Mit dem Kopf gegen eine Mauer der Lügen

25 Jahre "Solidarnosc" Viele Gewerkschafter der ersten Stunde boykottieren das Jubiläum

Ein Wunderkind der neueren europäischen Geschichte feiert seinen 25. Geburtstag. Fast überall in Polen wird das Solidarnosc-Jubiläum aufwändig begangen - katholische Hochämter, Wallfahrten, Konferenzen, Konzerte, Fußballspiele, zu guter Letzt ein Kongress in der Oliva-Halle von Danzig. Der 31. August, an dem vor 25 Jahren der 21-Punkte- Kompromiss zwischen Lech Walesa, dem Vorsitzenden des Streikkomitees in der Lenin-Werft, und Mieczyslaw Jagielski, dem Unterhändler der damaligen Regierung, unterzeichnet wurde, gilt nach einem Ende Juli vom Sejm verabschiedeten Gesetz inzwischen als Nationalfeiertag.

Papst Benediktus XVI. würdigt in einem Brief an Polens Katholiken die Gewerkschaft Solidarnosc als "Freiheitskämpferin", der US-Kongress dankt für ihren Einsatz "zur Bezwingung des Kommunismus", alle TV-Programme Polens, die öffentlich-rechtlichen wie privaten, strahlen Sondersendungen und Dokumentarfilme aus: "Hoch lebe die Solidarnosc!"

Wider den Strom

Einem Autor, der nicht Mitglied dieser 1989/90 fast Zehn-Millionen-Mitglieder zählenden Bewegung war und nicht zu den zwei Millionen Mitgliedern der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) gehörte, die sich der Solidarnosc später anschlossen, der aber als kritischer Wegbegleiter der stürmischen Geschehnisse von 1980/81 die Überzeugung vertrat, diese Gewerkschaft werde aus Polens Gegenwart und Zukunft nicht mehr wegzudenken sein - diesem Autor fällt es nicht leicht, den Jahrestag unvoreingenommen zu beschreiben. Dies um so mehr, als er vor 25 Jahren nach vielen Enttäuschungen einsehen musste, all die Auflehnungen gegen die "Verzerrungen des Sozialismus", die Polen in den Jahren 1956, 1968, 1970 und noch einmal 1976 erschüttert hatten, waren unverstanden geblieben. Ein "Realsozialismus" genanntes staatskapitalistisches System unter "Führung" von Politbürokraten aus einer monopolistischen Partei war geistig, ökonomisch und politisch am Ende seines Lateins. Ich begrüßte daher - in der gewohnten Semantik - "den neuen mächtigen Akteur aus der Arbeiterklasse" auf der politischen Bühne und maß mir sogar an, Einfluss auf den "Arbeiterflügel" der Bewegung gewinnen zu wollen. Angesichts der kolossalen Eigendynamik von Solidarnosc absolut lächerlich.

Was sich um den "unabhängigen, sich selbst verwaltenden Gewerkschaftsbund" scharte, war politisch anfangs so heterogen, dass man seinesgleichen in der europäischen Gewerkschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts kaum finden konnte. Jerzy Holzer, Autor eines Buches über die Ursprünge von Solidarnosc, erkennt auf sozialistisches und sozialdemokratisches, nationales, liberales, christliches und konservatives Gedankengut. Entstanden aus den seit 1976 bestehenden illegalen "Freien Gewerkschaften" war die Solidarnosc des Jahres 1980 zunächst eine klassische Arbeiterbewegung. Genau so, wie es Antonio Gramsci in seiner seit 1919 herausgegebenen Zeitschrift L´Ordine Nuovo beschrieben hatte, wurden von Intellektuellen politische Ideen in die Bewegung getragen, um über ökonomische und arbeitsrechtliche Postulate hinaus zu gehen. Die Wortführer kamen aus dem Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) wie von "legalen Oppositionellen" um die katholischen Monatsblätter Znak ("Zeichen") und Wiez ("Band"). Diese Gruppierungen aus den "Klubs der katholischen Intelligenz" fanden zu den Streikenden auf der Lenin-Werft, so dass (erstmals in Polens Geschichte) Arbeiter und Intellektuelle für eine gewisse Zeit als Gleiche unter Gleichen nebeneinander standen. (Damals fungierten die Intellektuellen noch als Berater, gewannen aber bald in den Führungsgremien immer größeren Einfluss.) So trat eine paradoxe und doch bezeichnende Lage ein: Die Forderungen der Danziger Arbeiter, gepaart mit dem Anspruch auf Freiheit und Menschenrechte, abgesegnet vom "Heiligen Vater", von Priestern und Bischöfen, stellten für die quasi-marxistischen Normen verhaftete Führung der PVAP eine gewaltige Herausforderung dar. Es wurde verlangt, was die Partei von ihrem Selbstverständnis her längst hätte erfüllen müssen. "Ohne Solidarnosc keine Freiheit, ohne Freiheit keine Solidarnosc", lautete seinerzeit die Parole, um eine Gesellschaft vom Kopf auf die Füße zu stellen.

