Roger McDonald ist seit 2000 zuständig für die Sammlung und Bereitstellung nationaler Fernsehsendungen beim Internet Archive. Dass man seinem Team private Nachlässe von Speichermedien anbietet, kommt immer wieder vor. Meist handelt es sich um 200 bis 300 Kassetten. Bei der emsigen Privatarchivarin Marion Stokes aber stapelten sich insgesamt 140.000 VHS-Kassetten, verteilt auf mehrere Räume unterschiedlicher Wohnungen.
Das Internet Archive ist eine gemeinnützige Organisation in San Francisco, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, ein ebenso umfassendes wie offenes und online zugängliches Medienarchiv anzulegen. Neben Momentaufnahmen von Webseiten und Usenet-Beiträgen speichert es auch Filme, Fernsehsendungen und Tonaufnahmen (einschließlich von Live-Konzerten), sowie Bücher und Software.
Familienmitglieder und Assistenten halfen mit
Das US-Magazin Fast Company berichtet, dass Stokes 1977 damit begann,Fernsehnachrichtensendungen der fünf US-amerikanischen Hauptsender MSNBC, Fox, CNN, CNBC und CSPAN sowie mehrere Regionalsender aufzunehmen, rund um die Uhr, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Dafür hatte sie bis zu acht Videorekorder gleichzeitig in Betrieb, gefüttert mit Kassetten von 240 Minuten Lauflänge. Um nichts zu verpassen, schlief sie nie länger als sechs Stunden, ließ schon mal das Essen in Restaurants kürzer ausfallen, damit sie rechtzeitig für den Bandwechsel zu Hause war, und spannte auch Familienmitglieder ein. Später beschäftigte sie einen Assistenten, der ihr half, das Aufnahme-Equipment zu bedienen, es zu warten und die Bänder zu wechseln.
Das ging 35 Jahre. 2012 starb Marion Stokes im Alter von 83 Jahren an den Folgen einer Lungenkrankheit. Bis zu ihrem Tod ließ Stokes die Maschinen laufen und aufnehmen. Für Außenstehende ging es bei ihr vollkommen chaotisch zu: Überall surrten Apparate, flackerten stumm geschaltete Bildschirme. Gleichwohl sei sie durchaus bei der Sache gewesen, erzählt Sohn Michael Metelits den Reportern. Sie konnte zwei Sendungen gleichzeitig anschauen und bekam dennoch die Inhalte mit.
Ihm zufolge war seine Mutter der festen Überzeugung, dass die Aufzeichnungen am Ende für irgendwas gut seien. Irgendjemand würde einen Weg finden, sie zu indizieren, zu archivieren und aufzubewahren – um sie nutzbar zu machen. Wenn sie gefragt wurde, was sie da eigentlich treibe, habe sie nur gesagt: „Ich archiviere, sonst nichts.“
Allein der Transport kostet 12.000 Dollar
Als Roger McDonald vom Internet Archive von Stokes‘ Archiv hörte, war er sofort fasziniert, auch wenn es anfangs nicht ganz sicher war, ob das Internet Archive logistisch in der Lage sein würde, das 140.000 Bänder umfassende Vermächtnis der Marion Stokes zu übernehmen, zu digitalisieren und zu indizieren. Es ist ein Mammutprojekt: Allein der Transport der Kassetten zu einem klimaregulierten Lagerraum kostet 12.000 US-Dollar. Wie viele Stunden und Kosten für das systematische Erfassen der Aufnahmen erfordert, vermag niemand abzuschätzen.
Solch eine gewaltige, zudem offenbar lückenlose Sammlung von Nachrichten-Fernsehsendungen ist abseits der TV-Archive wohl einmalig – ihr wahrer Wert ist jedoch schwer zu bemessen. Den einen mag es um Zeitgeschehen und mediale Zeugnisse gehen, den anderem um Nostalgie oder Amüsement, wieder anderen um die Art der Nachrichtenpräsentation und journalistische Arbeitsweisen im Wandel von Zeit und Produktionsmitteln.
Ein doppelter Glücksfall
Es muss ja nicht gleich eine mit medienwissenschaftlicher Systematik erstellte Analyse beim Blick auf Stokes’ Aufzeichnungen herauskommen: Ein von impulsivem Erkenntnisdrang getriebener Blick auf die Nachrichtenvermittlung von gestern gestattet ganz gewiss Erkenntnisse für das Verständnis der Nachrichtenrezeption von heute und der Wertigkeit des Nachrichtenjournalismus von morgen.
So gesehen ist das Vermächtnis der Marion Stokes ein doppelter Glücksfall: Nicht nur, dass ihre bewundernswerte Stoik der internationalen Medienwissenschaft einen vermutlich kaum ermesslichen Fundus bescherte. In den Händen des Internet Archive könnte er zu einer offenen und frei nutzbaren Quelle werden. Bleibt zu hoffen, dass es nicht zu langwierigen, teuren oder gar unüberwindlichen lizenz- und urheberrechtlichen Querelen kommt. Und wenn, dann möge der amerikanische Pragmatismus obsiegen.
Denkt man an hiesige Rechtsstreits um die Mediatheken der öffentlich-rechtlichen Sender, an „Depublikation“ und gesperrte Online-Videos, mag man sich gar nicht vorstellen, wo hier die 140.000 Kassetten landen würden. Vermutlich in der nicht klimagesteuerten Asservatenkammer eines Gerichts, das erst einmal beschlagnahmt und dann irgendwann berät.
