Mein Leben verlief bis heute von Psychotherapeuten und -analytikern unbetreut. Vielleicht auch deshalb, weil es in der fränkischen Gegend, in der ich aufwuchs, trotz der Weite der Mittelgebirgslandschaft nur eine einzige Nervenklinik gibt, geleitet von Dr. Franz, den alle liebevoll den Nerven-Franz nennen, obwohl sie ihn bis heute ungern grüßen, weil sonst jemand denken könnte, man sei in Behandlung.
In München sah ich die Leute schon in den siebziger und achtziger Jahren ganz anders unterwegs. Die Mühen der Selbstfindung, der Partnerwechsel, der devianten Begierden, der depressiven Verstimmungen und was halt so anfällt im ansonsten entlasteten Leben – dafür hielt man sich einen Therapeuten, was zum guten Ton gehörte, wie man auch ein Pferd stehen hatte oder im Segelboot im Abendrot auf dem Wasser vor der Republik Starnberg herumwackelte.
Als ich neulich in einer Wiener Tageszeitung eine Anzeige fand, die eine Therapie für Hunde anbot, ein „Hundecoaching“, kam mir das Angebot längst überfällig vor. Es war doch nur eine Frage der Zeit, bis man endgültig auf den Hund kam. Erst Herrchen in Therapie, dann Frauchen und jetzt der vierbeinige Liebling. Um Zeitgenosse zu bleiben, muss man Opfer bringen, und so bestellte ich für meinen Hund Tommy einen Therapeuten. Denn der Preis von 40 Euro pro Stunde ließ nicht auf Abzocke schließen.
Es kam dann eine hübsche Frau Mitte 30, schlank und flott, mit schwarzer Hornbrille und Geschenken für Tommy, alles included. Wenn Tommy wirklich bei jeder Fehlzündung eines Autos so verschreckt reagiere, als wäre Silvester – nicht streicheln, nicht trösten, einfach so tun, als wäre nichts gewesen, und schon sei dann alles in Butter. Ihn mit seinen zehn Jahren auch nicht mehr überall mit hinschleppen. Er brauche jetzt Ruhe. Die hübsche Frau hatte gute Tipps. Und so gar nichts von der Verbissenheit mancher Tierschützer, die Jahre nach dem Untergang der Protestkultur noch immer glauben, ein Transparent an der Autobahn könne Tiertransporte verhindern. Aber trotzdem stand eine Überzeugungstäterin vor mir, denn um die 40 Euro ging es ihr nicht. Sie war ganz anders als erwartet.
Wir besuchten bald zusammen eine Christoph-Schlingensief-Inszenierung im Wiener Burgtheater, der sie begeistert folgte. Allerdings erklärte sie schon im vorhinein, falls die Aufführung länger als drei Stunden dauere, könne sie nur noch einen kurzen Kaffee im Apreslokal nehmen, weil Fini auf sie warte, eine Hovawart-Hündin. „Die Gesundheit von Finis Blase ist mir mehr wert als die ganze Kunst“, sagte sie. Eine gewagte Äußerung für die Ehefrau des Intendanten eines der großen Opernhäuser der österreichischen Hauptstadt, des Theaters an der Wien, wie sich herausstellte, die in der verschmockten Wiener Gesellschaft eigentlich die Frau des Intendanten spielen müsste, den Schatten des Gatten, bereit zu jedem Kulturgewäsch, sobald sie in die Stadt hinausgeht. Außerdem war sie Sängerin am Gärtnerplatztheater in München und an der Volksoper in Wien, zum Beispiel, erfuhr ich.
Wir trafen uns ein paar Wochen später in der ehelichen 200-Quadratmeter-Wohnung im Wiener Zentrum auf ein Gespräch wieder. Ihr Ehemann schaute kurz vorbei, um sich für eine Begegnung mit Gästen des Theaters umzukleiden, ein freundlicher, souveräner Mann um die 50, in der Stadt sehr beliebt. Zum Abschied küsste er dann nicht seine Frau, sondern Fini. „Haben Sie das gesehen?“ fragte Frau Bone, die seit ihrer Heirat vor sechs Jahren Bone-Geyer heißt und sich so spektakulär wenig um die Berühmten von Wien kümmert, und ihnen, wie sie erklärte, nicht nur als Hundecoach, sondern auch als bekennendes Mitglied der Kommunistischen Partei Österreichs gegenübertrete. Das kam überraschend.