Nicht nur der davon ausgelöste innere Konflikt stellte die Volksrepublik vor unlösbare Probleme. In Zentraleuropa schürte zur gleichen Zeit die sich abzeichnende Stationierung nuklearer Mittelstreckenraketen die Ost-West-Konfrontation. Die Sowjetunion sah keinerlei Veranlassung, ausgerechnet jetzt die "Breschnew-Doktrin" aufzugeben, die den eigenen Verbündeten nur begrenzte Souveränität einräumte. Hin- und hergerissen zwischen Staats- und Pakträson sowie dem Freiheitsbegehren der Polen, musste - um eine sowjetische Intervention abzuwenden, wie Wojciech Jaruzelski* in seinem neuesten Buch Wider dem Strom schreibt - am 13. Dezember 1981 "nach 16 Monaten Freiheitskarneval als minderes Übel" der Kriegszustand ausgerufen werden. Während dadurch ein Teil der Solidarnosc-Bewegung bis zum ersten "Runden Tisch" im Februar 1989 gewissermaßen "pazifiziert" wurde, ging der "harte Kern" in die Illegalität. Ende 1981 begann der "längste polnische Aufstand", wie es dazu heute im offiziellen Schrifttum der Gewerkschaft heißt.

Aus der Mode

Mit den Kompromissen am "Runden Tisch" zwischen Opposition und Staat setzte 1989 unter nun vollends veränderten internationalen Bedingungen eine Entwicklung ein, die in eine kapitalistische "Transformation" mündete. Sie dauert zwischenzeitlich 16 Jahre und ist für Chefredakteur Zbigniew Nosowski in der Juli-Ausgabe von Wiez Anlass zu der Frage: "Ist Solidarnosc aus der Mode gekommen? Wir haben stets gerufen: es gibt keine Freiheit ohne Solidarnosc. Das waren keine Schlagworte; sie enthielten eine zutiefst moralische Botschaft - auch heute noch. Aber wie ist es um unsere Freiheit bestellt, wenn es in ihr so wenig Solidarität gibt?"

Es gibt zwischenzeitlich einen beachtlichen Kreis ehemaliger Solidarnosc-Aktivisten, von denen die Zulässigkeit des jetzigen Jubiläums bestritten wird. Dort wird unterschieden zwischen der "Ersten Solidarnosc", die tatsächlich vor einem Vierteljahrhundert entstanden sei, und der "Zweiten Solidarnosc", die seit 16 Jahren existiere. Angeführt werden die Dissidenten von Anna Walentynowicz, einer Kranführerin aus der ehemaligen Lenin-Werft, die im Sommer 1980 als Aktivistin der "Freien Gewerkschaften" gefeuert wurde. Neben ihr steht Andrzej Gwiazda, einer der beiden ersten Stellvertreter Walesas als Vorsitzender des Solidarnosc-Landesauschusses. Während des Solidarnosc-Gewerkschaftstages im Herbst 1981 unterlag er bei der Wahl zum Vorsitzenden nur mit wenigen Stimmen dem von den Intellektuellen unterstützten Lech Walesa. Gwiazda, damals Diplomingenieur in einem Werk für Schiffselektronik, erschien den "beratenden" Intellektuellen zu widerborstig und selbstständig.

