In Würde arbeiten

Soziale Gerechtigkeit Wer will, dass Deutschland ein Land wird, „in dem wir gut und gerne leben“, muss den Niedriglohnsektor verkleinern und prekäre Arbeitsverhältnisse bekämpfen

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Es gibt zu viele Firmen, die jedes noch so kleine Schlupfloch nutzen, um ihren Profit auf Kosten der ArbeitnehmerInnen zu erhöhen
Es gibt zu viele Firmen, die jedes noch so kleine Schlupfloch nutzen, um ihren Profit auf Kosten der ArbeitnehmerInnen zu erhöhen

Foto: Ina Fassbender/AFP/Getty Images

Was ist eigentlich gute Arbeit? Es gibt in der wissenschaftlichen und politischen Diskussion eine ganze Reihe von Kriterien der Bewertung von guter und würdiger Arbeit. In vielen Untersuchungen und Diskusssionsbeiträgen verbindet sich mit guter Arbeit, ein regelmäßiges und verlässliches Einkommen zu haben und über einen sicheren Arbeitsplatz zu verfügen. Es geht aber auch um eine abwechslungsreiche, sinnhafte und nützliche Arbeit mit höchstmöglichem Schutz vor physischen und psychischen Beeinträchtigungen. Natürlich sollten auch die sozialen Beziehungen zu KollegInnen und VorgesetztInnen stimmen und die Möglichkeit zur Weiterentwicklung bestehen. (1)

Diese Kriterien guter und würdiger Arbeit sind für viele Tätigkeiten im Niedriglohnsektor und bei prekären Beschäftigungsverhältnissen wie befristeten Arbeitsverhältnissen, Leiharbeit, Werkverträgen und z.B. erzwungener Teilzeit ganz oder teilweise nicht erfüllt. Deshalb sollten gute Einkommen, gute Arbeit und gute Arbeitsbedingungen stärker politisch gestützt werden. Der Fokus der Politik sollte dabei endlich auf der Zurückdrängung des Niedriglohnsektors und prekärer Arbeit liegen, da in Deutschland mittlerweile einer der größten Niedriglohnsektoren in Europa existiert. (2)

Stärkung der Tarifbindung und begleitende Maßnahmen

Tarifverträge sind nach dem Tarifvertragsgesetz eine verbindliche Verabredung zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden bzw. einzelnen Unternehemen einer Branche. Ein Tarifvertrag gilt zwingend für Arbeitnehmer und Arbeitgeber, wenn sie tarifgebunden sind, d. h. Mitglied sind in den jeweils beteiligten Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden. Tarifverträge sind ein wichtiges Instrument zur Verbesserung der Einkommen und zur Gestaltung der Arbeitsbedingungen. Beschäftigte, die einem Tarifvertrag unterliegen, bekommen i.d.R. mehr Gehalt, arbeiten weniger Stunden und haben mehr Urlaub als andere Beschäftigte. Tarifverträge beschränken die Gehaltskonkurrenz nach unten und setzen Mindeststandards. Tarifverträge sind in den letzten Jahren aber auch unter Druck geraten und haben an Bedeutung verloren. Das hat mit dem Strukturwandel von der Industriegesellschaft zur digitalen Dienstleistungsökonomie und mit einem rückläufigen Mitgliedertrend und Machtverlust der Gewerkschaften zu tun. In Bezug auf den Mitgliedertrend haben die Gewerkschaften selbst noch genügend Hausaufgaben zu machen: Angebote und tarifpolitische Innovationen für junge und weibliche Beschäftigte, Fokussierung auf die Organisierung von Beschäftigten im Dienstleistungsbereich und insgesamt eine stärkere Erprobung von Organizing-Konzepten. Aber der Abschluß von Tarifverträgen soll und muss auch stärker politisch gestützt werden. Die Einführung des Mindestlohns war überfällig, hat aber den Niedriglohnsektor nicht wesentlich verkleinert. Auch in diesem Zusammenhang ist eine politisch gestützte Stärkung der Tarifbindung notwendig. Welche relativ leicht umsetzbaren Lösungsansätze sind denkbar und in der Diskussion? Nachfolgend schlage ich eine Auswahl entsprechender Ansätze vor: (3)

Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen

Gemäß Tarifvertragsgesetz sind Tarifverträge, die vom Arbeitsminister für allgemeinverbindlich erklärt werden, für Unternehmen einer Branche verpflichtend, auch wenn sie nicht durch eine Verbandsmitgliedschaft tarifgebunden sind. Im Tarifvertragsgesetzt gibt es allerdings Hemmnisse, die zu einer Absenkung der Anzahl von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen geführt haben. Deshalb sollte das Tarifvertragsgesetz in dem Sinne geändert werden, dass Allgemeinverbindlichkeitserklärungen zur Stabilisierung der Tarifautonomie und des Tarifvertragssystems erleichtert werden. Allgemeinverbindlichkeitserklärungen sind notwendig und sinnvoll in stark fragmentierten und dezentral organisierten Branchen, in bisher unterbewerteten Care-Berufen oder im Falle von Tarifflucht der Arbeitgeber. Dazu bedarf es auch der Abschaffung des bisher geltenden Vetorechts der Arbeitgeberseite. (4)

Tariftreue bei der Vergabe öffentlicher Aufträge und Staatshilfen

Öffentliche Aufträge von Bund, Land und Kommunen sollte nur noch an Unternehmen gehen, die einen Tarifvertrag anwenden. Bei den Zuschlagskriterien für die öffentlichen Auftraggeber darf nicht der niedrigste Preis und damit häufig leider die niedrigsten Einkommen für die Beschäftigten maßgeblich sein. Im Gegenteil sollten bei der Vergabe öffentlicher Aufträge neben der Tarifbindung weitere soziale Kriterien herangezogen werden, wie z.B. Ausbildungquote, Mitbestimmungsfragen und Verhinderung von Leiharbeit und Subunternehmerschaft. (5) Darüber hinaus hat auch im Falle von Staatshilfen an Unternehmen zu gelten, dass diese Tarifverträge zur Anwendung bringen und Beschäftigungs- und Standortgarantien geregelt sind. (6)

Förderung der Tarifbindung auf Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite

Für die Arbeitnehmerseite fehlt eine Regelung im Tarifvertragsgesetz zu Differenzierungsklauseln in Tarifverträgen. Differenzierungsklauseln, auch Bonusregelungen genannt, ermöglichen den Abschluß von Tarifverträgen mit Regelungen und Begünstigungen, die nur für Gewerkschaftsmitglieder gelten. Die Rechtssprechung hat dazu rechtliche Rahmenbedingungen gesetzt, aber es ist eine gesetzliche Klarstellung erforderlich. Unternehmen könnten steuerliche Vergünstigungen gewährt werden, wenn sie tarifgebunden sind oder sich zur Einhaltung von Entgeltsätzen für die Beschäftigten verpflichten, die auf der Höhe von einschlägigen Tarifverträgen liegen. (7)

Tarifliche Aufwertung systemrelevanter Berufsgruppen

Durch tarifvertraglich abgesicherte Sonderzahlungen und Rahmenregelungen zur Arbeitsbelastung und zum Gesundheitsschutz sind systemrelevante Berufsgruppen aufzuwerten. Das betrifft insbesondere Pflegeberufe in der Kranken- und Altenpflege, Erziehungs- und Sozialberufe, aber auch Verkaufsberufe und Reinigungskräfte. Die durch einen hohen Frauenanteil gekennzeichneten Berufsgruppen sind systemrelevant und unterbezahlt bei gleichzeitig problematischen Arbeitsbelastungen. Insbesondere sind auch die durch die Politik beeinflußbaren Rahmenbedingungen für die Ausbildung, die personelle Ausstattung und die Budgets in den Unternehmen dieser Branchen zu verbessern. (8)

