Was ein Amt zusammenhält, sind Akten. Die werden nicht einfach bearbeitet. Sie zirkulieren. Als »Vorgang« von einem Büro ins nächste nämlich. Sie werden in Ablagen kurzzeitgespeichert und als Barrikade verwendet. Sie bilden dann den universalen Beweis für Überlastung, mit dem man jede Dringlichkeit schulterzuckend ins Aus schmettern kann. Die eigentliche Aufgabe von Akten ist aber noch eine andere. Akten sind Schnittstellen: erst durch das Ausfüllen von Formularen fügen sich individuelle Leidensgeschichten, Anliegen und Forderungen in einen Rahmen, der für die Behörde handhabbar ist. Was wir stets als Zumutung empfinden, unsere Reduktion auf ein Aktenzeichen (oder, wie es manchmal freundlicher heißt, eine Kundennummer), das Ausklammern aller persönlicher Begleitumstände, ist für das Amt grundlegende Arbeitsbedingung. Akten bedeuten Distanzgewinn und Reduktion von Komplexität.
Was schließlich als Wichtiges übrigbleibt vom Amtsgeschäft, landet in den Archiven, quasi im Langzeitgedächtnis. Das Wort Archiv kommt jedoch nicht, wie man sofort denken würde, von »archaios«, also alt, sondern von »archeion«, dem griechischen Wort für Amtshaus.
Ordnung und Leidenschaft
Der Beruf des Archivars wird zu Unrecht dafür belächelt, das Sortieren vergangener Akten dem Umgang mit Menschen vorzuziehen. Das mag daher rühren, dass man die Beschäftigung dem Material gleichsetzt und für monoton hält. Dabei sind viele Archivare mit echter Leidenschaft bei der Sache, wobei die Frage nach ihrer Motivation sich zunächst irgendwie nicht richtig beantworten lässt. Ein Geruch von Geheimnis, den die Archivare selbst sorgsam pflegen. Das beginnt schon mit der Redeweise: das Betrachten der Originale nennt sich geschmackvollerweise »Autopsie«, Akten werden nicht aus dem Magazin geholt, sondern (wie ein Schatz) »ausgehoben« und dann nicht einfach zurückgebracht, sondern »reponiert«. Archivare ordnen nach »Provenienz« oder »Pertinenz«, messen nach Regalmetern und erfinden Wortungeheuer wie Amtsdruckschriftenabteilung oder Betreffaktenregistratur.
Die zweite Spezies im Aktendschungel ist der Benutzer. Welche Art von Mensch begibt sich überhaupt freiwillig ins Archiv und warum? Schließlich findet man dort doch vor allem angegilbte Stöße von Papier, die hartnäckig und mit Absicht verbergen, was man sucht. Doch in den Dokumenten leben die Fragmente des Konkreten: Ausrufungszeichen und Anstreichungen, kleine Langeweile-Zeichnungen von Männchen und Häusern; Strandsand und erschlagene Mücken in Zeitungen. Dann gibt es Kurioses, zum Beispiel, dass das Politbüro der SED sich auf Dutzenden von Seiten Vorgänge über den Import japanischer Zierkirschenbäumchen angelegt hat. Oder, buchstäblich herzhaft: Aktenvermerke der Abteilung für Agitation und Propaganda über das Wegwerfen von Wurststullen.
Es dauert eine geraume Zeit, bis sich dahinter das Funktionieren des Apparates zu erkennen gibt, die Art, wie geschlossene bürokratische Systeme von der Welt berührt werden und auf eine ganz eigene Weise reagieren. Und die eigentlichen Funde macht man erst dann. Es sind die Ereignisse, die den Dienstweg - Abläufe von Vorlagen, Tagungen und Gremien - so nachhaltig irritieren, dass die obersten Stellen den Wissensfilter der unteren ignorieren, direkt eingreifen und damit die Rituale des Amtes in Frage stellen.
Vom Horror des Besuchers
Vor solchem Erlebnis steht der Zutritt - eine manchmal knifflige Aufgabe. Das Bundesarchiv in der Berliner Finckensteinallee 63 zum Beispiel speichert deutsches Herrschaftswissen seit 1815 in einer ehemaligen Kaserne. Bevor Sie hier den Staub von den Schreibtischinhalten deutscher Amtswalter pusten dürfen, präparieren Sie sich für folgende Prozedur: Sie fahren durch das Haupttor und halten vor der Schranke, jedoch hinter der Ampel. Darauf nehmen Sie die Schwingtür zum Pförtnerhäuschen, legen Ihren Personalausweis vor und füllen einen Passierschein aus, den Sie unterschrieben dem Pförtner übergeben. Daraufhin bekommen Sie eine Benutzerparkkarte, einen Durchschlag des Passierscheins, eine nummerierte Besucherkarte in schillerndem Rosa und einen Schlüssel. Auf dem Besucherparkplatz nesteln Sie die Besucherparkkarte ans Auto und den Benutzerausweis an sich selbst fest, stecken den Schlüssel und den Passierschein ein und wandern bis zum eigentlichen Nutzergebäude. Hier führt der erste Weg in die Garderobe. Schließen Sie mit dem obengenannten Schlüssel Ihre Sachen ein und begeben Sie sich - selbstverständlich mit gewaschenen Händen, selbstverständlich ohne alle Taschen und Jacken und selbstverständlich mit dem rosa Ausweis an der Kleidung - ins Allerheiligste, den Benutzerraum. Den verlassen Sie vermutlich gleich wieder, um in den Findmittelraum zu gehen. Anders als in Bibliotheken, wo sich die Kataloge im Lesesaal befinden, eben da, wo man sie auch braucht, sind Kataloge, Findbücher (eine Art thematisches Register von Aktensignaturen) und Find-Findbücher (eine Art thematisches Register der thematischen Register) in einem eigenen Zimmer versteckt. Dessen Öffnungszeiten, man braucht es kaum noch zu erwähnen, sind von denen des eigentlichen Benutzerraums verschieden.