Nach Jahren in der Illegalität sah sich Gwiazda wie manch andere Gewerkschafter aus dem "Arbeiterflügel" von der Walesa-Gruppe an den Rand gedrängt, als die Verhandlungen am "Runden Tisch" begannen. Nur vier von den 100 Mitgliedern des 1981 gewählten Landesausschusses wurden vom Solidarnosc-Vorsitzenden für die damaligen Gespräche mit der Regierung zugelassen. Das Gros der Unterhändler kam aus der Berater-Crew der Intellektuellen. Andrzej Gwiazda galt als Außenseiter, weil er sich dem "Sieg der Vernunft" am "Runden Tisch" nicht unterwerfen wollte. Für ihn stand fest, wohin die Reise gehen sollte: In Richtung Kommerzialisierung und Privatisierung, die Polens Wirtschaft bereit erfasst hatten.

In seinen im Juli 2005 veröffentlichten Erinnerungen schreibt er. "Die politischen Eliten im Westen wie Osten steuerten zu jener Zeit dasselbe Ziel an - sie wollten ein neues, auf der neoliberalen Doktrin aufbauendes System und einen Ausstieg des Staates aus seinen bisherigen Funktionen. Die Einteilung der Welt in zwei feindliche Lager ging zu Ende und die Solidarnosc, deren Ideen sowohl mit den marxistischen wie neoliberalen Grundsätzen nicht übereinstimmten, stand dem im Wege. Die Idee der sozialen Selbstbestimmung musste kompromittiert werden, denn Polen kam eine Schlüsselposition in der begonnenen Transformationsperiode zu - allerdings in einem anderen Sinne und aus einem anderen Grund als man es heute in verfälschender Weise darzustellen versucht."

Nicht die letzten Mohikaner

So radikal wie von Gwiazda wurden bisher in Polen die Vorgänge des Jahres 1989 kaum je beschrieben. Nüchtern stellt er weiter fest: "Es ist nicht wahr, dass Solidarnosc den Kapitalismus gewollt hat. Schon gar nicht jenen wilden Kapitalismus, der seit den achtziger Jahren eine Evolution in Richtung Neoliberalismus durchlief. Die Belegschaften hatten verstanden, was Eigentum bedeutet, und fühlten sich dafür verantwortlich. Sie wussten, ihr Eigentum wurde schlecht verwaltet - das wollten sie ändern. Hätte ihnen 1989 jemand gesagt, dass sie dafür kämpfen, den Parteibonzen oder ausländischen Konzernen dieses Eigentum in die Hände zu spielen - sie wären empört gewesen. Privatisierung war nicht das Ziel der Gewerkschaft - es ging um die Bedürfnisse der Gesellschaft."

Dieser "Grundsatz", wie ihn Anna Walentynowicz kürzlich auf einer Konferenz der "Ersten Solidarnosc" in Krakau formuliert hat, wurde vollends aufgegeben. Danach befragt, ob sie denn überhaupt keine Erfolge der Solidarnosc sehe, antwortet sie entschlossen: Keine! In einem "Offenen Brief an das Europäische Parlament" vom Juli 2005, zu dessen Unterzeichnern Andrzej Gwiazda, Anna Walentynowicz und viele andere Aktivisten der ersten Stunde gehören, ist zu lesen: "... eine falsche Repräsentation unter einem vertrauenswürdigen Namen hat die Gesellschaft verwirrt und ihre Selbstorganisation zunichte gemacht. Jetzt steht der Name Solidarnosc für die Liquidierung von Industrie und Arbeitsplätzen, für nationalen Ausverkauf." Zum Schluss heißt es: "Um den Lügen und Fälschungen (der "Zweiten Solidarnosc" - H.O.) jede Glaubwürdigkeit zu nehmen, haben sich viele Teilnehmer der Streiks von 1980 und des Widerstandes gegen den Kriegszustand entschlossen, an den offiziellen Jubiläumsfeiern nicht teilzunehmen."

