Als vor einigen Wochen eine Multimedia-Firma ihr Produkt namens "Krankheitssimulator" auf den Markt brachte, war die Aufregung groß. Die CD-ROM wurde in kürzester Zeit ein Bestseller und stieg auf in die Top Twenty der bestverkauften CDs. Sie versorgt Arbeitsmüde mit Symptomen: Zur Vorbereitung auf den Arztbesuch einfach die CD einlegen, unter den 15 Krankheitsbildern ein Leiden auswählen, die Symptome einstudieren und dann zum Arzt gehen! "Es ist so einfach, eine Krankheit zu simulieren", lockte die Firma, die ihr erfolgreiches Erzeugnis als "Spaßprodukt" verstanden wissen wollte. Nach energischen Protesten von Ärzten und Krankenkassen, verbunden mit der Drohung, die Berliner Staatsanwaltschaft einzuschalten, sah sich die Firma allerdings gezwungen, ihre CD vom Markt zu nehmen.
Schon einmal, 1980, sorgte eine kleine, praktische Broschüre, deren Titel Wege zu Wissen und Wohlstand eher an Bücher aus der esoterischen Ecke erinnerte, im westlichen Deutschland für Aufregung. Unter dem Motto "Lieber Krankfeiern als Gesund schuften!" gab der Ratgeber allen notorischen "Blaumachern" oder solchen, die es werden wollten, zahlreiche Tipps und Anregungen. Auch damals hagelte es in der Öffentlichkeit Proteste. Der Verbreitung dieser Broschüre tat das keinen Abbruch.
Das Phänomen "Blaumachen" erregt die Gemüter. Eine Mischung aus Wut, Empörung und moralischer Verdammung bleibt seit Jahrzehnten die Gleiche. In der harmlosen Variante gelten "Blaumacher" als unkollegial, weil sie ihren Kollegen Mehrarbeit aufbürden oder als "zu sensibel" beziehungsweise "zu wehleidig", weil sie jedes "Zipperlein" zum Arzt treibt. In der härteren Variante gelten "Blaumacher" als Drückeberger, Simulanten, Scheinkranke und als schamlos, weil sie das soziale Netz ausnutzen.
"Blaumachen" ist ein alltägliches Phänomen. Jeder kennt es, aber offen darüber zu reden kommt einem Tabubruch gleich. Dabei häufen sich bei Arbeitsgerichten die Fälle, in denen der Betrugsvorwurf "Krankfeierei" zur Verhandlung ansteht. Und laut Bundesverband Deutscher Detektive dienen inzwischen 15 bis 20 Prozent aller Aufträge, die an Detekteien erteilt werden, der Observierung fehlender Beschäftigter. Zahlreiche Unternehmensberater haben sich auf betriebliche Fehlzeiten und "Blaumachertum" spezialisiert. Sie glauben, "Blaumachen" sei ein Problem mangelnder Motivation. Der Berater Peter Nieder schätzt den Anteil "motivationsbedingter" Erkrankungen auf sechs Prozent, die Psychologen Pryzigodda und Arenz gehen von 20 Prozent aus, und der Schweizer Fehlzeitenberater Michael Schmilinsky schätzt den Anteil gar auf 50 Prozent. All diese Zahlen beruhen auf Mutmaßungen und dienen eher dazu, deutschen Unternehmern die Notwendigkeit zu verdeutlichen, gegen gutes Geld einen Fehlzeitenberater zu beschäftigen. Nachprüfbare Zahlen existieren nicht. Feststellen lässt sich lediglich die unterschiedliche Höhe des Krankenstandes in den verschiedenen Branchen. Laut "Fehlzeiten-Report" der AOK liegt die öffentliche Verwaltung mit 6,4 Prozent an der Spitze, gefolgt vom Baugewerbe mit 6,0 Prozent. Das Schlusslicht bilden Banken und Versicherungen mit 3,4 Prozent.
Blaue Färber
"Blaumachen" gehörte zur natürlichen Arbeitskultur der mittelalterlichen Färbergesellen. Wichtigster Farbstoff war Indigo oder der weniger intensive Färberwaid. Zur Herstellung wurden dessen Blätter in Kübeln mit menschlichem Urin vergärt. Alkohol verstärkte den Gärungsprozess. Aber Alkohol war teuer. Also tranken ihn die Färber, um ihren Urin damit anzureichern. Meist sonntags wurden die Stoffe für mindestens zwölf Stunden in das Färbebad eingetaucht. Die blaue Farbe zeigte sich jedoch erst, nachdem sie längere Zeit an der Luft hingen. Und so wusste jeder: Immer wenn die Färbergesellen betrunken daniederlagen, warteten Sie darauf, dass die Tücher blau wurden.
In der mittelalterlichen Gesellschaft gehörte der "blaue Montag" zur Festtagskultur. An diesen Tagen wurde ausgiebig gegessen und getrunken, getanzt und gefeiert. Erst die kapitalistische Arbeitsorganisation mit Fabrikglocke und -uhr zwang die Menschen in einen neuen Zeit- und Arbeitsrhythmus. Allmählich entstand die kapitalistischer Fabrikdisziplin und mit ihr die moralische Verurteilung des "Blaumachens" sowie des "blauen Montags".
