Applaus reicht nicht aus

Soziale Gerechtigkeit Die Ungleichheit nimmt durch Corona weiter zu. Die Beschäftigten im Niedriglohnsektor haben aber oft weder Kraft noch Zeit, sich zu organisieren

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Szene von einer Demonstration für eine bessere Bezahlung von Pflegekräften aus dem September 2020
Szene von einer Demonstration für eine bessere Bezahlung von Pflegekräften aus dem September 2020

Foto: IMAGO / Stefan Zeitz

In der Corona-Pandemie ist unsere Aufmerksamkeit auf Beschäftigte, Tätigkeitsfelder und Berufsgruppen gelenkt worden, ohne die unsere Ökonomie und Gesellschaft nicht funktionieren würde. Galten in der Finanzmarktkrise vor allem noch Banken als systemrelevant, so hat die Pandemie gezeigt, auf welche Jobs und Tätigkeiten es wirklich ankommt, um die Wirtschaft, die Logistik, die Daseinsfürsorge und das öffentliche Leben am Laufen zu halten und einen Beitrag zum Gemeinwohl zu erbringen. Viele dieser als systemrelevant bezeichneten Berufe und Tätigkeiten sind aber leider auch durch niedriges Einkommen, schwierige Arbeitsbedingungen mit körperlichen Belastungen und ungünstige Arbeitszeiten gekennzeichnet.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Berlin, hat eine Untersuchung von systemrelevanten und unverzichtbaren Berufen in der Corona-Pandemie vorgelegt. Diese Untersuchung bezieht sich auf eine entsprechende Liste von systemrelevanten Berufen, die zuerst von der Berliner Senatsverwaltung zu Beginn der Pandemie in 2020 und in vergleichbarer Form auf Länderebene in verschiedenen Bundesländern entwickelt wurde. Untersucht wurden das gesellschaftliche Ansehen und die Bezahlung systemrelevanter Berufe im Vergleich zur allen Berufen.

Demnach schneiden hinsichtlich der Anerkennung und dem Prestige folgende systemrelevanter Berufe besonders unterdurchschnittlich ab:

  • Lagerwirtschafts-, Post- und Zustell-, Güterumschlagsberufe;

  • Reinigungsberufe;

  • Fahrzeugführer im Straßenverkehr;

  • Gesundheits- und Krankenpflegeberufe;

  • Rettungsdienste- und Geburtshilfeberufe;

  • Ver- und Entsorgungsberufe;

  • Verkaufsberufe Lebensmittel;

  • Arzt- und Praxishilfen;

  • Fahrzeugführer im Eisenbahnverkehr;

  • Verkauf im Drogerie-, Apotheken-, Sanitär- und Medizinbedarf;

  • Objekt-, Personen- und Brandschutz.

Festgestellt wurde weiterhin, dass das Gehaltsniveau der unverzichtbaren Berufsgruppen, die eine besonders niedrige gesellschaftliche Anerkennung genießen, mit knapp 15 Euro zwei Euro pro Stunde unter dem Durchschnitt aller Beschäftigten liegt. Dabei ist ebenfalls zu berücksichtigen, dass die Bezahlung insbesondere in jenen Berufen gering ist, in denen ein hoher Anteil der systemrelevanten ArbeitnehmerInnen tätig ist. Das DIW weist zudem darauf hin, dass in unterdurchschnittlich anerkannten und bezahlten Berufe die Arbeit überwiegend von Frauen erbracht wird. In systemrelevanten Berufen beträgt der Frauenanteil 60 Prozent und liegt damit 11 Prozentpunkte über dem Durchschnittswert von 49 Prozent, bezogen auf alle Berufe.

Der DGB-Index „Gute Arbeit“ hat in einer nach dem ersten Lockdown 2020 veröffentlichten Studie ausgewählte frauendominierte Berufe untersucht. Dabei handelt es sich um Verkaufs-, Reinigungs-, Pflege-, Erziehungs- und Sozialberufe. Die Ergebnisse zeigen, dass die Beschäftigten selbst ihre Einkommen als kaum ausreichend ansehen, atypische und prekäre Beschäftigungsmerkmale weit verbreitet sind, ungünstige Arbeitszeiten am Wochenende geleistet und überdurchschnittlich körperliche und stressbedingte psychische Belastungen beklagt werden.