Anfang August fragte ich Andrzej Gwiazda, ob es eine Antwort vom Europaparlament gäbe. So naiv seien sie nun doch nicht, meinte er. Antworten bekämen sie weder vom polnischen Sejm, noch von sonst irgendwoher. Es gäbe eine offizielle Version der Geschichte und damit basta. Wie wollten sie mit ihrer Wahrheit, die anders sei als die amtliche, die Öffentlichkeit erreichen? - fragte ich weiter. Sie seien seit Gründung der illegalen "Freien Gewerkschaften" im Jahr 1976 daran gewöhnt, die Mauer der Lügen mit dem Kopf einzurennen, antwortete Gwiazda. Im Übrigen sei die Solidarnosc von 1980 die erste Anti-Globalisierungs-Bewegung der Welt gewesen. Schon deshalb könnten sie sich heute nicht wie die "letzten Mohikaner" fühlen.

Von den alternativen Gedenkfeiern der Frauen und Männer aus der "Ersten Solidarnosc" erfährt Polens Öffentlichkeit so gut wie nichts - bestenfalls ist in den Medien von einem peinlichen Kuriosum die Rede. Alle sollen nur erinnern, wie Walesa einst vor dem US-Kongress ausrief: "We are the people!"

Der Autor lebt und arbeitet als Publizist und Germanist in Krakau.

(*) Jaruzelski übernahm als Verteidigungsminister im Februar 1981 zusätzlich das Amt des Premierministers und im Oktober 1981 auch das des PVAP-Generalsekretärs.



Lech Walesa und die "Erste Solidarnosc"

August 1980 - Abkommen zwischen der Gewerkschaft Solidarnosc und der Regierung, mit dem die Gründung unabhängiger Gewerkschaften, das Streikrecht und soziale Verbesserungen zugestanden werden.

September 1980 - Sturz von PVAP-Generalsekretär Edward Gierek. Die Gewerkschaft Solidarnosc wählt eine "Dachkommission" und Lech Walesa offiziell zum Vorsitzenden.

September 1981 - auf dem Solidarnosc-Landeskongress in Danzig-Oliva werden Kompromisse mit der Regierung über das neue Mitbestimmungsrecht nur von einer knappen Mehrheit gebilligt. Der neue Premier Jaruzelski trifft sich zwei Monate später mit Walesa, um eine erneute Konfrontation zwischen der Gewerkschaft und der Regierung abzuwenden.

Dezember 1981 - die polnische Regierung verhängt das Kriegsrecht, Tausende Solidarnosc-Funktionäre werden interniert, die Gewerkschaft selbst wird verboten und Walesa in einer Villa bei Warschau unter Hausarrest gestellt.

Januar 1983 - Walesa kann an seinen Arbeitsplatz in der Danziger Lenin-Werft zurückkehren.

Oktober 1983 - dem Solidarnosc-Vorsitzenden wird der Friedensnobelpreis verliehen. Kurz zuvor war Walesa in Polen mit Papst Johannes Paul II. zusammengetroffen.

September 1986 - die Amnestie für mehr als 1.000 Oppositionelle führt zu einer Zerreißprobe in der verbotenen Gewerkschaft, Teile des "Arbeiterflügels" setzen auf konspirative Opposition, während Walesa einen nationalen Dialog befürwortet.

September 1988 - Walesa erhält vom illegalen Solidarnosc-Vorstand das Mandat für Verhandlungen mit Innenminister Kisczcak, die sich über ein halbes Jahr hinziehen und ab Februar 1989 am "Runden Tisch" stattfinden.

April 1989 - Kisczcak und Walesa unterzeichnen einen "Gesellschaftsvertrag" über interne Reformen und den Verzicht der PVAP auf ihren Führungsanspruch, zugleich wird die Gewerkschaft wieder legalisiert.

Juni 1989 - als Bürgerkomitee der Solidarnosc nimmt die Gewerkschaft quasi als Partei an den Wahlen zum Sejm teil.

September 1989 - Bildung der ersten Regierung der Volksrepublik Polen unter einem nichtkommunistischen Premierminister (Kabinett Mazowiecki).

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