Kollektive Nachwirkung von Tarifverträgen

Bestehende Tarifverträge haben im Falle von Unternehmensausgliederungen für alle bisherigen Arbeitnehmer des Unternehmens kollektiv weiterzugelten. Diese Nachwirkung soll solange wirksam sein, bis eine neuer Tarifvertrag für den ausgegliederten Teil des Unternehmens an die Stelle des alten Tarifvertrages tritt. (9)

Begleitende Maßnahmen: Weniger Mini-Jobs, Erhöhung des Mindestlohnes und Abschaffung von Hartz-IV

Schlechte Bezahlung und prekäre Arbeitsbedingungen sind besonders häufig bei Mini-Jobs anzutreffen. Viele Beschäftigte sitzen in dem System aus Mini-Jobs fest ohne Perspektive auf berufliche Weiterentwicklung und höhere Einkommen. Wegen zu entrichtender Steuern und Sozialversicherungsabgaben auf sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse müssten Beschäftigte darüber hinaus einen kaum erreichbaren Sprung bei den Bruttoeinkommen machen, damit damit es sich für sie einkommensmäßig lohnt. (10) Bis auf nachvollziehbare Ausnahmen (ggf. bei Nebenjobs für Studenten und Rentner) sollten Mini-Jobs in reguläre sozialversicherungspflichtige Teil- und Vollzeit-Job umgewandelt werden. Dazu müssten die gesetzlichen Regelungen restriktivere Vorgaben beinhalten. Notwendig ist auch eine Erhöhung des Mindestlohns und eine Ausweitung des Mindestlohns auf Solo-Selbstständige.

Die Zumutbarkeitsregeln und die Höhe der Regelsätze des Hartz-IV-Systems haben sich leider zu einer Stütze des Niedriglohnsektors entwickelt. Wer nach Jahren harter Arbeit seinen Job verliert und vielleicht schon nach 1 Jahr kein Arbeitslosengeld I mehr erhält und den Regularien des Hartz-IV-Systems der Anrechnung von erarbeitetem kleinen Vermögen etc. unterworfen ist, sieht nicht wirklich seine Lebensleistung gewürdigt. Darüber hinaus löst eine solche Drohkulisse bei Arbeitnehmern und in den Belegschaften Druck aus und macht sie auch erpressbar, unzumutbare Arbeitsbedingungen und Niedriglöhne zu akzeptieren. Wenn man davon aus geht, dass nur gute Arbeit und gut bezahlte Arbeit und nicht jede Arbeit besser als keine Arbeit ist, dann sollte das Arbeitslosengeld I auch für Qualifizierungsmaßnahmen verlängert und eine Grundsicherung eingeführt werden.

Zurückdrängung prekärer Arbeit

Unwürdige Arbeitsbedingungen sind häufig anzutreffen bei atypischen Arbeitsverhältnissen. Befristete Arbeitsverträge, erzwungene Teilzeit, Mini-Jobs, Leiharbeit und Werkverträge sind keine angemessenen Rahmenbedingungen für gute Arbeit. Deshalb sollten prekäre Arbeit und atypische Beschäftigungsverhältnisse zurückgedrängt werden. (11)

Befristungen einschränken

Die Anzahl sachgrundloser Befristungen ist in den letzten Jahren in allen Alters- und Qualifikationsgruppen gestiegen, bei den Neueinstellungen ist sogar fast jede 2. Stelle befristet. Befristungen bedeuten für die Beschäftigten fehlende Planungssicherheit und erschweren die Familiengründung und größere Anschaffungen. Befristet Beschäftigte verdienen häufiger ein Einkommen an der Niedriglohnschwelle. Befristungen haben sich auch zu einer verlängerten Probezeit entwickelt und machen viele zu Beschäftigten 2. Klasse mit ausgehöhltem Kündigungsschutz und einer schlechteren Stellung und Perspektive im Unternehmen. Sachgrundlose Befristungen sollten deshalb abgeschafft und der Katalog der Sachgründe für Befristungen auf absolute Ausnahmefälle eingegrenzt werden. Für befristet beschäftigte Arbeitnehmer ist ein Anspruch auf bevorzugte Einstellungen zu schaffen. (12)

