Musizieren, Agitieren, Diskutieren, Feiern

Subkultur Politrock, Kabarett, Internationalismus, Solikonzerte – dieser Mix pulsierte durch West-Berlins Subkultur-Adern. Eine Art Lymphknoten war der Musikladen „Quartier Latin“

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Anlaufpunkt für die Subkultur: Das "Quartier Latin"
Anlaufpunkt für die Subkultur: Das "Quartier Latin"

Foto: Marco Saß

Jeder Zeitgeist schafft sich sein eigenes Ambiente. In den 70ern war es die Aura schummriger Trödel-Spelunken, die den Sperrmüll einer verbürgerlichten Gesellschaft nutzten, um ihn geradezu symbolisch mit neuen Konzepten, Ideen und Kulturen aufzuladen. Wilde Free Music-Darbietungen mit Künstlern, die keinem Notenblatt sondern allein ihrer Inspiration folgen bei neuen Veranstaktungssformen, wie dem 1970 als Alternative zu den als etabliert geltenden Berliner „Jazztagen“ gegründeten Improvisationsmusik-Festival „Total Music Meeting“; oder auch Agit-Prop-Kultur von Gebildeten, die mit messerscharf argumentierendem Polit-Theater die Jung-Arbeiter adressierten, wie Interpol, Floh de Cologne und Lok Kreuzberg; kluge, linke Liedermacher und angriffslustige Kabarettisten, die mit scharfer Beobachtung von politischen Geschehnissen und gesellschaftlichen Verhältnissen ein großes Publikum ansprachen, aller Dauerkritik aus der bürgerlichen Presse zum Trotz, wie Hannes Wader oder Dietrich Kittner; Kleinkunst-Folklore von talentierten Witzbolden und Allround-Könnern, die mit feinsinnig-humorigen Liedern und anarchischen Blödeleien unterhielten, wie beispielsweise Ulrich Roski oder Otto Waalkes; und nicht selten Symbiosen aus all diesem, in Form gemeinsamer Programme, „Festivals“ und Zusammenkünfte.

Das alles wurde in den 70er Jahren bereitwillig goutiert von einem eher denkendem denn tanzendem Publikum, dass den Künstlern kopfnickend zusprach, ihnen aber zugleich oft genug „Aussprachen“ abverlangte, Diskussionen direkt im Anschluss an die Vorstellungen. Mitunter glitten die darin vertieften theoretischen Diskurse – ob nun mit oder ohne Künstler – auch ab in belanglose, gemütlich-redselige Besäufnisse unter den Stoffschirmen der Oma-Lampen und im Qualm der Selbstgedrehten. Auch egal. Hauptsache war meist, dass es irgendwie unkonventionell, unspiessig und nicht-bürgerlich zuging. Progressiv, neu, anders.

Passende Kulisse für den Abgesang auf den Muff von 30 Jahren

Es ging stets und vor allem um den Gegenentwurf. Und für diesen Gegenentwurf zu Resopal und Einbauschrank, zu angepasster Spießermusik war in West-Berlin das Quartier Latin eine passende Kulisse: spiegelte doch das abgenutzte, ja, heruntergekommene und abgehalfterte Ambiente des ehemaligen Kinos in der damals verruchten Potsdamer Straße quasi ideal den maroden Zustand der sich überlebten bürgerlichen Gesellschaft wider, um darin einen kollektiven Abgesang auf den Muff von 30 Jahren zu intonieren.

An eine dieser turbulenten Polit-Rock-Kultur-Agitations-Abende Ende der 70er, Anfang der 80er kann sich auch Christoph Rinnert erinnern. Der Berliner Musiker und Produzent spielte unter anderem bei den Gruppen Wednesday und FOX, und er war über viele Jahre häufig Gast oder Künstler im Quartier Latin: „Das Programm hieß, glaube ich, ‚Literatur und Rockmusik‘, und war irgendso‘ne Politveranstaltung. Unter anderem waren auch ‘Pannach und Kunert‘ dabei, das waren zu der Zeit sehr populäre linke Liedermacher. Ich war damals Gitarrist bei einer Berliner Band, ich weiß nicht mehr, wie die hießen. Jedenfalls ist der Schriftsteller Peter Paul Zahl an diesem Abend zum ersten mal aus dem Gefängnis gekommen (in dem er wegen terroristischer Aktivitäten landete). Und da ist er dann praktisch vom Knast direkt auf die Bühne marschiert. Er hat ein Gedicht vorgelesen und die Polizei hat vor der Bühne gewartet. Wir haben vorher gespielt und mussten auf der Bühne stehen bleiben. Der hat dann seinen Text vorgelesen, den er gerade im Knast geschrieben hatte. Und er sagte noch: ,Ich bin hier nur, um das hier vorzulesen, deswegen habe ich Freigang bekommen.‘ Das war für mich unheimlich beeindruckend. “