"Blaumachen" und Wertewandel
Viele Unternehmen gehen unterschwellig von einer schlechten Arbeitsmoral ihrer Mitarbeiter aus. Als Indiz dient ihnen der Krankenstand. Oft folgt dann ein Szenario im Betrieb, das nach folgendem Muster abläuft:
Phase 1: Einige Fälle von tatsächlichem oder vermutetem "Blaumachertum" werden entdeckt. Doch die Geschäftsführung argwöhnt eine erheblich höhere Dunkelziffer. Handlungsbedarf scheint also geboten. Betriebs- und Personalräte nehmen ihre gewohnte Verteidigungsstellung ein und versuchen, das Phänomen mit der Feststellung "Wer krank ist, ist krank!" aus der Welt zu reden. Schließlich einigt man sich aber doch auf ein Maßnahmepaket.
Phase 2: Die Umsetzung des Maßnahmepakets wird an Personalabteilung und mittleres Management delegiert. Die Beschäftigten bleiben passiv oder befürworten das Programm. Ihnen bleibt auch keine andere Wahl, denn wer sich im Betrieb zum "Blaumachen" bekennt, kann sich ganz schnell einen neuen Arbeitgeber suchen.
Phase 3: Es wird ein Programm aufgelegt. Motto: Mehr Motivation und bessere Kommunikation - so die moderne Variante. In der altväterlichen Version hieß es: Wir wollen unseren Beschäftigten Fürsorge angedeihen lassen. Das Programm reicht von vertrauensbildenden Maßnahmen über Kontrollen bis hin zu Sanktionen und wird meist flankiert von Gesprächsschulungen für Vorgesetzte.
Phase 4: Der Krankenstand sinkt tatsächlich. Die Geschäftsführung schreibt sich den Erfolg auf ihre Fahnen. Ob der gesunkene Krankenstand lediglich der Angst um den Arbeitsplatz geschuldet ist, interessiert zu diesem Zeitpunkt niemanden.
Phase 5: Nach einer gewissen Zeit steigt der Krankenstand wieder. Warum, weiß keiner so genau oder wird nicht ergründet. Manche Firmenleitung zieht daraus die Schlussfolgerung, dass man eben nicht konsequent genug gegen die "Blaumacher" vorgegangen sei. Dann wird das Programm mit neuem Motto wieder aufgelegt.
"Blaumachen" und betriebliche Arbeitskultur
Der gesellschaftliche und betriebliche Umgang mit dem Phänomen ist Ausdruck einer tiefsitzenden Furcht. "Blaumachen" gerät zum Symbol für einen ständig fortschreitenden Wertewandel unter den Beschäftigten. Dieser Wandel von Erwartungen und Einstellungen ist im gesellschaftlichen Umfeld der Unternehmen schon seit den siebziger Jahren Thema und wird mal mit "Konsum-" oder "Freizeitgesellschaft", neuerdings mit dem Begriff "Erlebnis-" oder "Spaßgesellschaft" umschrieben. Wie immer die Etikettierung lautet, befürchtet wird, dass dieser Wandel das traditionelle "bürgerliche", auf Arbeit als Lebensziel ausgerichteten Wertesystems deutlich schwächt und damit die vorherrschende Arbeitskultur verändert.
"Offiziell" die Arbeitszeit abstempeln und anschließend weiter arbeiten, Arbeit mit nach Hause nehmen, "Dienst nach Vorschrift", widerspenstiges Verhalten gegenüber Vorgesetzten, Bummelei, der offizielle und inoffizielle Umgang mit Alkohol oder das in Büros und Verwaltungen so beliebte "Moorhuhn-Jagen" - all das sind Phänomene, die sich mit dem Begriff Arbeitskultur beschreiben lassen. "Blaumachen" unterscheidet sich davon vor allem durch seine gesellschaftliche und betriebliche Stigmatisierung.
Doch entgegen der in der Managementliteratur weit verbreiteten Botschaft, wonach Arbeit mit Ausleben von Kreativität, Erleben von Lustgefühlen und Karrieremöglichkeiten gleichzusetzen ist, erleben die Beschäftigten ihre Arbeit als Herausforderung und Zumutung gleichermaßen. Als Herausforderung, die eigenen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bedürfnisse zu entwickeln ebenso wie als Zumutung im Sinne einer Einengung der persönlichen Entfaltung und des Erlebens von Arbeitsleid.
