Bündnistreue als Staatsräson

WESTBINDUNG UND SONDERWEGE Deutschland hat sich aus wohlverstandenem Eigeninteresse an der Kosovo-Intervention beteiligt. Alles andere wäre politischer Hazard gewesen

Man muß nicht unbedingt der Rhetorik humanitärer Intervention folgen, um die Entscheidung für das militärische Eingreifen der Nato im Kosovo-Konflikt und die deutsche Beteiligung an diesem Eingreifen für richtig zu halten. Es gibt gute Gründe für die Annahme, daß der Entscheidungsprozeß in NATO und Bundesregierung nicht nur jenen Überlegungen gefolgt ist, mit denen er hinterher öffentlich verteidigt und gerechtfertigt wurde. Ob die Ersetzung einer genuin politischen durch eine rein moralische Argumentation klug und weitsichtig war, bleibt fraglich. Man kann darin auch ein Zeichen politischer Unsicherheit sehen. Offenbar aber sind damit die mentalen Grundbefindlichkeiten der deutschen Öffentlichkeit getroffen worden, denn die anschließend geführte öffentliche Debatte ist diesen Vorgaben weitgehend gefolgt.

Die Verschwiegenheit der Politik hinsichtlich ihrer Entscheidungsgrundlagen hat freilich ein aufgeregtes Gerede begünstigt, in dem Verschwörungsphantasien ins Kraut geschossen sind: über strategische Interessen der USA auf dem Balkan, über Einflußnahmen der Rüstungsindustrie auf politische Entscheidungen und schließlich über währungspolitische Störmanöver der USA gegen den Euro. Solchen Spekulationen liegt eine richtige Intuition zugrunde: Wo penetrant von moralischen Verpflichtungen die Rede ist, müssen noch andere Motive im Spiele sein.

Es wäre für die politische Kultur Deutschlands wünschenswert, wenn die Kontroverse über Motive und Gründe der Kosovo-Intervention zu einer Debatte über Interessen und Leitideen deutscher Außenpolitik würde, eine Diskussion, die seit 1991 ansteht, aber nicht wirklich geführt worden ist. Da ist zunächst das, was man die geopolitische Selbstverortung Deutschlands nennen kann. Gemeint ist damit die Verbindung aus geographischer Lage und politischen Entscheidungen, historischer Erfahrung und kultureller Zugehörigkeit, durch die eine politische Gemeinschaft ihren politischen Standort festlegt. Sie findet diesen keineswegs bloß vor, sondern wählt ihn im Rahmen des Vorgegebenen.

So liegt das vereinigte Deutschland auf der Grenzlinie zwischen West- und Mitteleuropa, aber welche Konsequenzen es daraus zieht, die einer engen Bindung an den Westen oder einer offensiven Ausnutzung der Mittellage, ist eine immer wieder neu zu treffende politische Entscheidung - und die Entscheidung für die deutsche Beteiligung an der Kosovo-Intervention war - unter anderem auch - eine Form der Selbstverortung deutscher Politik.

Dabei ist die geographisch-kulturelle Mitte eine Lage, die je nach den politischen Umständen komfortabel oder riskant ist. In einem sich wirtschaftlich wie politisch integrierenden Europa ist die Mitte eine privilegierte Position. Freilich muß man sie klug und umsichtig handhaben, um sie wirklich nutzen zu können. Ganz anders stellen sich die Dinge dar, wenn der Kontinent politisch, ideologisch, konfessionell oder wie auch immer geteilt bzw. gespalten ist. Dieser Konstellation hat sich Deutschland vom Dreißig jährigen Krieg bis in unser Jahrhundert, bis 1989/90, immer wieder gegenübergesehen, es hat sie ebenso durchlitten wie auszunutzen versucht, durchweg mit katastrophalen Folgen. Deutschland hat darum mehr noch als seine Nachbarn ein vitales Interesse an der politischen, wirtschaftlichen und sozio-kulturellen Integration des Kontinents.

