„Enkel des Booms“

Interview Michi Strausfeld denkt, dass wir gerade heute von lateinamerikanischer Literatur viel lernen können
Ausgabe 40/2019
Herr Borges hat es sich ein bisschen gemütlich gemacht. Seine Nachfolger sind umtriebiger
Herr Borges hat es sich ein bisschen gemütlich gemacht. Seine Nachfolger sind umtriebiger

Foto: Daniel Carcia/AFP/Getty Images

Michi Strausfeld gilt als wichtigste Kennerin lateinamerikanischer Literatur in Deutschland. Ihr neues Buch Gelbe Schmetterlinge und die Herren Diktatoren. Lateinamerika erzählt seine Geschichte (Fischer, 576 S., 26 €) erzählt anhand zentraler Werke der Literatur Lateinamerikas die Geschichte eines Kontinents nach, in dem bis heute Politik, historische Reflexion und literarisches Erzählen nicht zu trennen sind. Ich treffe Michi Strausberg in einem Hofrestaurant in Berlin-Mitte, das mitten im Trubel der Hauptstadt genug Ruhe für ein Gespräch bietet.

der Freitag: Frau Strausfeld, denkt man in Deutschland an lateinamerikanische Literatur, scheint man vor allem noch an die großen Namens des sogenannten Booms der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts zu denken: Gabriel García Márquez, Mario Vargas Llosa oder Julio Cortázar. Wie kam es zum damaligen Boom?

Michi Strausfeld: Eine Sternstunde wie den Boom gibt es sehr selten, nicht nur in Lateinamerika. In der Nachkriegszeit gab es in Deutschland ja auch eine Art Boom, mit Autoren wie Böll, Grass, Walser oder Enzensberger. In Lateinamerika war es wirklich so, dass in den Sechzigern jedes Jahr ein neues Meisterwerk erschien: Cortázars Rayuela 1965 in Argentinien, ein Jahr später Das grüne Haus von Vargas Llosa in Peru oder der Roman, der ab 1967 den ganzen Kontinent elektrisierte: Hundert Jahre Einsamkeit vom Kolumbianer García Márquez. Warum es zu dieser Häufung kam, ist schwer zu erklären. Vielleicht, weil seit den Vierzigern vor allem in Mexiko und Buenos Aires eine neue Verlagsindustrie entstand, zum Teil aufgebaut von spanischen Emigranten. Oder weil der Analphabetismus stark bekämpft wurde. Oder wegen der Entwicklung der Mittelschicht, denn es waren hauptsächlich Leute aus der Mittelschicht – mit wenigen Ausnahmen, wie dem Kubaner Alejo Carpentier oder den Eheleuten Adolfo Bioy Casares und Silvina Ocampo in Argentinien –, die diese großen Werke geschrieben haben. Es kam vieles zusammen.

Und wie kann man die Faszination erklären, die in jenen Jahren die Literatur aus Lateinamerika weltweit auslöste?

Die Lateinamerikaner erzählten wunderbare Geschichten, von Dingen, die man außerhalb des Kontinents nicht kannte, weil man ja fast nichts von ihm wusste. Daraus ist auch der Terminus „magischer Realismus“ entstanden, mit dem man das alles beschrieb – und gegen den García Márquez und andere sich wehrten. Aber auch die Begeisterung hat verschiedene Gründe. 1959 ereignete sich die kubanische Revolution, die die Aufmerksamkeit der Welt auf Lateinamerika lenkte. Und man darf nicht vergessen, dass im Jahr 1967 nicht nur Hundert Jahre Einsamkeit erschien. Che Guevara wurde in Bolivien ermordet und der Schriftsteller Miguel Ángel Asturias aus Guatemala erhielt den Literaturnobelpreis. Es waren bewegte Zeiten. Und hier in Europa fragten sich die Studenten 1968: Was passiert dort drüben? Das Ergebnis war diese Faszination für die neuen lateinamerikanischen Autoren, zuerst in Frankreich und Italien. In Deutschland kam sie erst später, vor allem ab 1976, als die Frankfurter Buchmesse einen Lateinamerika-Schwerpunkt hatte und Suhrkamp 19 Titel auf den Markt brachte. Es war ein großes Zeichen, dass der damals wichtigste Intellektuellenverlag Deutschlands sagte: Wir machen Lateinamerika.

Zur Person

Michi Strausfeld, geboren 1945, ist Autorin, Lektorin und Übersetzerin. 2012 wurde sie von der Buchmesse in Buenos Aires zu einer der „50 wichtigsten Persönlichkeiten des kulturellen Lebens Lateinamerikas“ gewählt

Wie kam es zur Krise dessen, was man unter dem Begriff magischer Realismus subsumiert?

