sie können sich überhaupt nicht mehr bewegen. Sie verarmen im Angesicht des Goldes.“
Zum Theater fühlte er sich hingezogen, weil er damals noch glaubte, dass es eine Bastion sei, die ihn vor der bürgerlichen Verlogenheit schützen könnte. In Friedberg spielte er schon in der Theatergruppe seines Gymnasiums und gastierte im nahen Bad Naumburg, wo der heute gefeierte Fernsehregisseur Dieter Wedel während der Semesterferien – er studierte bereits in Berlin – Laientheater machte. Kenda bestand die Aufnahmeprüfung an der Frankfurter Schauspielschule und begann in Dortmund sein erstes Engagement: „In 220 Aufführungen pro Spielzeit überzeugt“, sagt er und lacht. Mit dem Mannheimer Theater trat er dann auch in China auf und spielte in dem kritischen Volksstück Der Bockerer Hitler. Für die Chinesen war das die Sensation, schon weil es zu ihrem Verhaltenskodex gehört, leise zu sprechen und nicht ständig herumzubrüllen.
Er genoss sein Theaterleben, das noch etwas von der alten Bohème bot, die Kantine noch als Künstlertreff, Mansardenzimmer über der Stammkneipe. Seine Freundinnen waren selten Schauspielerinnen: „Kommt ein Regisseur vorbei und bietet ihnen was, sind sie weg“, sagt Kenda, der langsam spürte, dass im Theater der Verrat zu Hause ist. Trotzdem hat man sich damals der Bühne noch intensivst gewidmet. Was bisweilen schon etwas Zölibatäres hatte.
Sein Lieblingsphilosoph ist Epikur: „Der Mensch verlässt die Erde so, als ob er sie gerade erst betreten hätte.“ Von wegen Altersweisheit. Und als Kommentar zu unseren Gesprächen ein weiteres Zitat: „Bei einem geistigen Treffen gewinnt der Unterlegene, insofern er nämlich dazulernt.“ Für ihn beginne bei Epikur die Dialektik. Insgesamt werde der Mensch aber nicht klüger. „Man hat das Leben nicht im Griff“, resümiert Kenda, dessen Familie väterlicherseits ursprünglich aus dem slowenischen Isonzotal stammt. „Auf dem Friedhof steht auf jedem zweiten Grabstein Kenda“, sagt er. Seinen Vater habe er nach seiner frühen Kindheit kaum noch gesehen, außerdem sei er bald ganz furchtbar an Krebs erkrankt und gestorben. Ein Urteil über ihn habe er sich nicht angemaßt. Schließlich wisse er nichts darüber, wie der Vater als junger Mann unter welchen Umständen in wessen Fänge kam, um so furchtbare Fehlentscheidungen zu treffen. Die üblichen Rachebücher der Söhne über ihre Väter sagten ihm wenig.
Nichts kostete ihn sein Lächeln
Seit 1989 ist Roland Kenda am Wiener Burgtheater engagiert, ist verheiratet und lebt am Stadtrand zusammen mit einem Sohn aus einer anderen Verbindung. Es dauerte lange Zeit, bis er den Sohn zu sich holen konnte, Johnnys Mutter war schwer depressiv und musste sich dem psychatrischen Komplex überlassen. Rollenangebote hat er in jener Zeit gerne abgeschlagen. Aber weder Operationen noch solche Fährnisse kosteten ihn sein Lächeln. Er betrachtet das Leben wohl als Geschenk und weiß, dass man ihm dafür eine einzige Bitte erfüllen muss. Man muss ihm einen Sinn geben.
Kenda lebt gern in Wien. Auch als Schauspieler. Er sagt, es sei die einzige Stadt, in der man auch misslungene Produktionen über Monate vor vollem Haus spielen kann. Weil die Wiener gern anderen beim Scheitern zuschauen. Unlängst stieg er aus Proben des Burgchefs aus, auch weil sich sein krankes Herz meldete und womöglich auch aus weiteren Gründen, worauf sein Zusatzvertrag zur Rente gestrichen wurde. Die hochsubventionierten Bühnen verhalten sich inzwischen mit ihren ein- und ausfliegenden Stars nach dem Muster der Entertainment-Industrie. Früher fühlte man sich offenbar frei, wenn man ein Theater betrat. Heute fühlt man sich frei, wenn man es verlässt. Roland Kenda ist nicht böse und studiert zurzeit gerade frühe Westernfilme.
Neulich kam er bei mir mit einer Dose Sardinen aus der Bretagne vorbei. Er wisse sogar, wie sie gefischt werden, auf schwankenden kleinen Booten vor der Felsenküste. Sie seien riesig verglichen mit dem Mittelmaß des Mittelmeers. Er ist ein Gourmet, der kein Nobelrestaurant braucht, weil er selbst Gespür für das Besondere hat.
Jedes Jahr erscheinen zahllose, oft von Ghostwritern verfasste Künstlerbiografien, großmäulig und verlogen. Neulich erzählte ein Verleger über einen dieser Kandidaten, er habe ihm gegenüber geäußert, dass er irgendwann einmal auch die Wahrheit sagen wolle, sobald er es sich leisten könne. Kenda hat keine Oscars zu bieten, keine spektakulären Affären und Scheidungen. Auch von unserem sinnlosen Verhältnis zur Geschwindigkeit hält er nichts. Er sagt: „Die verstehen doch gar nichts davon, weil sie kein Gefühl dafür haben, dass wir durch das Universum fliegen wie auf einer abgeschossenen Gewehrkugel.“
Er ist ein stiller Denker und ein Theatermensch, der seine Skrupel nie zugunsten einer großen Karriere über Bord gehen ließ. Menschen wie er haben statt Prominenz etwas Beispielgebendes. Ihnen gebühren die großen Auftritte und die Lebenserinnerungen, weil sie der Rettungsschirm unserer Kultur sind.
Helmut Schödel lebt als Autor und Dramaturg in Wien
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.