Die komplizierte Benutzerordnung, der schwierige Zutritt, die geheimniskrämerhafte Art zu reden, sie weisen vor allem auf eines hin: auf die latente Angst des Archivars vor dem Benutzer. Was bis hier nur ein Verdacht ist, bestätigt sich überraschend bei einem Blick in ein einschlägiges Fachbuch: »Dem persönlichen Besuch in einem Archiv sollte tunlichst eine entsprechende Anfrage und Anmeldung vorausgehen. Benutzung, aber auch Anfragenbeantwortung werden durch eine möglichst gründliche Vorbereitung erleichtert. Die Benutzungsordnungen der Archive schreiben zum Teil ausdrücklich vor, dass Benutzung und Auskunftserteilung nur zulässig sind, soweit die gestellten Fragen nicht auf anderem Wege beantwortet werden können« (s. Eckhart Franz: Einführung in die Archivkunde. Darmstadt 1974).
Das erklärt noch nicht die ehrlich bewundernswerte Leidenschaft vieler Archivare für ihren Beruf. Der besteht darin, aus einem losen Haufen Papier einen Kosmos der Ordnung zu formen. Wie bei der Beschäftigung mit einem Zauberwürfel wird aus einem bunten Durcheinander im sachgemäßen Prozess von Restauration, Ordnen, Titelaufnahme und weitergehender Erschließung ein symmetrisches Nebeneinander geordneter Flächen, das sich von der Einzelakte bis zum Find-Findbuch erstreckt. Eine Mischung aus Puzzle- und Detektivspiel, für die man auch noch bezahlt wird. Wäre das Ganze nicht ziemlich einsam - eigentlich ein Traumberuf für alle, die gern mit Legosteinen gespielt haben.
Besucher sind vor diesem Hintergrund erst einmal unerwünscht, weil in der Benutzung stets die Gefahr der Wiederkehr des Chaotischen liegt. Im Benutzer steckt die Gefahr des Zufalls, dass zum Beispiel Schriftgut vertauscht wird oder etwa Seiten beschmutzt werden. Schon E.T.A. Hoffmann lässt dem Studenten Anselmus im Goldenen Topf dementsprechend folgende Warnung (heute würde man sagen: Benutzerordnung) zukommen: »Aber hüten Sie sich ja vor jedem Tinteflecken; fällt er auf die Abschrift, so müssen Sie ohne Gnade von vorn anfangen, fällt er auf das Original, so ist der Herr Archivarius imstande, Sie zum Fenster hinauszuwerfen, denn er ist ein zorniger Mann.« Die wichtigste Aufgabe der Archivarinnen und Archivare besteht darin, die Unversehrtheit der von ihnen verwalteten und verwahrten Unterlagen zu erhalten - so sagt´s der Kodex ethischer Grundsätze für Archivarinnen und Archivare.
Der Zauberwürfel
Trotzdem sind die Benutzer in den seltensten Fällen ausgeschlossen. Sogar das Vatikanische Geheimarchiv ist mittlerweile im Internet zu finden, präsentiert dort aber eine Seite, die, abgesehen vom Bild eines aufgeschlagenen Buches, vollkommen leer ist. Hat man den organisatorischen Firlefanz einmal eingeübt, zeigen sich Archivare schnell als außergewöhnlich freundliche und hilfsbereite Menschen. Zur Lust an der Ordnung gehört eben noch ein Zweites: dass sie auch als solche wahrgenommen wird. Und zwar eben von denen, die das naserümpfende Klischee von den Archiven ignorieren können. Damit gewinnt die Sortierwut der Archivare ein zweites Feld. Nicht nur Akten werden geordnet, sondern auch diejenigen, die sie sehen dürfen: da ist zum einen die (vermutlich viel größere) Gruppe gefährlicher Laien und zum anderen eine erlesene Gesellschaft eingeweihter Benutzer.
Um zu dieser Bruderschaft zu gehören, genügt bloßes Interesse nicht. Man muss selbst zum Archivar werden. Dann erkennt man die fortwährende Wiederholung von Bestellung, Durchsicht und Kopierauftrag als Rituale der Initiierten. Dann weiß man, dass die Muffigkeit, Abgeschiedenheit und Kommunikationslosigkeit der Benutzersäle die Stille schaffen, die man für die andächtige Betrachtung eben braucht.
Akten formen Antragsteller, Archivare die Archive, die wiederum formen ihre Benutzer. Achten Sie auf die Zeichen. Wenn Sie sich selbst dabei erwischen, minutenlang auf ein Schreibmaschinen-O zu starren, das das Papier durchschlagen hat, könnte es schon zu spät sein. Vielleicht haben Sie noch die Wahl. Dann gehen Sie! Streicheln Sie dann nicht noch einmal über das Papier, formen Sie das vor Ihnen liegende Material nicht in gleich große Teile. Gehen Sie zurück in die Garderobe, nehmen Sie Ihre Sachen, dann weiter zum Besucherparkplatz, steigen Sie ein und halten Sie hinter der Ampel, aber vor der Schranke, nehmen Sie die Schwingtür zum Pförtnerhäuschen und geben Sie den Benutzerausweis, den Schlüssel, die Benutzerparkkarte und den Passierschein zurück. Murmeln Sie für alle Fälle noch ein »Bis morgen!«, aber gehen Sie. Zauberwürfeln kann man auch draußen. Oder Sie bleiben: Dann ist Ihnen klar geworden, dass es die nächste Akte ist, die den großen Fund verspricht. Und es ist immer die nächste.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.