Als Marion Stokes’ Sohn Michael Metelites beim Internet Archive in San Francisco das erste Mal sah, dass jemand mit dem Nachlass seiner Mutter wirklich was anfangen konnte, sei das, heißt es im Fast Company-Artikel, für ihn ein sehr bewegender Moment gewesen.
Dieser Artikel erschien in dieser Form am 28.11.2013 bei iRights.info, dort gehört der Autor zur Redaktion.
Kommentare 7
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Den Wert spürt man erst, wenn man das Vergangene aus dem Archiv holen kann. Die Generation Digital wird auch im Irgendwann die Schnellschüsse vom Smartphone suchen... und vermissen.
Großeltern zeigen den Enkeln Bilder ihrer Kindheit. Was zeigen wir in 70 Jahren?
Wooah, wie toll! Was für eine irre Leistung. Bin hin und weg.
Der Text beschreibt Stokes' Arbeitsweise sehr anschaulich. Die Räume mit den surrenden Maschinen sieht man förmich vor sich.
Der Titel "Die Aufzeichnerin" sagt ja schon ganz richtig, dass es sich hier eben auch um eine Form des Zeichnens handelt; wir es also mit Kunst zu tun haben, die Bänder eben ein zusammenhängendes, homogenes, eigenständiges Werk darstellen. Deswegen, is nix mit Depublizieren und gesperrten Inhalten. Marion Stokes war eine großartige Künstlerin. Sie wußte es nicht mal. Sehr, sehr gern gelesen. :-)))
hoffen wir da Beste für eine baldige Nutzung.
1977:
..."MSNBC, Fox, CNN, CNBC und CSPAN sowie mehrere Regionalsender aufzunehmen, rund um die Uhr, Tag für Tag, Jahr für Jahr"...
Ja, JJK, *****
Hallo Silvio:
"Wooah, wie toll!"...
Kennt Ihr American Forces Network (AFN)?
War lange vor SAT1 und RTL und Pro Sieben, da gab's NBC und CBS...
;-))))
MSNB...
...Er ging am 15. Juli 1996 auf Sendung...
FOX ....
...Das 1986 gegründete Unternehmen gehört der News Corporation von Rupert Murdoch. Hauptsitz ist New York City. Die erste Sendung am 9. Oktober 1986, dem ersten Sendetag von FBC (die Senderkennung wurde später auf FOX geändert)...
CNN ...
...Er wurde von Ted Turner als weltweit erster reiner Nachrichtensender gegründet und begann seinen Sendebetrieb am 1. Juni 1980...
CNBC...
...Am 17. April 1989 riefen NBC und Cablevision den US-amerikanischen Sender Consumer News and Business Channel ins Leben...
C-Span...
...Der Sender begann am 19. März 1979 mit den Ausstrahlungen...
Aber NBC kennt Ihr schon?
...1941 erhielt NBC als erster Sender die Lizenz für den kommerziellen Fernseh-Betrieb...
oder CBS...
...Die erste Fernsehausstrahlung von CBS fand im Jahr 1939 statt...
Es ist nicht auszuhalten...
@TLCUACHE Die zitierte Textpassage sagt doch nicht, dass Stokes alle genannten Sender über die gesamte genannte Zeit aufgenommen hat. Insofern scheint (mir) indirekt klar, dass sie die Aufzeichnung jener Kanäle erst dann begann (beginnen konnte), als diese auf Sendung gingen. Liesse sich gewiss auch präziser formulieren, schmälert aber meines Erachtens nicht diese spezielle Lebensleistung dieser Dame.
Mister Hest,
nix gegen Ihren Beitrag, aber jetzt wird Tacheles geredet:
Da ich leider schon das Vergnuegen hatte, sowohl "saturday night life" mit 1977 anschauen zu duerfen ALS auch die Dritten im oeffentlich Rechtlichen 1969, soweit ich zurueckdenken kann, ist im Amifernsehen nur Schrott produziert worden die wohl die USA direkt in seine Kriege gezogen hat.
30 Sendungen von "60 Minute" waren so Gehaltsvoll wie "EINE" Sendung mit der Maus. Das hat eben auch mit der Privatisierung der Medien zu tun. 1984 ist bei uns der Hammer gefallen, und das es noch nicht so weit gekommen ist wie bei "denen da drueben", nein, nicht in der DDR, liegt am Echo der oeffentlich Rechtlichen von damals, oder kennen Sie noch Bambule von Ulrike Meinhof?
Ich habe dann life 1989 USA - Network kennengelernt und darf es auch noch heute tun, in diversen Hotelzimmern mit 150 Programmen bei dem nur Schrott rauskommt...
Dagegen ist die deutsche Welle ein Wonnebrocken, den ich mir Zuhause NIIEE anschauen wuerde !!!!!!!!!!!!
Die "Lebensleistung" von Marion Stokes will ich gar nicht aberkennen, aber ich kann Ihnen jetzt schon sagen, 99,9% davon kannst du in den Muell schieben....
Nebenbei, wenn du dann 1979 noch life einen vietnamtraumatisierten mit der Pulle Rum in Thailand kennengelernt hast, wusstest du schon 12 Jahre vorher, was in
Irak I 1991 abgehen wird, und so kam es...
Die duemmsten Lichter werden mit Hamburgern vollgemacht und in den Krieg geschickt, DAS haben die Subbermedien in den USA Prima hinbekommen...
Da brauche ich keine Lebensleistungen von Stokes, schaut euch lieber den Neuss an, da koennt ihr was lernen:
..."Der Krebs ist kein Raubtier, es ist ein Haustier"...
Gruss