Daher wird seit einigen Jahren darauf hingewiesen, dass "Blaumachen" Ausdruck eines Gesundheitsverhaltens der Beschäftigten in der Arbeitskultur sein kann. Schon seit einigen Jahren weisen Arbeitsmediziner auf die krankheitsvorbeugende Wirkung des "Blaumachens" hin. In Schweden erklären Arbeitsmediziner das Phänomen mit der "coping-Theorie" (englisch: to cope - aushalten, ertragen). Danach setzt sich insbesondere in Phasen steigender Nachfrage und Konjunktur jeder im Betrieb persönlich ein. Das geht einige Monate gut, bis auch bei denen, die im engeren medizinischen Sinne gesund sind, die Spannkraft nachlässt. Man hält noch einige Zeit durch, später wird es für alle kritisch. Viele Arbeitnehmer achten dann verstärkt auf die Signale ihres Körpers und bleiben kurze Zeit vom Arbeitsplatz weg, um vorzubeugen. Manche spannen aus und nehmen sich einige Krankheitstage. Wer das tut, handelt nach Meinung der schwedischen Forscher genau richtig.
Nicht nur Gewerkschafter und Sozialforscher, auch Arbeitsmediziner widmen sich in jüngster Zeit einem (neuen) Phänomen: Psychische Belastungen und Beanspruchungen in der Arbeitswelt nehmen in gravierendem Ausmaß zu - insbesondere in qualifizierten Angestelltenbereichen. Am deutlichsten zeichnet sich diese Entwicklung in der IT-Branche und der New Economy ab. Gerade diese Bereiche sind geprägt von flexiblen Arbeits- und Beschäftigungsformen. Die gestellten Arbeitsanforderungen wie Selbstständigkeit und Wahrnehmung eigener Handlungsspielräume werden dabei grundsätzlich positiv bewertet. Doch die Diskussion über die Folgen dieser Entwicklung schwankt zwischen Euphorie und Ablehnung: IT-Manager und manche Unternehmensberater begrüßen diesen Trend als Meilenstein zu mehr Selbstverwirklichung und Ausleben von Kreativität im Arbeitsleben. Kritiker warnen dagegen vor dem Arbeiten ohne Ende und einer zunehmenden Tendenz zur (Selbst-)Ausbeutung.
Die Beschäftigten dieser Branche zeichnen sich auch durch ein hohes Maß von zeitlicher Verfügbarkeit, Eigeninitiative, Selbstorganisation und insbesondere Leistungsbereitschaft sowie Belastbarkeit aus. Sie empfinden ihre Arbeit als persönliche Herausforderung und entwickeln zeitweise einen regelrechten Lustgewinn, in dem sich der Stolz im Arbeitsprozess und zugleich der berufliche Erfolg ausdrücken. Ihre interessante Tätigkeit und das damit verbundene Sozialprestige lassen sie unter Umständen auch dann noch zur Arbeit gehen, wenn sie tatsächlich krank sind und sich eigentlich auskurieren müssten.
Arbeit gerät unter diesen Bedingungen zu einer Leidenschaft und bestimmt das Leben auf eine Weise, die im wahrsten Sinne des Wortes "Leiden schafft". Die Fähigkeit "blauzumachen", wäre für solche Menschen durchaus gesundheitsfördernd und trüge dazu bei, ihrer Arbeit wieder ein gesundes Maß zu geben.
"Blaumachen" ist nur eine von mehreren Formen der Abwesenheit von der Arbeit
Die betriebliche Diskussion um motivationsbedingte Fehlzeiten fixiert sich auf die Konstellation, dass Menschen gesund sind, aber ihrem Arbeitsplatz fernbleiben. In der schwedischen Literatur gibt es die mit der Abwesenheit vom Arbeitsplatz negativ besetzten Etiketten nicht. Auch im angelsächsischen Sprachraum wird der Begriff "absenteeism" schlicht im Sinne von Abwesenheit gebraucht und schließt alle Formen der Abwesenheit vom Arbeitsplatz ein. Dies berücksichtigt, dass zwischen "objektiv krankheitsbedingten" und "Krankheit vortäuschenden" Fehlzeiten eben nicht genau unterschieden werden kann. Vor allem soll aber mit dieser Definition auch die psychische Abwesenheit erfasst werden: Der Beschäftigte ist zwar an seinem Arbeitsplatz anwesend, aber psychisch entweder nicht leistungsfähig oder nicht leistungswillig.
Auch diese Konstellation ist eine Art von Absentismus. Tatsächlich sind psychische Formen der Abwesenheit während der Arbeit, zu denen auch Resignation und reduziertes Engagement im Arbeitsalltag zählen können, möglicherweise viel bedeutender (und für die Unternehmen teurer!) als die physische Abwesenheit in Form des "Blaumachens". Daher ergibt die moralische Verurteilung des "Blaumachens" keinen Sinn, denn der Unterschied zwischen beiden Konstellationen besteht lediglich darin, dass die eine im Betrieb, die andere außerhalb des Betriebes stattfindet.
Ist es deshalb nicht sinnvoller, "Blaumachen" anderen Formen der Abwesenheit gleichzustellen und im Betrieb auch so zu diskutieren? Ein solches Verständnis des "Blaumachens" könnte dazu beitragen, die negative Stigmatisierung dieses Phänomens zu beenden und die betriebliche Diskussion um Fehlzeiten zu versachlichen.
Hermann Bueren ist Autor des Buches Weiteres Fehlen wird für Sie Folgen haben! das demnächst beim K. Kellner Verlag (160 Seiten, 29,80 DM) erscheint.
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