Unser Weg ist das Ziel

Einkaufserlebnis Die Methoden des Einzelhandels, unser Kaufverhalten zu manipulieren, die kenne ich. Dachte ich. Bis zu dieser mysteriösen Sache mit den nummerierten Einkaufswagen

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Foto: Fred Dufour/ AFP /Getty Images
Foto: Fred Dufour/ AFP /Getty Images

Im Mega-Supermarkt. Der Einkaufswagen ist voll, ich verfrachte reichlich Lebensmittel auf das Band. Der Kassierer begrüßt mich und murmelt etwas Unverständliches, das klingt, wie: „Haben Sie auch alles bekommen?“, oder so, dabei reckt er seinen Kopf zum leeren Einkaufswagen. Doch es geht ihm gar nicht um eventuell darin Verbliebenes. Vielmehr zeigt er auf eine Nummer an der Seite des Wagens und tippt diese in die Kasse ein, danach erfasst er meine Waren.

Dieses kleine Schild am Wagen war mir gar nicht aufgefallen. Es ist so eine gestanzte Metallplakette mit einer handgeschlagenen, demnach singulären Zahl, eine Art Nummernschild. Während ich die Käufe wieder in den Wagen lege, frage ich mich: Wozu braucht ein Einkaufswagen eine individuelle Nummer – und warum ist sie für das Kassieren meiner Einkäufe von Bedeutung?

Okay, vielleicht für die Wartung: wenn der Wagen ein Makel hätte, könnte man melden, „bei Nummer 7142 schleifen und eiern die Räder“; oder „die Klappen für den Kindersitz machen Sperenzchen“. Mein Einkaufswagen ist aber vollkommen in Ordnung, ich muss nichts monieren. Wofür also tippt der Kassierer diese individuelle Wagennummer im Zusammenhang mit meinem Einkauf ein?

Wird vielleicht der am häufigsten benutzte Wagen ausgezeichnet, als Wagen des Monats? Oder bekommt der mit dem meisten Umsatz, mit den meisten Waren pro Fahrt eine Art Belohnung? Misst der Wagen vielleicht mit einem Meterzähler die zurückgelegte Strecke und das wird dann ins Verhältnis zu den eingekauften Waren gesetzt, um anhand einer ausgeklügelten Shopping-Erlebnis-Formel das Verhältnis von Gesamtverkaufsfläche zu Kundenstrecke zu Einkaufswagenvolumen und gekauften Waren pro Einkauf zu errechnen? Und wenn – wozu das alles?

Dann sehe ich auf dem Band diese Packung neuartiger „Cerealien“, die hatte ich weder auf dem Einkaufszettel noch benötige ich sie wirklich. Wenn ich es genau überlege, weiss ich eigentlich gar nicht wieso ich die … ?
Da macht es auf einmal Klick bei mir: Natürlich!
Diese modernen Einkaufswagen sind wahrscheinlich viel intelligenter und autonomer, als wir es ahnen.

Ich meine, jeder kennt das: Mitten im Einkauf stellt man seinen Wagen in irgendeinem dieser hinteren Milchprodukte-Gänge ab, weil man im Gemüseabteil noch etwas besorgen muss, also zum Eingang. Oder wo auch immer die Gemüseabteilung gerade wieder ist. Und wenn man zurück kommt, steht der Wagen plötzlich ganz woanders. Klar, man erinnert sich falsch oder vielleicht hat ein anderer Kunde ihn nur kurz zur Seite geschoben oder er stand einem Auspacker im Weg … denkste!

Wahrscheinlich fahren die Wagen ganz alleine dort hin! Weil ihnen das nämlich durch gewievte „Shopping-Experience-Consultants“ vorher einprogrammiert wurde. Geleitet von Induktionsschienen im Fußboden stellen sie sich genau dort in Position, wo Neuheiten, Angebote und Promotionartikel platziert sind – damit ich als Kunde diese auf jeden Fall sehe und dann zugreife.

Ist mir völlig klar: gerade in diesen riesigen Megamärkten gibt es eine Vielzahl an Gängen, da kommt man an bestimmten Regalen oder Truhen oder Tischen praktisch nicht vorbei. Und das finden weder die Produkthersteller noch die Händler gut. Also arbeiten sie an immer wieder neuen Tricks, wie diesem: Autonome Einkaufswagen.

Und wenn man den Wagen nun gar nicht abstellt? Dann zieht er die für ihn vorgesehene Route natürlich trotzdem durch. Und zwar führt er einen mit sanftem, motorgetriebenem Druck zu den vorprogrammierten und von den Lieferanten zusätzlich bezahlten „Hot-Stop-Spots". Dieses Führen geschieht so unmerklich, dass man es für eine Art intuitiven Impuls hält, dem man nachgibt, ohne ihn zu hinterfragen. Und auch das kennt man: nach einer Weile in so einem Riesenladen biegt man unwillkürlich und letztlich irrational mal in jenen Gang ab oder macht abrupt eine Kehrtwende zu diesem einen Regal. Aber jetzt ist es mir klar: Keine innere Stimme leitet uns dorthin sondern der Einkaufswagen selbst! Natürlich ist die Route für jeden Wagen anders, ansonsten liefen ja alle wie die Skilangläufer in einer unsichtbaren Loipe hintereinander – das fiele sofort auf.

Ja, unser Einkauf wird auf subtile Art und Weise fremdgesteuert. Und wenn wir dann (endlich) an die Kasse kommen, gleicht die Kassensoftware anhand der Wagennumer und der eingekauften Waren ab, an welchen der vorprogrammierten „Must-see“-Stationen wir tatsächlich zugegriffen haben. Aus diesen Daten ziehen die superwichtigen Supermarktvisoren haufenweise Erkenntnisse über unser Kaufverhalten, die Art der Warenpräsentation – und über die Programmierung der Einkaufswagen-Routen. Eigentlich ein sehr, sehr geiles Konzept, denke ich …

„Ähem, Entschuldigung!“ Der Kassierer reisst mich aus meinen Gedanken und bittet freundlich um's Bezahlen. Beim nachfolgenden Umpacken der Einkäufe in meine Taschen sehe ich mir noch einmal das Nummernschild des Einkaufsagens an; unter der Ziffernfolge steht der Schriftzug „i-Kart – Unser Weg ist das Ziel“. Und plötzlich erinnere ich mich deutlich, was der Kassierer vorhin gesagt hatte: „Haben Sie auch alles genommen?“

Ha! Damit hat er sich verraten. Ich weiß Bescheid, Leute!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

hest

Journalist, Autor, Referent, Lehrkraft, Freischreiber. Wanderer & Wunderer in Sachen Medienkultur

hest

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden