Herr Döpfner und das Zauberstab-Prinzip

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Mathias Döpfner war inspiriert: „Das ist genau das, was wir Ihnen vorschlagen“, rief er Dagmar Reim zu. Gemeint war der Verkauf von virtuellen Zauberstäben in kostenlosen Online-Spielen als Vorbild für Apps der Öffentlich-Rechtlichen – und alle amüsierten sich prächtig. An sich war die Pointe ein billiges Abstaubertor. Und vielleicht dennoch eine gute Idee – nur viel eher für die Zeitungsverleger als für die ARD.

In seinem Aufwärmtraining, äh, seiner Eröffnungsrede zur Medienwoche Berlin-Brandenburg verzichtete der Vorstandsvorsitzende der Axel Springer AG auf jegliches Strategie-Stretching, lief direkt zum Kasten der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten – um sich auf die kostenlos verfügbare Tagesschau-App einzuschiessen. Ausgerechnet diese App, nörgelt er, insbesondere diese App, im Grunde nur diese App würde den Zeitungs-Verlegern das Internet-Geschäft vermiesen und damit die Zukunft der gesamten Branche behindern, ja, praktisch komplett ver-hindern – zumindest, solange diese Tagesschau-App auch Texte enthalte und zugleich kostenlos sei. So wird sie auch bleiben, liess RBB-Intendantin Reim im Namen der ARD lakonisch wissen. Döpfner schoss weiter.

Dann lief Jens Begemann auf den Platz. Er beglückt mit seinem Unternehmen Wooga rund 38 Millionen Online-Gamer, die in den via Facebook erreichbaren virtuellen Welten spielen. Kostenlos. Und doch wächst Wooga in Umsatz und Mitarbeiterzahlen: weil rund ein Prozent der Spieler bereit ist, für zusätzliche Spiel-Optionen zu bezahlen. Echtes Geld zu überweisen für virtuelle „Werkzeuge“. Etwa „Zauberstäbe“. Davon hat Wooga tatsächlich schon mehrere tausend Stück verkauft.

Mit so einem Zauberstab – oder vergleichbaren Werkzeugen und Ausrüstungen – ist man als Spieler im Prinzip leistungsfähiger. Beispielsweise lässt sich ein Punkte-Konto schneller füllen. Punkte wiederum sind notwendig, um beispielsweise in eine neue Spielebene zu gelangen. Diese „Fleissbienchen“ lassen sich auch auf normalem Weg einsammeln, doch das ist mühseliger, langwieriger, kostet Zeit. Aha: Sammeln kostet Zeit, Zauberstab kostet Geld. Wiederholtes Sammeln langweilt, gezauberstabtes Spielen rockt.

Die käuflichen „Erweiterungen“ sind also Spielzeitverkürzer und Spaßverstärker. Das lassen sich manche was kosten. Zeit ist Geld. Wer mit Zauberstab spielt, der spielt nicht unbedingt kürzer oder weniger, oder automatisch länger oder mehr. Er spielt effizienter, privilegierter, im Wortsinn „auf einer anderen Ebene“. Nicht zuletzt geht es beim Spielen um Belohnung: Bester, Schnellster, Stärkster, Punktkönig oder Held will man sein – für einen (virtuellen) Tag oder länger. Die ein Prozent zahlungsbereiten unter den Millionen kostenlos mitspielenden Gamern wollen also für ihren Spielspaß Beschleunigung, Verdichtung, Effizienz, Vorsprung und Privileg.

Was heisst das nun für die Tagesschau-App oder, allgemeiner, für Online-Journalismus?

Das Äquivalent für Verdichtung und Effizienz bei Nachrichten ist die intelligente Zusammenfassung eines langen Beitrags, eines langen Textes. Was schneller zum Kern der Information führt, effizienter zu einer Bewertung, flinker zu einer Erkenntnis das spart Zeit – und müsste Geld kosten. Also, die „Tagesschau in 100 Sekunden“, die ja Teil der Tagesschau-App ist, die sollte kostenpflichtig sein?

Nein, Herr Döpfner schlägt vor, die komplette Tagesschau-App kostenpflichtig zu machen. Und warum? Weil sie nicht nur Filmbeiträge enthält – die findet er OK und deren Länge ist ihm egal – sondern auch Texte. Lange Texte, wohlgemerkt. Zur Griechenland-Krise etwa unlängst rund 40.000 Worte, was etwa vier vollgeschriebenen Zeitungs-Seiten entspräche, so Döpfner. Solch lange Texte seien aber die Sache von privatwirtschaftlichen Verlegern, nicht die einer gebührenfinanzierten Fernsehanstalt. Dieser Logik nach sollen die Tagesschau-App-Nutzer für etwas bezahlen, wofür sie dann mehr Zeit aufwenden müssen. Das aber wäre die Umkehrung des Vorzeichens beim Zauberstab-Geschäftsmodell von Wooga.

Ja, was denn nun, Herr Döpfner?

Ich meine, wenn das Zauberstab-Prinzip der Onlinespiel-Betreiber so überzeugend gut funktioniert und eine Blaupause für Verleger, Informationsanbieter, ja „Medien“ sein soll, dann hiesse das im Grunde, gegen zusätzliche Bezahlung „Zeitersparnis“ bei gleichzeitiger „Erkenntnisgewinn-Verdichtung“ zu ermöglichen. Besser im Spiel, schneller am Ziel – weniger kostet mehr: Zusammenfassungen, Kurzversionen, verdichtete Analysen und Fazits nur als Zukauf-Option – während die langen Texte frei verfügbar sind. Was machen die Verleger stattdessen? Sie verbreiten Kurzversionen, Zusammenfassungen und Fazits kostenlos – und verschanzen die lange Version hinter Bezahlschranken.

Liegt in dieser scheinbaren Asymmetrie womöglich die ganze Krux der Internet-Ökonomie für professionelle Informations-Händler?

An sich wendet man doch für die Tätigkeit „Spielen“ den Begriff „Zeitvertreib“ und das berühmte „Der-Weg-ist-das-Ziel“-Mantra an. Völlig zu Recht, betrachtet man beispielsweise Boule-Spieler – würden die für Beschleunigung bezahlen wollen? Im Internet jedoch genügen ein Prozent notorischer Abkürzer und Vorteilsucher, um den Spielbetrieb als solchen zu finanzieren. Allen anderen reicht der unbeschleunigte, langwierige Zeitvertreib. Vorerst.

Die Aufnahme von Informationen, die Verarbeitung von Nachrichten ordnet man hingegen seltener als „Zeitvertreib“ sondern vielmehr als „Nutzen“ ein. Ebenfalls zu Recht, geht es dabei doch um Zustandsbestimmung und Orientierung, damit man das eigene Verhalten an den Geschehnissen in der Umgebung ausrichten kann. Wettervorhersagen und Staubericht, Marktsituation und Wirtschaftsentwicklung, Gesundheitsrisiken und politische Großwetterlage – Nachrichten sollen primär zweckdienliche Hinweise für nächst wichtige Entscheidungen liefern. Das Ziel gibt den Weg vor, und der darf gerne kürzer sein.

Doch bei Online-Nachrichten soll das mehr an Text, das mehr an Zeitaufwand, der lange Weg zu Erkenntnis und Entscheidung nun ausgerechnet mehr kosten?

Zumal ja die Verkürzung und Kompression von Nachrichten längst eine Profession ist, die richtig Geld einbringt. „Medienbeobachter“ etwa nennen sich berufsmäßige Viel-Leser und Schnell-Analysierer, die im Auftrag von Unternehmen, Verbänden, Behörden und Parteien praktisch alles rezipieren, was irgendwie, irgendwo, irgendwann veröffentlicht wird; die im übertragenen Sinn also jede noch so weite Spiel-Ebene zu Fuß ablatschen. Und die dann für PR-Abteilungen, Referate und Vorzimmer das Wesentliche herausfiltern. Dort wiederum verkürzen weitere Lese-Profis das Wesentliche auf das noch Wesentlichere, etwa für Staatssekretäre, Vorstände, Aufsichtsräte, Chefs oder Minister. So wird der PR-Stab wahrhaft zum Zauber-Stab für Verdichtung und Zeitgewinn – und den lässt man sich bekanntlich was kosten.

Dem Zauberstab-Prinzip folgend müssten also Online-Nahrichten für Millionen Leser kostenlos sein; müsste ein gewisser Prozentsatz von Zeitungs-Lesern bereit sein, für die Verkürzung des Zeitaufwands bei Informationsaufnahme und -verwertung zu bezahlen – und zwar so viel, dass der dafür notwendige Redaktions-Betrieb profitabel ist.

War es das, was Sie eigentlich meinten, Herr Döpfner?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

hest

Journalist, Autor, Referent, Lehrkraft, Freischreiber. Wanderer & Wunderer in Sachen Medienkultur

hest

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