Eine Schweizer Flagge weht windstromlinienförmig vor dem Deutschen Bundestag. Der Himmel über Berlin ist schneewolkenverhangen, und im Parlamentsgebäude wird unter den Ministern - allen voran Innenminister Wolfgang Schäuble - und der Bundeskanzlerin Angela Merkel darüber diskutiert, ob die Bundesregierung aus der Schweiz eine CD mit Daten von 1.500 mutmaßlichen Steuerhinterziehern für 2,5 Mio. Euro ankaufen soll. Die aus der Eidgenossenschaft gelieferten Namen könnten schätzungsweise 100 bis 400 Mio. Euro in die Steuerkasse spülen, also einen Betrag, der im Zeitalter staatlicher Neuverschuldungen durchaus zu gebrauchen wäre, auch wenn Griechenland und Portugal nicht direkt von anderen EU-Ländern gestützt werden dürfen. Doch das bürgerliche Lager sowie Teile der öffentlichen Medien hegen moralische Bedenken: In einem Rechtsstaat heilige der Zweck eben nicht die Mittel. Das klingt erstmal so, als handele es sich bei dem Ankauf dieser "gestohlenen" Daten um einen kriminellen Akt. Der "Eigentümer" dieser Daten ist aber wohl eher nicht ein Bankinstitut wie die Credit Suisse, sondern der originäre Eigentümer dieser Daten ist der deutsche Bundesbürger, der dem Staat gegenüber zur Offenlegung seiner Einkommensverhältnisse verpflichtet ist. Diese Daten sind damit bereits quasi "Staatseigentum". Dass diese Daten in ausländischen Geldinstituten möglicherweise nach den dortigen Gesetzen "illegal" beschafft worden sind, mag sein. Dass das im hiesigen Rechtsystem aber nicht unter dem Begriff "illegal" zu verzeichnen wäre, bedeutet schlicht und einfach: Die Bundesregierung handelt beim Ankauf dieser CD rechtskonform nach den Maßstäben ihrer eigenen Verfassung, und nur diese kann sie als Maßstab nehmen, nicht hingegen das Schweizer Bankgeheimnis. Die Diskussion um Steuerhinterziehung und insbesondere der Steuerbetrug der Wohlhabenden, die ihre Vermögen in Steueroasen einparken und damit dem Zugriff des deutschen Fiskus entziehen, hat spätestens seit dem Fall Klaus Zumwinkel im Jahr 2008 das bürgerliche Anstandscredo ebenso diskreditiert wie eine Art liberale Gegenbewegung unter dem Schlagwort des "Sozialmissbrauchs" eingeleitet. Hierbei geht es um Schwarzarbeit im Allgemeinen, aber auch um den so genannten "Missbrauch" von Hartz-4. Dabei wurde in diversen Talkshows - unter anderem bei Markus Lanz - der Öffentlichkeit der exemplarische Typus des "Sozialschmarotzers" vorgeführt: Thomas B. (47) erhält seit vielen Jahren Geld vom Staat, sabotiert die Bemühung der Job Center um Arbeitsvermittlung absichtlich und fühlt sich wohl dabei. Es offenbart sich unverhohlen die asoziale, autistische und nahezu narzisstische Haltung, einfach nur sein eigener Fan zu sein und damit "glücklich" zu werden; auch wenn es gar nicht stimmt, so reicht es doch, dass die gestressten "Berufssklaven" einen Funken Sozialneid auf denjenigen projezieren, der sich ihrem System entzieht. Dass auch jene Gattung von "Arbeitsverweigerern" stolz auf ihren sozialen Habitus ist, zeigt nicht nur der ausgewählte Dresscode von sorgsam zurecht gebügelter Karottenjeans und Pullovern, deren Stickmuster einer Computergrafik aus Zeiten des frühen Computerspiels ähnelt. Es handelt sich hierbei vielmehr um die Gewissheit, dem ökonomischen Prinzip Rechnung zu tragen, denselben Ertrag mit den geringsten Mitteln zu erreichen - und nebenbei in der philosophischen Tradition der Kyniker zu stehen, den gierigen Bankleuten mit ihren Finanzimperien die Aufforderung zu geben, einfach nicht mehr im Sonnenlicht zu stehen. Die schlichte Einhaltung des ökonomischen Prinzips kann einen moralischen Affront nicht rechtfertigen. Die Gattung des "Sozialschmarotzers" - sofern keine Freundschafts- und Verwandtschaftsgelder unterschlagen werden - ist rehabilitiert. Die moralischen Schneeverwehungen des neoliberalen Establishments haben soziale Abgründe inszeniert, die das einsetzende Tauwetter wegschmelzen lässt. Darüber hinaus sollte gerade in Deutschland ein vorsichtiger Umgang mit dem Thema Arbeitslosigkeit selbstverständlich sein: Wurden jene Millionen von Arbeitslosen doch gerade nach der Weltwirtschaftskrise im Jahr 1929 zum Treibsatz der nationalsozialistischen Bewegung. Der Sozialausgleich ist nicht nur ein Akt der Nächstenliebe oder sozialen Verantwortung. Er ist ebenso der Selbstschutz einer Gesellschaft, die sich überlegen muss, wie viel kriminelles oder politisch extremes Potential frei gesetzt werden könnte, wenn man das Gesetz der "sozialen Kälte" konsequent walten lassen würde.