Immer volles Haus bei Lokomotive Kreuzberg; Streikversammlungen der Drucker

Zu den ganz festen Größen der Westberliner Polit-Kultur zählte in den 70ern die Band Lokomotive Kreuzberg. Schon im Namen „Lokomotive“ steckte politischer Bezug – hießen zu dieser Zeit doch vornehmlich DDR-Fussball-Vereine „Lokomotive“ (Leipzig, zum Beispiel). Das stellte den gewollten Bezug der Musiker zum Proletariat („Arbeiterklasse“) her und klang – zumindest damals – unmissverständlich links, mit der DDR „sympathisierend“. Dem entsprachen auch die Texte, in denen arbeitsweltliche und politische Themen dominierten, gegen Ausbeutung, Kapitalismus, Aufrüstung und Krieg. Das alles verpackt in fetzige Bluesrock-Nummern, üppig instrumentiert und gut arrangiert, inklusive Violine und klassischem Gesang, mit Hang zu theatralischer Inszenierung und erzählerischen Konzept-Alben. Die Erfolgs-Produktion „James Blond (Den Lohnräubern auf der Spur)“ war, aus heutiger Perspektive, ein schlüsselfertiges Polit-Rock-Musical – nur das der Begriff „Musical“ nicht fiel. Doch die zahlreichen Aufführungen dieses und aller anderen Lok Kreuzberg-Programme – meist mehrere ausverkaufte Abende hintereinander im Quartier Latin – waren Rockmusiktheater der Extraklasse: Auf hohem musikalischen Niveau gespielt und leidenschaftlich inszeniert. Insgesamt 59-mal ist Lok Kreuzberg im Quartier Latin aufgetreten, „und praktisch immer ausverkauft“, wie einer der Mitbegründer und Köpfe der Band erzählt, Andi Brauer.

„Bei diesen Politveranstaltungen war das Publikum bunter und lustiger, möchte ich sagen“, erinnert sich Brauer. „Dafür aber meistens auch von Krakeel durchsetzt, weil sich die unterschiedlichen linken Gruppierungen meistens noch vor dem Saal beharkten und drinnen weitermachten. Nahezu jede Veranstaltung wurde durch diesen Hickhack von links und nochmal links behindert – aber das gehörte dazu. Es war völlig klar, dass irgendwann irgendwelche Leute versuchten die Bühne zu stürmen und Flugblätter zu verlesen und hinten welche krakeelten - das war so normal … . Üblich war ja auch, direkt nach den Konzerten noch Diskussionen vom Zaun zu brechen. Nach jedem Konzert, nach jeder Theaterveranstaltung, nach jedem Film sollte diskutiert werden, um die politische Message nochmal zu verdichten. Erstmal von der Bühne nach unten, das war überall üblich, nicht nur bei uns. Ich erinnere mich auch an Streikversammlungen der Mercator-Druckerei, gegenüber vom Quartier Latin, da stand der Bühnen-Lastwagen vor den Werkstoren, da war dann schon was los.

Alles in allem habe ich das Quartier Latin nur als voll in Erinnerung, zumindest aus den Siebzigern. Dietrich Kittner, Floh de Cologne, Passport, das waren immer automatisch rappelvolle Veranstaltungen.“

Internationalismus und Solidarität für Instandbesetzer

In den Siebziger und Achtziger Jahren gehörten Festivitäten von politischen Organisationen und Veranstaltern zum Programm-Alltag des Quartier Latin. Als typisches Beispiel sei die dreitägige Veranstaltung der „Westberliner Volkstheater-Kooperative“ im September 1973 genannt, die anlässlich der „X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten“ stattfand. An den drei Tagen präsentierten Lok Kreuzberg, Hoffmanns Comic Teater (die Vorläufer von Ton Steine Scherben) und der linke Berliner Liedermacher Peter Keiler jeweils Premieren ihrer neuen Programme.

Auch die von Linken und links Stehenden häufig beschworene „internationale Solidarität“ fand ihren Platz im Quartier Latin. Für viele Jahre organisierten kurdische Aktivisten dort das traditionelle Neujahrsfest „Newroz“. Nicht auf einen ganz bestimmten Tag festgelegt, mobilisierten die Kurden ein ebenso großes wie interessiertes Publikum, verwandelten sie das Quartier Latin in eine internationalistische Begegnungsstätte, in gelebtes Miteinander. Und das zu einer Zeit, in der die „Migration“ oder „Integration“ von Zugezogenen und ihren Familien in erster, zweiter oder gar dritter Generation noch ein Randthema war, gleichwohl politisch brisant und wichtig.

Selbst in den 80ern, die ja den Ruf haben, wenn schon nicht die ganze Gesellschaft, dann aber zumindest die einstmals mächtigen Szenen entpolitisiert zu haben, waren die Verbindungen zwischen Politik und Kultur noch eng. Davon zeugen zumindest die Programmpläne des Quartier Latin zur Genüge. Angefangen mit der Hausbesetzer-Bewegung und die durch sie ausgelösten Solidaritätswellen, über die breite Anti-Atomkraft- und die nicht minder große Friedensbewegung bis hin zum Selbstbestimmungsaufbegehren in den damaligen Ostblock-Ländern und der DDR, das auch in der Westberliner Kultur ein Echo fand.

