Streicheleinheiten für saubere Melker

POLEN Auf der EU-Schwelle zu straucheln, käme einer nationalen Tragödie gleich

Es war auf einer Pressekonferenz, die EU-Kommissar Günter Verheugen während seiner jüngsten Polen-Visite gab, als der Gast von der sozialdemokratischen Trybuna gefragt wurde, ob er sich überhaupt vorstellen könne, die EU-Osterweiterung ohne Polen anzugehen. Verheugen war um eine aufbauende Antwort nicht verlegen - die Frage sei erstaunlich. Es bedürfe schon einer erheblichen Phantasie, sich eine Aufnahme der ersten EU-Aspiranten vorzustellen und Polen auf der Türschwelle straucheln zu sehen. Die Kraft dazu besitze er nicht. Polen dürfe vielmehr eine Schlüsselrolle beanspruchen - allein Konditionen und Datum des Beitritts blieben fraglich.

Polens »Europa«-Komitee, Premier Buzek und Präsident Kwasniewski wie auch alle im Sejm vertretenen Parteien hielten sich bisher in Sachen EU an das fast verzaubernde Datum 1. Januar 2003. Inzwischen haben sie alle zur Kenntnis nehmen müssen, dass mit dem Jahr 2005 ein erster möglicher Aufnahmetermin ansteht - doch auch dafür gibt es keine Garantien. Der für die Erweiterung zustände EU-Kommissar Verheugen gab zuletzt mehrfach zu erkennen: die Kommission wolle - nachdem die inneren Reformen der EU durchgestanden sind - die Osterweiterung an das Ende ihrer Legislaturperiode schieben. Und die läuft eben erst 2005 aus.

»Ihr habt ja euer Schicksal in den eigenen Händen«, heißt es tröstend aus Brüssel. Für Polens Politiker, die - abgesehen von extrem nationalistischen Außenseitern, denen bei der Präsidentenwahl Anfang Oktober kaum ein Prozent der gültigen Stimmen geblieben war - unisono den EU-Beitritt als zweite Säule der Staatsräson betrachten (die NATO-Aufnahme war die erste), wäre es schier unbegreiflich, wenn das von fast 40 Millionen Menschen bewohnte größte Land unter den Beitrittsanwärtern nicht zur Gruppe der »Erstaufgenommenen« gehören könnte. Freilich ist man sich auch dessen bewusst: das größte Land trägt zugleich die größten Konflikte in den Verhandlungspoker mit Brüssel, sei es bei der Umweltpolitik oder Landwirtschaft, der Umstrukturierung der Energiepolitik (und überhaupt des ganzen Montankomplexes) oder beim Streit um Übergangsfristen für den freien Zugang sowohl zum EU-Arbeits- als auch zum polnischen Immobilienmarkt. Man weiß auch, dass in allen ökonomischen Bereichen für die Angleichung an EU-Standards Milliarden über Milliarden Euro gebraucht werden, auf die man voller Ungeduld wartet und dabei um das triftige Argument nicht verlegen ist, dass es vor allem eines politischen Willens der EU-Hierarchie bedürfe, um »die Einigung Europas« zu vollenden.

Doch seit Polen 1992 den Status eines EU-assoziierten Landes genießen kann, hat sich die Großwetterlage in Europa wesentlich verändert. Noch immer gibt es viele Politiker aus dem Solidarnosc-Lager, die meinen, für die besonderen Verdienste Polens bei der »Zertrümmerung der Kommune«, (Mauerfall inklusive) müsse es fortan für die - historisch gesehen - allerersten und verdienstvollsten Freiheitskämpfer Osteuropas eine Sonderration Konzessionen bei den Verhandlungen mit der EU-Kommission geben. Doch Kommissar Verheugen war bei seinem erwähnten Besuch vorerst nur bereit, Polens Treue zum lateinischen Kulturkreis durch Inspektionen der Molkereien im Dorf Lazy (Ostpolen) zu belohnen und zu testen, ob die Milch bei der Verarbeitung nicht etwa durch unhygienische Umstände versaut wird. Auch unterzog er in Bobrowniki die Grenze zu Belarus einem »Undurchlässigkeits«-Check, um sich davon zu überzeugen, dass die Festung Europa straff geschnürt und Hilfsgelder wie technische Mittel von Bundesgrenzschutz und EU-Kommission durch die polnische Stra Graniczna (Grenzwacht) nicht vergeudet wurden. Verheugen hinterließ bei der Abreise, dass er bezüglich einer baldigen EU-Reife Polens »bedingt optimistisch« sei. Im Jahresbericht der Kommission über die Beitrittsverhandlungen werde die Formel zu finden sein, dass Polen große Fortschritte in Richtung EU gemacht habe. - Die »politische Klasse« in Warschau fühlt sich gestreichelt.

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