Soweit sie im Sejm sitzt, hat Polens Elite am 10. September abermals gegen das für Politiker geltende Webersche Prinzip "heißes Herz bei klarem Auge" verstoßen. Die "geschäftstüchtigen" Aktivitäten der Kreise um die "Preußische Treuhand", deren Forderung nach Rückgabe von Immobilien wie auch der Plan des "Bundes der Vertriebenen", in der deutschen Hauptstadt ein "Vertriebenenzentrum" zum Nachweis erlittener Nachkriegsleiden einzurichten, haben - bei allem Recht zu ernsthafter Gegenwehr - geradezu hysterische Töne nicht nur in katho-nationalen Kreisen Polens nach Kriegsreparationen provoziert. Man kann der deutschen "Vergangenheitsbewältigung" gewiss eine zuweilen auffällige Ambivalenz nicht absprechen. Aber dass im Jahr 2004 in Warscha
chau die Gespenster aus der Zeit einer "tausendjährigen Polen-Feindschaft" und des "ewigen Drangs nach Osten" wieder auftauchen, das scheint doch eher fragwürdig. Für manchen Sejm-Abgeordneten dürfte die opportunistische und quasi-patriotische Wichtigtuerei ein willkommenes Vehikel sein, Aufmerksamkeit zu erheischen und eigene Positionen aufzuwerten.Anstatt in Berlin und Warschau an der Forderungsspirale zu drehen, sollte der Frage nachgegangen werden, warum die auf beiden Seiten von der Politik wie auch der Publizistik so hochgepriesenen "besten Beziehungen zwischen Polen und Deutschland seit Jahrhunderten" in den vergangenen Monaten schlagartig in einen nervösen Schlagabtausch übergangen sind. Weshalb plötzlich die Formel strapaziert wird: "Nach 1990 ist das deutsch-polnische Verhältnis noch nie so schlecht gewesen wie zum jetzigen Zeitpunkt." Da muss doch allen Fortschritten in der vielgestaltigen Infrastruktur polnisch-deutscher Kooperation zum Trotz die gebräuchliche Formulierung von der "gelungenen Versöhnung" reichlich übertrieben gewesen sein. War sie Teil eines Wunschdenkens, das der Realität nicht wirklich stand hielt. Gar nur Selbstbetrug? Was ist mit der proklamierten "Raison d´être" nach dem "Ende des Kommunismus" in Polen, nach der "Wende" in der DDR und der zweiten "Vereinigung Deutschlands"?Es wurde immerhin eine "neue Epoche" eingeläutet! Es wurde Wert darauf gelegt, die gemeinsame Zugehörigkeit zum "erfolgreichsten Militärbündnis in der Geschichte" wie zum einheitlichen Europa zu feiern. Nicht zu vergessen die beiden deutsch-polnischen Verträge - der erste, geschlossen am 14. November 1990, bestätigte die im "Görlitzer Abkommen" zwischen Polen und der DDR 1950 gebrauchte Formel zur Oder-Neiße-Grenze wie auch den entsprechenden Wortlaut aus dem Warschauer Vertrag von 1970 zwischen Polen und der BRD. Was und wer sollte uns da noch stören, gute Nachbarn zu werden? Zumal der zweite Vertrag vom 17. Juni 1991 dies ausdrücklich forderte. Offiziell sah alles wunderbar aus. Wie der damalige Außenminister Krzysztof Skubiszewski in seinem Buch Außenpolitik und Wiedergewinnung der Freiheit von 1989 bis 1993 feststellt, waren die Bemühungen beider Staaten auf ein einheitliches und friedliches Europa gerichtet. Allerdings müsste man der Vollständigkeit halber auch auf die Erinnerungen von Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher verweisen. Die belegen nämlich, dass damals (1990/91) "etwas" unerledigt blieb. Von der deutschen Seite wurde hart verhandelt, und die polnischen Unterhändler, um einen schnellen Erfolg bemüht, willigten ein, dass "zivile Eigentumsfragen" in beiden Verträgen ausgeklammert blieben. Da liegt der Hund begraben, der heute so mächtig stinkt.Trotzdem muss gefragt werden, weshalb jene "kleinen Gruppen" in Deutschland ("ernst zu nehmende politische Kräfte" unterstützen sie angeblich nicht, wie die Bundesregierung behauptet) die hoch gelobten "gutnachbarlichen Beziehungen" zwischen Berlin und Warschau so nachhaltig stören konnten. Weiß man nicht genau, worum es geht, dann bleibt - wie immer - nur eine Antwort: Es geht um sehr viel Geld. Insofern verstehe ich nicht, warum während der ganzen Debatte in Deutschland bisher der Begriff des milliardenschweren "Lastenausgleichs" unerwähnt blieb. Da wurden die Vertriebenen doch vom bundesdeutschen Staat entschädigt, oder?Was geschehen ist, ist geschehen - die Geschichte lässt sich nicht neu oder umschreiben. Die bekannte polnische Politologin Anna Wolff-Poweska meinte am 11. September, einen Tag nach der bewussten Sejm-Abstimmung, in der Gazeta Wyborcza: "Die Deutschen müssen selbst entscheiden, mit welcher Last des Gedächtnisses sie die Reise in die Zukunft antreten möchten."Beide Regierungen, lassen sich glücklicherweise nicht verrückt machen. Auf der Website einer anderen Zeitung las ich in der Ausgabe vom 14. September die folgende, an die verantwortlichen Politiker in Berlin und Warschau gerichtete Zuschrift eines Lesers: "Knallt die Büchse der Pandora zu. Beendet den Zweiten Weltkrieg!" Vernünftig. Auch hilfreich?