Sie habe sich in Wien anfangs wohlgefühlt. Als geborene Rumänin habe ihr diese Stadt, die sie ständig an den Balkan erinnere, ein Heimatgefühl vermittelt, das sie dann schnell revidieren musste. So sei sie eingetreten, habe ohnehin den Wiener Radikalkünstler Alfred Hrdlicka gekannt, der allerdings im Streit mit der Partei ausgetreten war, nicht mehr ganz gesund sei und mit seinem Arzt einen Kompromiss geschlossen habe: Nur noch eine Flasche Wodka pro Tag. Er rede auch nicht viel über Kunst, meistens über Frauen.
Wie sie so da saß in diesem aparten weißen Sommerkleid, das den dunklen Rand ihrer Hornbrille nur noch deutlicher hervortreten ließ, erschien mir diese KPÖ-Geschichte als eine Stimmungsreaktion, und ich bohrte nicht tiefer nach politischen Motiven, weil man ja auch keinen Teenager fragt, warum er mit 12 auf der Schultoilette raucht. Aber alles nur für Kapriolen einer gutsituierten Bürgergattin zu halten, schien mir zu billig. Da war ja zugleich diese berückende und nicht ungefährliche Unschuld. Vielleicht war ja Parsifal in Wirklichkeit eine Frau.
Mit dem Beginn ihrer Ehe habe sie das Singen aufgegeben: „Ich werde jetzt von meinem Mann bezahlt.“ Was für ein Satz! „Ich coache ja auch ihn. Wenn er mit hysterischen Sängerinnen Probleme hat, kann ich ihm helfen, ich war ja selber eine. Aber in die Wohnung lasse ich sie nicht. Nikolaus Harnoncourt schon, aber sonst ist das meiste außen vor.“ Außerdem verfüge sie über einen guten Ehevertrag. Ihr Mann sei zwar ein harter Verhandler und notfalls ein kalter Manager, aber wenn Fini ihn ansehe, werde er weich. „Ich glaube, wenn Fini stirbt, geht mir dieser Mann ein“, sagte sie. „Der Hund ist mittlerweile die Brücke zwischen uns.“
Als der perfekt gekleidete Intendant die Wohnung verlassen hatte, packte sie ihre Zigaretten aus: „So, jetzt können wir rauchen. Wenn er da ist, nur in der Küche“. Unlängst habe sich eine Frau aus der Wiener Aristo-Gesellschaft an ihren Mann herangemacht. Sie habe ihr schlussendlich mit ihrer rumänischen Verwandtschaft gedroht. Es war ein vollkommenes Rätsel, warum mir, der ich mitschreibend vor ihr saß, diese Frau das alles so selbstverständlich erzählte. Obendrein in Wien, wo das offene Wort ohne Chance ist und der Ehemann ein führender Kulturfunktionär ist, der sich Sitten und Unsitten beugen muss, ob er will oder nicht.
Gabriela Bone-Geyer verbrachte die ersten Jahre ihrer Kindheit in Rumänien und musste mitwinken bei Ceausescus Aufmärschen. Die Eltern flüchteten 1972, ließen ihre beiden Töchter bei der Großmutter zurück und holten sie drei Jahre später nach München. „Ich fühlte mich in Rumänien verlassen“, sagte sie. „Das wurde ein psychisches Problem, diese ständige Angst, verlassen zu werden. Die Großmutter stand auch für Grundnahrungsmittel Schlange, bei Hitze und bei Kälte, aber die Eltern waren fort. Zu meiner Schwester hatte die Mutter gesagt, sie gehe weg, um ein Fahrrad zu kaufen, und kam dann nicht wieder. In München hieß es dann: ‚Das haben wir alles nur für euch gemacht, bemüht euch!’“. Erst verlassen, dann unter Druck gesetzt. Sie bestand das Abitur, studierte und sang sich über Passau und Oldenburg an größere Häuser hinauf, und ihre Schwester wurde Ärztin. Bei einer Open-Air-Fledermaus vor dem Wiener Schloss Schönbrunn lernte sie Herrn Geyer kennen.
Da kam offenbar die große Liebe ins Leben. Sie hängt den Befund gleich ein bisschen niedriger: „Sagen wir lieber eine tiefe Verbundenheit, wie es sie auch zwischen Menschen und Hunden gibt, weil ja auch Tiere Gefühle haben.“ Eine Freundin sei an Krebs erkrankt, und so habe sie vor drei Jahren Fini übernommen. „Eine Fügung, ein großer Gewinn für das Zusammenleben.“ Kinder habe sie ja keine. „Dazu braucht man den richtigen Mann, und das ist mein Mann nicht. Er lebt für die Arbeit und tut und plant. Als Flüchtlingskind verstehe ich diese Existenzangst nicht.“
Jedenfalls nutzte sie die Begegnung mit Herrn Geyer nicht billig als Karrieresprung, ganz im Gegenteil. „Ich habe doch sowieso vor allem für den Applaus gesungen, das musste nicht so weitergehen.“ Jetzt berät sie in der Vorstadt Kellnerinnen, deren Hunde, wenn sie allein zu Hause sind, die Vorhänge zerreißen, und hilft, wenn Hundehalter den Tierarzt nicht mehr bezahlen können. In der Wiener Society sei der Umgang mit Hunden allerdings eher problematisch. Da nennt Herrchen seinen Liebling „Herr Brodmann“: „Das sagt doch schon alles“. Ein Rechtsanwalt trage seine Mopshündin Beauty immer auf dem Arm herum. Neulich habe sie Beauty ein Leckerli auf den Boden geworfen. „Oh Gott, sie werfen es ihr auf den Boden“, habe der Anwalt entsetzt gerufen. Auch ihr Mann rüge sie manchmal zu Hause: „Sprich nicht zu laut, Fini schläft!“ In Rumänien habe man Hunde an der Kette gehalten und bei Verhaltensstörungen erschossen. Das sei die schreckliche Kehrseite. In Wien tröste sie Hundebesitzer auch über den Tod ihres Lieblings hinweg: „Alle Hunde gehen zum Fluss und warten, bis wir kommen. Dann setzen wir über.“ Sollte Fini dereinst auch zum Fluss gehen, wolle sie ihre Urne in der Wohnung platzieren und verfügen, dass sie ihrer eigenen ins Grab beigegeben wird. Wenn das mal nicht Ärger mit ihrem Gatten gibt, falls es sich nicht um ein Gemeinschaftsgrab handelt.
Es kam also in Gabriela Bone-Geyers Leben der Tag, als Fini erschien und alles anders war. Dass der Hund wusste, was er zu tun hatte, und nichts in Frage stellte, nicht Sitz, nicht Platz, nicht Gassi, beruhigte das Leben des Ehepaars. Denn das Problem war offensichtlich, wie so oft, nicht der Hund, sondern dass eine Frau des gehobenen Bürgertums an ihrer Leine riss, sagte, was sie denkt und aus der Rolle fiel. Auch der Hund arbeitete als Therapeut, als Menschencoach. Denn Frauchen machte nicht Sitz und kümmerte sich erfreulich wenig um Regeln. Auf den ersten Blick aus einer zurückgewonnenen Unschuld. Aber sie sieht ihre Lust an der Subversion, ihre Wohlstandsdissidenz als eigenen Kosmos, fernab aller Umstände. Deshalb war die Frage unvermeidbar: „Haben Sie sich, vielleicht um die Verletzungen ihres Lebens zu ordnen, einer Therapie unterzogen, Frau Bone-Geyer?“ Sie barst schier vor Begeisterung über ihre Therapeutin, die ihren Auftrag offenbar nicht in sozialer Anpassung sah. Offenbar therapiert inzwischen jeder jeden. Die Therapeutin die Therapeutin, der Hund die Ehepaare. An jeder Ecke steht ein Coach oder ein Mediator. Das ist wohl in den leerlaufenden Ritualen einer krisenhaften bürgerlichen Welt ein letzter Ausweg für ihre zukunftsbewussten Teilnehmer. Wer hätte das in den siebziger Jahren geahnt? Dass aus dem Spiel Ernst wird. So viele so seltsam befreit zu Marionetten ihrer Selbstbestimmung.
Unterschätzen wir also bloß die Rolle der Hunde für unser Gemeinwesen nicht. Denken wir an die glückvollen Waldspaziergänge des Ehepaars Bone-Geyer in der Steiermark, wo man sich als Fluchtburg ein Försterhaus gemietet hat. Für Bone, für Geyer und nicht zuletzt für Fini. Und an diese entwaffnende Frau und ihren Ehemann, der im positivsten Sinne auf den Hund gekommen ist, zum Vorteil der Oper, der Ehe und seines eigenen Wohlbefindens. Reste von Netz und doppeltem Boden.
Ich denke daran, mich schon bald in den Weiten der fränkischen Mittelgebirgslandschaft mit unseren Nerven-Franz zu treffen. Er habe sich sowieso schon nach mir erkundigt, erzählen mir Freunde.
Helmut Schödel ist Dramaturg und Autor in Österreich und Deutschland
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