Die Gesellschaften haben sich verändert. Der magische Realismus hat viel mit ländlichen Lebensumständen zu tun, wo es etwa mehr Aberglauben gibt. Aber man muss daran erinnern: Als die ersten Texte des magischen Realismus Ende der vierziger Jahre erschienen sind, zum Bespiel Das Reich dieser Welt von Carpentier, entstand in Argentinien etwas ganz anderes, nämlich eine starke Strömung fantastischer Literatur, mit Autoren wie Jorge Luis Borges, Bioy Casares oder Cortázar. Das war der Gegenpol zum magischen Realismus. Und man sollte auch Brasilien nicht vergessen, wo wiederum etwas ganz anderes entstand. Lateinamerika ist zu groß, um es mit ein paar Begriffen einzufangen. Man steckt ja auch nicht alle Länder Europas in einen Sack. Ich versuche das im Buch zu erklären: Mexiko oder die Andenländer, Argentinien, Brasilien oder die Karibik haben alle ein unterschiedliches kulturelles Erbe, das zu verschiedenen intellektuellen Entwicklungen geführt hat.

Seit einigen Jahren findet in ganz Lateinamerika eine beachtliche Produktion von sogenannten Crónicas statt, Reportagen hoher literarischer Qualität, nach dem Vorbild des „New Journalism“ von Truman Capote oder Tom Wolfe. Das Genre ist inzwischen zum Literatur-Mainstream des Kontinents geworden.

Die „Crónica“ gab es schon vor dem „New Journalism“, etwa mit García Márquez’ Bericht eines Schiffbrüchigen von 1955 oder Operation Massaker vonRodolfo Walsh in Argentinien, erschienen 1957. Das waren Journalisten, die akribisch recherchierten, ihre Geschichten geschrieben haben – und dabei kam Literatur raus. Heute spielt sicher auch die berühmte Reporterschule Fundación Nuevo Periodismo Iberoamericano („Stiftung Neuer Iberoamerikanischer Journalismus“) eine wichtige Rolle. Sie wurde 1994 von García Márquez in Kolumbien gegründet und schult AutorInnen so: Recherche, Recherche, Recherche – und dann so schreiben, dass man es gerne liest. Es gibt dazu viele Stipendien für Journalisten, was die Produktion anfeuert. Und es ist einfach eine andere Generation da, die „Enkel des Booms“, wie ich sie nenne, die anders aufgewachsen sind, in diesen riesigen Metropolen Lateinamerikas. Für sie sind Gewalt oder die internationale Drogenpolitik Themen ihres Alltags. Sie haben ihren eigenen literarischen Kanon und suchen andere Ausdrucksformen, wie die literarische „Crónica“, die sehr gute Leute vertreten, zum Beispiel die argentinische Schriftstellerin und Journalistin Leila Guerriero oder der Reporter Óscar Martínez aus El Salvador.

Ist also die Zeit des großen politischen lateinamerikanischen Romans vorbei?

Sicherlich nicht. In Lateinamerika ist die Verbindung zwischen Literatur und Politik unverändert sehr eng und es gibt nach wie vor große Romane. Bald kommt ein neuer von Vargas Llosa über den Sturz von Jacobo Árbenz, Präsident Guatemalas, 1954 durch die CIA. Auch jüngere Schriftsteller schreiben herausragende politische Bücher, wie die Kolumbianer Juan Gabriel Vásquez mit Das Geräusch der Dinge beim Fallen und Héctor Abad Faciolince mit Brief an einen Schatten oder Antonio Ortuño in Mexiko mit Die Verbrannten. Man kann in jedem Land Leute finden, die mit ästhetisch anspruchsvoller Literatur weiterhin politische Positionen vertreten. Ich schätze etwa Yuri Herrera aus Mexiko sehr, oder junge Frauen wie Selva Almada und Claudia Piñero aus Argentinien. Piñero bekommt das Etikett „Krimi“, ihre Bücher sind aber eigentlich Analysen der argentinischen Gesellschaft.

Sie schildern die Geschichte Lateinamerikas immer mit Bezug auf die Worte von SchriftstellerInnen. Aber bleibt die Perspektive des Buches am Ende nicht eine äußere, die Sicht einer Europäerin auf Lateinamerika?

Mein Bemühen war, nur die lateinamerikanische Sicht zu schildern. Natürlich kann man sagen, ich habe nur gewisse AutorInnen ausgewählt, aber ich habe ein breites Spektrum abgedeckt. Ich habe mich gefragt: Welche Romane sprechen über eine bestimmte Epoche, was erklären sie? Das habe ich zusammengestellt und ich glaube, das Ergebnis kommt der Sicht von Lateinamerikanern jedenfalls sehr nah. Hier in Deutschland ist das Wissen über die lateinamerikanische Geschichte noch nicht weit verbreitet. Und ich finde, es ist sehr besonders, Geschichte durch erzählte Geschichten lebendig zu erfahren. So kommt auch Empathie auf. Ich wünsche mir, dass man mehr von Lateinamerika kennt, um in ein Gespräch auf Augenhöhe einzutreten. Das ist, was der Kontinent selbst immer versucht hat und Europa nie besonders ernst genommen hat. Meiner Meinung nach kann uns Lateinamerika in vielen Aspekten bereichern. Und jetzt, wo Lateinamerika im Klammergriff zwischen den Vereinigten Staaten und China ist, wäre es für Europa nicht ganz uninteressant, den Kontakt doch mal zu intensivieren.

Hernán D. Caro wurde 1979 in Bogotá, Kolumbien, geboren und schreibt regelmäßig für deutsche und lateinamerikanische Medien. Er ist Redakteur des Online-Kunstmagazins Contemporary And América Latina (C&AL)

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