Reduzierung von Leiharbeit

Leiharbeitnehmer arbeiten meist unter schlechteren Bedingungen als fest angestellte Beschäftigte. Leiharbeit ist auch mit großer Unsicherheit für die Beschäftigten verbunden und gewährleisten keinen kontinuierlichen Beschäftigungsverhältnisse, weder in dem Unternehmen, an das ausgeliehen wird, aber auch nicht durchgängig in den Verleihfirmen. Die Reduzierung von Leiharbeit ist dringend geboten. Leiharbeit sollte nur noch in dringenden Ausnahmefall und für nachgewiesene Auftragsspitzen erlaubt sein. Benachteiligungen zwischen Stammbelegschaften und Leiharbeitnehmern beim Einkommen und bei den Arbeitsbedingungen sind abzuschaffen.

Werkverträge nicht im Kerngeschäft

Im Kerngeschäft der Industriebetriebe und Dienstleistungsunternehmen sollten keine Werkverträge abgeschlossen werden können und kein Fremdpersonal, für das das jeweilige Unternehmen keine Verantwortung trägt, zum Einsatz kommen.

Diese vorgeschlagenen Lösungsansätze wären ein Einstieg in eine Arbeitspolitik, die den Niedriglohnsektor zurückdrängt und die Einkommen vieler schlecht bezahlter Beschäftigter erhöhen wird. Darüber hinaus kann die vorgeschlagene Regulierung der atypischen und prekären Arbeitsverhältnisse die vorhandenen Abstiegsängste vieler Beschäftigter z.B. in den Dienstleistungsbranchen und in den Randbelegschaften nehmen. Also Gründe genug, damit eine Neuausrichtung fortschrittlicher Politikkonzepte einzuleiten.

Literatur

1)vgl. DGB-Index Gute Arbeit; Report 2019; „Arbeiten am Limit – Themenschwerpunkt Arbeitsintensität“

https://index-gute-arbeit.dgb.de/++co++07123474-1042-11ea-bc98-52540088cada

2)vgl. Marcel Fratzscher „In der Niedriglohnfalle“

https://www.diw.de/de/diw_01.c.622582.de/nachrichten/in_der_niedriglohnfalle.html

3)vgl. DGB „Maßnahmen zur Stärkung der Tarifbindung“

https://www.dgb.de/downloadcenter/++co++f6e70cfa-afac-11e9-ac40-52540088cada

4)vgl. DGB „70 Jahre Tarifvertragsgesetz – Allgemeinverbindlichkeit weiter erleichtern“

https://www.dgb.de/themen/++co++66535a34-5cfc-11e9-8421-52540088cada

5)vgl. DGB „Öffentliche Aufträge nur noch an tariftreue Unternehmen vergeben“

https://www.dgb.de/themen/++co++66535a34-5cfc-11e9-8421-52540088cada

6)vgl. DGB „Staatshilfen nur bei Tariftreue und Beschäftigungssicherung“

https://www.dgb.de/themen/++co++6c745078-bd0c-11ea-a455-525400e5a74a

7)vgl. DGB „Maßnahmen zur Stärkung der Tarifbindung“ s.o.

8)vgl. DGB Index Gute Arbeit „Weiblich, systemrelevant, unterbezahlt“

https://index-gute-arbeit.dgb.de/++co++a8b3b430-7c89-11e9-b866-52540088cada

9)vgl. DGB „Maßnahmen zur Stärkung der Tarifbindung“ s.o.

10)vgl. Marcel Fratzscher „In der Niedriglohnfalle“ s.o.

11)vgl. DGB „Pekäre Beschäftigung – Herausforderung für die Gewerkschaften“

https://www.dgb.de/downloadcenter/++co++1ba31144-6744-11e9-b108-52540088cada

12)vgl. DGB „Befristete Beschäftigung – Politik muß endlich handeln“

https://www.dgb.de/themen/++co++61659414-3c27-11ea-a6e6-52540088cada

Blog:

https://herbertbludauhoffmann.home.blog/

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