Kommentare 7
Aber die Verhältnisse...
Auf die Gefahr hin, daß ich da irgendwas vollkommen falsch verstanden habe: Was an der Haltung des erwähnten Arbeitslosen ist moralisch nicht zu rechtfertigen? Das, was sich so schön Gesellschaftsvertrag nennt, ist doch längst nicht mehr Realität, aus dem Miteinander schon seit Jahren ein immer weiter auseinanderdriftendes Nebeneinander geworden, wo also sollen moralische Normen entstehen, die für alle gelten? Mer mag die Lösung, die dieser Mann gefunden hat, durchaus für sich selbst ablehnen, aber sie folgt einer Moral, die eben aus Armutserfahrung resultiert und mithin nicht "falsch" ist für jemanden, der nichts mehr zu verlieren hat. Das kriminelle Potential sitzt woanders, es nutzt die Ressentiments nur recht geschickt, sind die Protagonisten doch selbst faul und unterwerfen jegliche Moral der eigenen Eitelkeit und Gier. Der Zahl hat mal einen schönen Roman über eine Berliner Familie von Dieben geschrieben, in dem er genau dieses Problem anspricht und ausgiebig erörtert (Die Glücklichen). Andere Zeit aber im Grunde die gleiche Scheiße.;)
Aber die Verhältnisse...
Auf die Gefahr hin, daß ich da irgendwas vollkommen falsch verstanden habe: Was an der Haltung des erwähnten Arbeitslosen ist moralisch nicht zu rechtfertigen? Das, was sich so schön Gesellschaftsvertrag nennt, ist doch längst nicht mehr Realität, aus dem Miteinander schon seit Jahren ein immer weiter auseinanderdriftendes Nebeneinander geworden, wo also sollen moralische Normen entstehen, die für alle gelten? Mer mag die Lösung, die dieser Mann gefunden hat, durchaus für sich selbst ablehnen, aber sie folgt einer Moral, die eben aus Armutserfahrung resultiert und mithin nicht "falsch" ist für jemanden, der nichts mehr zu verlieren hat. Das kriminelle Potential sitzt woanders, es nutzt die Ressentiments nur recht geschickt, sind die Protagonisten doch selbst faul und unterwerfen jegliche Moral der eigenen Eitelkeit und Gier. Der Zahl hat mal einen schönen Roman über eine Berliner Familie von Dieben geschrieben, in dem er genau dieses Problem anspricht und ausgiebig erörtert (Die Glücklichen). Andere Zeit, aber im Grunde die gleiche Scheiße.;)
»Es handelt sich hierbei vielmehr um die Gewissheit, dem ökonomischen Prinzip Rechnung zu tragen, denselben Ertrag mit den geringsten Mitteln zu erreichen - und nebenbei in der philosophischen Tradition der Kyniker zu stehen, den gierigen Bankleuten mit ihren Finanzimperien die Aufforderung zu geben, einfach nicht mehr im Sonnenlicht zu stehen.«
Leider sprechen Sie es in Ihrem Beitrag nicht explizit aus, sondern deuten, wenn ich recht verstanden habe, nur an: Thomas B. und Klaus Zumwinkel sind doch in der Logik des Ertrags mittels geringster Mittel einfach zwei Seiten der gleichen Medaille. Der eine versucht es mittels konsequenten Nichtstuns und stellt das sehr offen dar. Der andere steigert seinen Ertrag durch Steuerhinterziehung und bemäntelt sich durch bürgerlichen Anstand und Mildtätigkeit.