Als Beispiel genannt sei ein Benefiz-„Konzert für Instandbesetzer“ im März 1982 mit den Berliner Gruppen Kellox, Downtown Blues Band, Mon Dyh und Ronni and the Heart Attack. Die Veranstaltung zielte darauf ab, Gelder für die Unterstützung der Besetzer hinsichtlich Baumaßnahmen und Verhandlungskosten zu generieren. Durchaus typisch, also, mit Rockmusik, oder generell Kulturprogrammen, Aufmerksamkeit zu erzeugen und Spendenbereitschaft zu aktivieren, während sich auf der anderen Seite Musiker für eine gute Sache engagieren, indem sie ganz oder teilweise auf die Gage verzichten. Und nicht untypisch, dass auch für ein solches Ansinnen das Quartier Latin gewählt wurde. Es hatte Platz – im Saal genauso wie im Programmkalender – und es war gegenüber politischen Veranstaltern stets aufgeschlossen; eine gewiss auch aus wirtschaftlicher Not geborene Haltung, gleichwohl kein blanker Opportunismus.

Gewiss, die Menge von Künstlern und Bands mit klarer politischer Botschaft, ja, politischem Programm, nahm in den Achtzigern kontinuierlich ab. Damit ging auch generell die Schlagzahl von Politkultur-Veranstaltungen zurück. Gleichwohl blieb das Quartier ein wichtiger Ort für entsprechende Konzerte, Gruppen und Veranstalter. Etwa für das Umfeld der erwähnten Hausbesetzerszene, für linke Gruppierungen, dem Umfeld der „Alternativen Liste“ – dem Westberliner Vorläufer der „Grünen“ – und auch der Gewerkschaften.

Künstler für den Frieden; die 3 Tornados

Zu letzteren hatte beispielsweise die „Theater Truppe Schöneberg“ (TTS) Nähe, die im Rahmen von Benefiz- oder Programm-Veranstaltungen mit ihrem fetzigen Rocktheater auftrat. Beispielsweise war sie, neben vielen anderen, Anfang Dezember 1985 bei der dreitägigen Veranstaltungsreihe „Künstler für den Frieden“ dabei, die jeweils einen Abend lang friedensbewegte Klassik- und Rock-Musiker sowie Tanz-Ensembles auf die Quartier Latin-Bühne brachte.

Und auch die heute legendären 3 Tornados – Günter Thews, Holger Klotzbach, Arnulf Rating – fanden im Quartier Latin bald eine Heimat, sowohl für viele ausverkaufte und umjubelte Auftritte, als auch in der Verbundenheit zur Familie Saß und dem Potsdamer-Strasse-Kiez. Entstanden im Hochschul-Umfeld und immer auf unterhaltsamen-Bühnenaufruhr aus, mit einer Mischung aus Chaos-Kabarett, bitterböser linker Selbstironie und anarchistischen Polit-Clownereien, holten die 3 Tornados in die 80er, was im Quartier Latin mit Lokomotive Kreuzberg und Floh de Cologne begonnen hatte. Mit wachsendem Erfolg, erst in Berlin, dann in ganz Deutschland.

Bis zum Ende des Quartier Latin waren die Tornados häufig im Quartier Latin und machten auch 1989 dort Station. Über fünf Monate lang war das Trio zu Gast, jeweils am Montag Abend. Spätestens während dieser Zeit wuchs die Zuneigung der Tornados zu dem verruchten und dennoch liebenswürdigen Gemäuer zu einer wahren Liebe – die dann in der Übernahme des Gebäudes zum 1.1.190 gipfelte, um es zum bunten Varieté-Theater QUARTIER umzubauen, das sie von August 1990 bis Mai 1992 betrieben.

[Nach einem weiteren Betreiberwechsel bespielt seit September 1992 das Wintergarten Varieté den Saal in der Potsdamer Straße 96.]

Hinweis: Dieser Text besteht aus leicht editierten und gekürzten Auszügen aus dem Buch „Quartier Latin – Berlins legendärer Musikladen 1970-1989“, das vor kurzem im Berliner L+H-Verlag erschien und für 50 Euro im Handel zu erwerben ist. ISBN-13: 978-3939629573 Mehr Informationen zum Buch und zum Quartier Latin: http://www.quartierlatin-berlin.de

Der Autor dieses Beitrages, Henry Steinhau ist einer der beiden Autoren und Herausgeber des Buches. Er arbeitet als freier Journalist und Autor in Berlin und bloggt als hest auf freitag.de
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

hest

Journalist, Autor, Referent, Lehrkraft, Freischreiber. Wanderer & Wunderer in Sachen Medienkultur

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