Im 16./17. Jahrhundert entwickelte sich die konfessionelle Spaltung des Kontinents in einen protestantischen Norden und einen katholischen Süden, und die Konflikte, die an den Trennlinien und Diffusionszonen entstanden, sind zusammen mit dem eher west-östlichen Gegensatz zwischen den Herrschaftsansprüchen der Bourbonen und der Habsburger zwischen 1618 und 1648 vor allem in Deutschland ausgefochten worden. Das wiederholte sich als West-Ost-Gegensatz zwischen dem revolutionär-rationalistischen Frankreich und dem konservativ-traditionalistischen Rußland in der Zeit der napoleonischen Kriege, und erneut verliefen die Trennlinien und Diffusionszonen mitten durch Deutschland: in der Westbindung der Rheinbundstaaten und der Ostbindung Preußens und Österreichs. Nach Napoleons russischem Fiasko Ende 1812 wurde Deutschland erneut zum Kriegsschauplatz, auf dem die europäischen Gegensätze ausgefochten wurden.

Während des ganzen 19. Jahrhunderts haben Liberale und Demokraten in Deutschland an der frankreichbezogenen Westorientierung festgehalten: Frankreich war das Mutterland der Revolution, der Menschen- und Bürgerrechte, das Ursprungsland der Freiheit. Rußland dagegen war der Hort der Reaktion, und als der galt es auch noch, als sich im Sommer 1914 die deutsche Linke mit großer Mehrheit für die Bewilligung der Kriegskredite entschied. Der gallische Hahn, auf dessen neuerliches Krähen auch Karl Marx seine Hoffnungen gesetzt hatte, war Ausdruck der nach Westen gerichteten Hoffnungen und Erwartungen der deutschen Linken. Vom russischen Doppeladler hingegen hat Marx nichts anderes erwartet als die Aufrechterhaltung des Status quo, wenn nicht Schlimmeres. Seit den 50er Jahren unseres Jahrhunderts, spätestens seit der Niederschlagung des Prager Frühlings, war die politische Orientierung der westeuropäischen Linken, die sich mit der Oktoberrevolution kurzfristig geändert hatte, wieder die des 19. Jahrhunderts: im Westen der Pariser Mai, im Osten eine verknöcherte Gerontokratie, die ihre Macht notfalls auch durch den Einsatz von Panzern sicherte.

Die meisten Politiker der rot-grünen Koalition, die im März diesen Jahres nicht nur der militärischen Intervention der Nato im Kosovo, sondern auch der deutschen Beteiligung daran zustimmten, haben ihre politische Sozialisation unter dieser Konstellation erfahren: Westbindung war für sie nicht mehr bloß die Fortsetzung der Politik Adenauers, die lange Zeit von links als »Restauration des Kapitalismus« kritisiert worden war, sondern darüber hinaus wurde sie - allmählich, aber um so verbindlicher - zum Ausdruck einer Gemeinsamkeit der Werte und Ziele, in der man sich als Deutscher politisch heimisch fühlen konnte. Diese nach Westen gerichtete demokratisch-republikanische Grundorientierung gilt übrigens auch - entgegen Gysis anderslautendem Urteil - für die westdeutschen Konservativen: Auf jeden Fall gilt sie für Helmut Kohl und jüngere Generationen; kaum gelten dürfte sie für Alfred Dregger, aber der war ja bekanntlich auch gegen die deutsche Beteiligung an der Kosovo-Intervention.

Die geopolitischen Interessen Deutschlands, die Westbindung zur Staatsräson erheben, und die politische Grundorientierung nunmehr schon mehrerer Generationen (west)deutscher Politiker stimmen also über ein, und das ist ein in der deutschen Geschichte seltener Glücksfall. Die politische Erfolgsgeschichte der »Bonner Republik« resultiert nicht zuletzt aus diesem Umstand. In den Jahrzehnten und Jahrhunderten davor sind beide oft genug nicht kongruent gewesen, was ein ums andere Mal zu inneren Konflikten, auswärtigen Interventionen, schließlich zum Bürgerkrieg geführt hat. Gysis Vorschlag einer bündnisinternen Koalition mit Griechenland und Italien, der den Kosovo-Einsatz der NATO wohl unmöglich gemacht hätte, verfehlt nicht nur die vitalen Interessen Deutschlands, sondern verkennt auch die zentralen Voraussetzungen einer stabilen Friedensordnung in Europa.