Ich glaube schon, dass in den besagten Talkshows ein moralischer Affront (ausgesprochen oder unausgesprochen) vorhanden gewesen ist, dass absichtliche Arbeitsverweigerung beziehungsweise die Sabotage der Vermittlungsbemühungen der Job Center als "asozial" bewertet wird...man könnte also von einer schlechten "Arbeitsmoral" sprechen. Und ich meinte einfach nur, dass eine Gesellschaft, zu dernen Leitbildern das ökonomische Prinzip zählt, dementsprechend als legitim anerkennen müsste, dass es für die Betroffenen die rational bessere "Lösung" sein kann, ALG 2 zu beziehen anstatt einen Job auszuüben, der in etwa das gleiche Geld bringt. Es ist eine rationale Entscheidung, die darüber hinaus meiner Einschätzung nach auch im Einklang mit den allgemeinen "Leitbildern" der Gesellschaft steht. Ich kann nicht beurteilen, wo die genauen Unterschiede des Miteinanders und Nebeneinanders liegen...ich befürchte aber, dass die Grenzen dynamisch und fließend sind. Fest steht aber, dass jedem zugestanden werden sollte, das (subjektiv) "Beste" innerhalb bestimmter Normen für sich zu realisieren. Was meinen Sie mit "gleiche Scheiße"?
Nein! Genau das sind sie nicht! Klaus Zumwinkel ist ein Steuerhinterzieher und damit kriminell, Thomas B. hingegen ist ökonomisch einfach nur rational, indem er lieber ALG 2 beziehen möchte, als einen Job auszuüben, der in etwa dasselbe Geld einspielt. Man könnte vielleicht eher sagen, dass die Boni der Banker in der Logik stehen, den Ertrag mit bestimmten Mitteln zu maximieren. Die zwei Seiten der Medaille bestehen darin, dass die Millionenboni der Banker und die unverhohlene Arbeitsverweigerung eines ALG 2-Empfängers ökonomisch rational und daher zumindest in dieser Hinsicht nicht moralisch "verklagbar" sind...was bei den Bonuszahlungen der Banker wiederrum aber doch etwas fragwürdig erscheint;)
»Nein! Genau das sind sie nicht!«
Da stimme ich Ihnen zu. Dass der eine strafbar gehandelt hat und der andere nicht, sehe ich genauso. Ich wollte meinen Kommentar nur nicht zu sehr ausweiten, sondern lediglich auf den (für mich) interessantesten Teil Ihres Beitrages hinweisen, da mir dieser am Ende, mit Verlaub, etwas zu polemisch wurde. Ein Punkt, an denen man die Debatte weiterführen könnte, wäre, ob es auch moralisch (nicht juristisch) zu verteidigen ist, sich eine "Stilllegungsprämie" auszahlen zu lassen und welches Urteil verdient eine Gesellschaft die so etwas hervorbringt, bzw. eben durch "hochgeschätzte" Personen wie Herrn Zumwinkel, solchen Biografien indirekt eine Legitimationsgrundlage bietet.
Sie können Ihren Kommentar herzlich gerne ausweiten, und es ist Ihr gutes Recht, meinen Beitrag als zu polemisch zu empfinden oder auch ganz abzulehnen. Dennoch scheint es einen Punkt zu geben, auf den man sich hier verständigen will; ich gebe ja zu, dass es einfach nicht besonders charmant ist, sich grundsätzlich hinzustellen und zu sagen, so lange die Jobs nicht besser bezahlt würden, würde man mit Hartz 4 einfach besser fahren. Ich denke schon, dass man einfach der Form halber immer einen "guten Willen" suggerieren sollte...weil es ja schlussendlich auch um das Geld der (anderen) Steuerzahler geht. Ich finde den Vergleich zu den Millionenboni der Banker jedoch gelungen: Es gibt eine vergleichbare öffentliche Empörung wie bei den so genannten "Sozialschmarotzern". Und dennoch ist es nunmal so, dass man sich auf die Norm geeinigt hat, dass es eben Sache der Unternehmen ist, wie sie ihre Manager vergüten, und nicht Sache der Öffentlichkeit oder sogar des Staates. Man könnte also die Agenda 2010 ebenfalls als eine Norm ansehen, und dann ist einfach all das, was in dieser Norm möglich ist, auch "legitim" - dass kann jeder für sich natürlich anders sehen, nur spielt bei der Beurteilung gesellschaftlicher Phänomene die Meinung eines Einzelnen nicht immer die entscheidende Rolle. Ich wollte also nur sagen, dass Thomas B. ein Verhalten zeigt, das innerhalb dieser Norm möglich, sogar "legitim" ist. Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung sind natürlich ein gesondertes Thema.