Leistungsträger in der Corona-Pandemie

Wenn in der Vergangenheit von Leistungsträgern die Rede war, dann ging es meist um berufliche Aufsteiger, Führungskräfte, Top-Manager, Vorstandsmitglieder, Spitzenverdiener und auch Vermögende, die ihren Erfolg und Reichtum verdient zu haben schienen. Mittlerweile wird zurecht der Fokus stärker auf die Leistungsträger aller Berufsgruppen und ihrem Beitrag nicht nur zum eigenen Lebensunterhalt, sondern auch zum Gemeinwohl und für die Gesellschaft gerichtet. In vielen Berufen und Tätigkeiten werden tagtäglich von hart arbeitenden Menschen hohe Leistungen erbracht. Es geht um Menschen und Beschäftigte in den oben genannten Branchen mit vielleicht mittlerer Ausbildung, in mittleren Positionen, es geht in Teilbereichen auch um vermeintlich einfache Dienstleistungstätigkeiten. Hinzu gerechnet werden muss mittlerweile eine große Anzahl von prekär Beschäftigten, die ihre Leistung unter ungesicherten Bedingungen erbringen. Wenn man einmal in Ruhe darüber nachdenkt, wird man feststellen, dass jeder von uns persönlich mit diesen Leistungsträgern ständig in Berührung kommt und ihre Leistungen in Anspruch nimmt: PaketzustellerInnen, KurierfahrerInnen bei Lieferdiensten, Callcenter-MitarbeiterInnen, LKW-FahrerInnen, BusfahrerInnen, ZugbegleiterInnen, Pflegekräfte, VerkäuferInnen im Einzelhandel; VerkäuferInnen in Fastfood-Ketten, Beschäftigte am Bau, RaumpflegerInnen, ArbeiterInnen in der Müllentsorgung etc.

Respekt muss auch in der Bezahlung zum Ausdruck kommen

Die Beschäftigten in den unterdurchschnittlich anerkannten und entlohnten, aber systemrelevanten Berufen haben mehr öffentliche Wertschätzung und Respekt verdient. Die Beschäftigten werden in ihrem Jobs gebraucht und leisten einen nützlichen Beitrag für die Gesellschaft. Man könnte sie auch als Leistungsträger für das Gemeinwohl bezeichnen.

Neben dem höheren Respekt und der stärkeren Anerkennung der für die Gesellschaft bisher unterbewerteten notwendigen Tätigkeiten und dort tätigen Beschäftigten sollten in den Branchen mit besonders unterdurchschnittlicher Bezahlung die Entlohnung verbessert und prekäre Arbeitsbedingungen zurückgedrängt werden. Hier sind die Beschäftigten selbst zusammen mit ihren Gewerkschaften, aber auch die Politik gefordert, die Rahmenbedingungen zu verändern.

Das könnte mithilfe der politischen Förderung des Abschlusses und der Anwendung von Tarifverträgen und der Erleichterung der Erklärung von Tarifverträgen für allgemeinverbindlich in den systemrelevanten Branchen und Berufen und der deutlichen Erhöhung des Mindestlohnes geschehen. Notwendig ist darüber hinaus eine verbesserte Regulierung am Arbeitsmarkt zur Verhinderung prekärer Arbeit durch Zurückdrängung von insbesondere befristeten Arbeitsverträgen und Leiharbeit. Damit können die systemrelevanten und notwendigen Tätigkeiten für interessierte Arbeitskräfte attraktiver werden. Das wäre auch ein Beitrag, um den in Teilbereichen vorhandenen Arbeitskräftemangel zu beheben und die daraus resultieren Belastungen für die vorhandenen Belegschaften zu verringern.

Soziale Ungleichheit wird zunehmen

Der von mehreren Forschungseinrichtungen erarbeitete und jetzt gemeinsam aktuell vorgelegte Sozialbericht 2021 gibt dazu bereits erste Hinweise. Dabei konnten bereits Daten aus der Phase der Pandemie nach dem ersten Lockdown 2020 berücksichtigt werden.

Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie wurden vor allem für Beschäftigte mit höherem Bildungsabschluss durch Kurzarbeit und Homeoffice abgefedert. 41 Prozent der Menschen mit hoher Schulbildung arbeiteten Ende März 2020 von zu Hause. Bei Personen mit niedriger Bildung waren es nur knapp 13 Prozent. (...) 3 Prozent der Personen mit niedrigem Einkommen wurden im Verlauf der ersten Phase der Pandemie Ende März bis Anfang Juli arbeitslos. Bei der oberen Einkommensgruppe kamen Übergänge in Arbeitslosigkeit kaum vor.“

Die soziale Ungleichheit wird also vermutlich in Zukunft noch zunehmen. Dabei konnte sich in Deutschland schon vor Ausbruch der Pandemie einer der größten Niedriglohnsektoren in Europa in den vergangenen Jahren etablieren. Daran hat auch die Einführung des Mindestlohnes nichts geändert.

Diese Ungleichheit in Deutschland wird mittlerweile von vielen Bürgern als Problem wahrgenommen. Allerdings setzt sich diese Wahrnehmung nicht um in ein Wahlverhalten zugunsten von Parteien, die das Thema Umverteilung prominent in ihrer Agenda vertreten. Die taz-Journalistin Ulrike Herrmann spricht vom „Selbstbetrug der Mittelschicht“. Die Mittelschicht hoffe, selbst einmal zur Gruppe der Vermögenden zu gehören. Diese für die ganz große Mehrheit sich niemals erfüllende Hoffnung führe zu einer Skepsis gegenüber Umverteilung und sogar gegenüber einer wirksamen Erbschaftssteuer auf die leistungslos erlangtes Vermögen von Millionären. Mit diesem aufstiegserhoffenden Blick nach oben ist zu erklären, warum Menschen, denen es nicht so gut geht und die über kein Vermögen verfügen, aus dem Blick geraten.

Das Thema ist und bleibt dennoch eine Herausforderung für alle, denen die gesellschaftliche Teilhabe aller Bürger und die Sicherung der Demokratie wichtig sind und die in sozialer Gerechtigkeit eine der Voraussetzungen dafür erkennen können. Das umso mehr, als heute schon sichtbar ist, dass die Digitalkonzerne wohl die großen Krisengewinner in der Pandemie sein werden, ohne dass die Politik in der Lage war, für eine wirksame Besteuerung dieser Konzerne in Europa zu sorgen.

Die Beschäftigten im Niedriglohnsektor und viele prekär Beschäftigte sind tagtäglich damit konfrontiert, für sich und ihre Familien das Auskommen und Einkommen zu sichern. Da bleibt wenig Kraft und Zeit, sich auch noch politisch für die eigenen Belange zu engagieren und wirksam in die öffentliche Diskussion einzubringen. Viele können nur noch ihre individuellen Interessen erkennen und nicht mehr die notwendige gegenseitige Solidarität als schlecht verdienende oder prekäre Beschäftigte, auch wenn das sehr wünschenswert und notwendig wäre. Manchen haben auch resigniert oder stärken mit ihrer Stimme – ihren eigenen Interessen schadend – nur noch die destruktiven Kräfte des Rechtspopulismus.

Deshalb ist unser aller Solidarität gefordert. Und zwar eine inklusive andere nicht ausschließende Solidarität, bei der auch diejenigen, die über ein gesichertes Einkommen verfügen, die akademisch gebildeten Mittelschichten und politisch engagierten Bürger, die über geeignete persönliche und mediale Ressourcen verfügen, in der Krise den Blick nicht nur nach „oben“, sondern auch nach „unten“ richten. Die Zivilgesellschaft, Gewerkschaften und Parteien sind gefordert, sich für mehr soziale Gerechtigkeit, für inklusive und nicht exklusive Solidarität und die Zurückdrängung unwürdiger Arbeit zu engagieren.

Info

Zu nennen wären hier u.a. das DGB-Projekt „Faire Mobilität“ und das Engagement von „Arbeit und Leben“ vor Schlachthöfen; ein Beispiel aus einem laufenden regionalen Projekt für das Zusammenwirken von Zivilgesellschaft und kirchlichen Einrichtungen und auf den Online-Podien vertretenen DGB-Gewerkschaften stellt die Veranstaltungsreihe „(Un-)Würdige Arbeit“ dar https://forumdrv.de/category/wuerdigearbeit/

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