Zur Durchsetzung der Westbindung in der deutschen Politik ist freilich hinzuzufügen, daß - und das gilt auch für das vereinigte Deutschland - diese Entwicklung erst infolge einer deutlichen geographischen Westverschiebung Deutschlands, der Abtretung bald eines Viertels seines Gebietes im Osten und der gewaltsamen Bevölkerungsverschiebung, möglich gewesen ist. Das Bismarckreich erstreckte sich offenkundig zu weit nach Osten, um gegen die Versuchung einer Ost und West gegeneinander ausspielenden Mittellage gefeit gewesen zu sein. Rapallo war dafür das Symbol. Aber womöglich war dies auch weniger ein Problem der Geographie als der politisch-kulturellen Prägung der Eliten.

Hieraus lassen sich zugleich einige Schlußfolgerungen zum Verlauf der Geschichte Jugoslawiens in diesem Jahrhundert ziehen. In gewisser Hinsicht hatte es, solange es Bestand hatte, eine ähnliche geopolitische Mittellage inne wie das Deutsche Reich bis 1945, nur daß die unterschiedlichen politisch-kulturellen Prägungen der Eliten in den einzelnen Landesteilen sehr viel stärker divergierten. Nach 1945 hat Jugoslawien von seiner Mittelrolle und Zwischenstellung profitiert, ließ es sich der Westen doch einiges kosten, das Land als blockfreie Macht ökonomisch zu stabilisieren und so die Sowjetunion von den jugoslawischen Mittelmeerhäfen fernzuhalten. Aber die gut vierzig Jahre, während derer Jugoslawien diese privilegierte Lage eingenommen hat, sind nicht genutzt worden, um die inneren Kohäsionskräfte zu stärken. Im Gegenteil, man entfernte sich immer weiter von vergleichbaren Lebensverhältnissen im Lande. So brach Jugoslawien auseinander, als das äußere Korsett der Blockkonfrontation verschwand.

Anfang der 90er Jahre hatte Jugoslawien keinen einheitlichen Willen mehr. Einige wollten so schnell wie möglich in die EU, andere nicht. Westbindung stand gegen Ostbindung bzw. Vorstellungen von der Mittellage als Sonderweg. Nicht an äußeren Eingriffen, sondern an seiner inneren Zerrissenheit und Uneinigkeit ist Jugoslawien zerbrochen. Daß dann unterschiedliche Nationalismen Kompensationsfunktionen eingenommen haben, ist wenig erstaunlich. Aber spätestens die umfassende und gewaltsame ethnische Säuberung machte die Intervention von außen erforderlich - gleichgültig, ob mit oder ohne UNO-Mandat. Hätte sich im Kosovo nämlich gezeigt, daß sich ethnische Säuberungen politisch lohnen, so hätte diese Politik sehr bald in anderen Balkanstaaten Nachahmer gefunden, und was Ende 1998 (also deutlich vor der Nato-Intervention) ein noch regional begrenzter Konflikt mit schätzungsweise immerhin 1.500 Toten und bereits 300.000 Vertriebenen war (was allein schon die Behauptung widerlegt, erst die Nato-Bombardements hätten die Vertreibungen und Massaker ausgelöst), wäre ohne sie zum Flächenbrand einer ganzen Region geworden.

Als man im Westen begriff, daß man aus den Vorgängen im Kosovo den Schluß ziehen konnte, aus ethnischen Vertreibungen lasse sich politisches Kapital schlagen oder dies könne von den Nachbarn zumindest so wahrgenommen werden, mußte man MilosŠevic´ entweder politisch stoppen oder militärisch in die Knie zwingen. Daran hat sich Deutschland aus wohlverstandenem Eigen interesse mit erheblichen militärischen Kräften beteiligt. Allen Unkenrufen aus den ersten Wochen des Krieges zum Trotz hat sich die NATO ohne den Kampfeinsatz von Bodentruppen durchsetzen können. Und sie hat sich als Bündnissystem nicht auseinanderdividieren lassen. Wäre die deutsche Politik im März dieses Jahres Gysis Ratschlägen gefolgt, wäre aller Wahrscheinlichkeit nach auf dem Balkan eine Kette von Vertreibungen in Gang gekommen, die schließlich Interventionen ganz anderen Ausmaßes zur Folge gehabt hätten - freilich unter den Bedingungen eines politisch geschwächten Bündnisses. Eine Politik, die dorthin geführt hätte, wäre politischer Hazard gewesen.

Unser Autor ist Professor Für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin

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