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Man kennt das ja seit einigen Jahren. Um genauer zu sein seit der WM 2006 in Deutschland: tausende bis hunderttausende meist junge Deutsche versammeln sich auf den zentralen Plätzen jeder nicht allzu kleinen Stadt Deutschlands zum Public Viewing. Anschließend ziehen sie dann nach den zuletzt sehr häufigen Siegen freudetrunken durch die Innenstädte oder veranstalten Autokorsos. Deutschland zu Zeiten großer Fußballturniere ist ein Land im „Schland-Fieber“.
„Schland!“: Eine Wort-Degeneration entstanden aus Patriotismus, Trunkenheit und einer gehörigen Portion Assitum. Trifft man Trunkenheit und Assitum auch außerhalb solcher Veranstaltungen mehr oder weniger häufig, beläuft sich der Patriotismus bisher glücklicherweise noch hauptsächlich auf Fanmeilen-Patriotismus à la Fahnen, Shirts und Blumenketten in Schwarz-Rot-Geil. Trotzdem ist er mehr als anstrengend, wie das ganze Verhalten derartiger Schland-Anhänger. Und dennoch scheint er bei großen Fußballturnieren derzeit leider unvermeidlich. In Deutschland zumindest.
Von „Kreich!“ weit entfernt
Geht man dieser Tage nämlich in Frankreich auf die Straße, ist von einem vergleichbaren Phänomen nicht im Geringsten etwas zu erkennen. Keine tricolore in den Gesichtern angetrunkener Jugendlicher oder als Fähnchen an Autos. Kein riesiges Public Viewing. Alles geht einfach seinen gewohnten Gang. Wenn man es nicht besser wüsste, man würde nicht denken, dass zurzeit Fußball-EM ist.
Das ist verdammt angenehm und zudem noch überaus erstaunlich, ist ein starker Patriotismus in Frankreich normalerweise doch ziemlich gang und gäbe. Die Wochen der EM daher aber dafür zu nutzen, seinem Nationalstolz noch einmal besonders starken Ausdruck zu verleihen, liegt den Franzosen scheinbar jedoch fern.
Erstaunlich, aber erklärbar
Was zunächst aber so erstaunlich wirkt, hat bei genauerer Betrachtung gute Gründe. Der Nächstliegende ist wohl der: Im Gegensatz zur Deutschen Nationalmannschaft, die bei den letzten Turnieren immer ziemlich erfolgreich abschloss, schieden Les Bleus zuletzt zweimal sang und klanglos mit nur einem Punkt in der Vorrunde aus. Dass sich daraus keine ‚nationale Begeisterung’ speisen kann, scheint offensichtlich. Und so üben sich auch bei dieser EM, wo die französische Elf zumindest als Geheimfavorit gilt, die meisten Franzosen in Zurückhaltung, was das öffentliche zur Schaustellen und Bejubeln ihrer Farben betrifft. Eine Tendenz, an der sich auch nach dem 2:0-Sieg gegen die Ukraine nichts geändert hat.
Ein anderer Grund, der letztlich aber wohl genau so schwer wiegen dürfte, lässt sich aus einer einfachen rhetorischen Frage herauslesen: Wieso sollten sie denn unbedingt ein derartiges Ereignis dazu nutzen, um ihrem Patriotismus Ausdruck zu verleihen?
Denn anders als in Deutschland, wo der Deckmantel Fußball zu EM- und WM-Zeiten gerne dazu genutzt wird, längst für überkommen gehaltenen Patriotismus bis Nationalismus auszuleben, besteht dazu in Frankreich einfach keine ‚Notwendigkeit’. Wo bei fast jeder Gelegenheit die Marseillaise gesungen und die Größe von Nation und Republik gepriesen wird, ist es einfach nicht nötig, sonst (aus Scham?) verborgen gehaltene Gefühle im Rahmen des beliebten Ballsports zum Ausdruck zu bringen. Im Gegenteil, widersprächen derartige Scham und Legitimierung doch regelrecht dem eigenen Nationalstolz, der noch immer ziemlich verbreitet ist in Frankreich.
Im Gegensatz zu Deutschland, braucht es daher derartiger Ventile patriotischer Gefühle einfach nicht. Das macht in dieser Hinsicht das Leben hier im Vergleich zu deutschen Städten zurzeit vielleicht etwas angenehmer. Der mehr oder weniger offen zur Schau gestellte französische Patriotismus in der restlichen Zeit des Jahres nervt aber trotzdem ungemein.
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Kommentare 2
Es mag zwei Jahre her sein als ich in Kukuiho‘olua war um dort am Loa Campus der Hawaii Pacific University ein paar Umfragen zum Thema Nationalstolz machen mußte .
Ich kann bestätigen das selbst dort der Patriotismus eine hohe Stellung einnimmt - nur wer will behaupten das mich das jemals genervt hätte ?
Am 4.Juli hängen überall Fahnen und Flaggen aus - überall tragen die Leute die nationalen Farben .
Es nervt nicht nur nicht - nein - es ist sogar schön mit an zu sehen wie alle zusammen stehen für Ihre Idee eines Staates , eines Landes ...einer Nation .
Warum sollte mich so etwas nerven ? Ist doch eine abgefahrene Sache wenn sich wildfremde in die Arme fallen , richtig einen drauf machen und gegenseitig ein Bier spendieren oder auch mal Owsleys blaue Turner austauschen .
Das ganze eingerahmt in ein buntes Fahnenmeer voll von tiefer und zufriedener Chilligkeit .
Nur zu hoffen das wir in unserem Land auch wieder eine Party machen die stark an die psychedelische Belastungsgrenze geht .
Drop in und tune out mit freudigem Hurra Patriotismus .
Und keine Angst niemand wird diesesmal verletzt , niemand wird ganzen Generationen deswegen das Licht ausknipsen .
Es geht um die Idee Mann - um die Zusammenhalt und den ganzen Pudding sowieso .
Ein Hoch auf diese Nationen und ein Dank für deren Ode an die Freude .
Wenn jetzt noch der Himmel aufklart , die deutschen Fahnen sich im seichten Wind hin und her wehen , 35 Grad auf dem Thermometer steht - dann ab nach draußen .
Ab zu den Leuten - ab auf den Bus .
Für Deutschland und für die Idee die Fahne in den Wind zu halten .
Schön wieder hier zu sein in meinen /unseren geilen Schland .
Der geilsten Republik die wir je hatten . Far out
„Nur zu hoffen das wir in unserem Land auch wieder eine Party machen die stark an die psychedelische Belastungsgrenze geht .“
Party. Gerne. Nur was hat eine Party, die an "die psychedelische Belastungsgrenze geht" mit Fähnchenschwänken und wahlweise "Schland!", "U-S-A" oder "Vive la France!" Brüllen zu tun?
Es mag zwar nett klingen, wenn eine bestimmte Gruppe sich zueinander bekennt und zeigt, sie sehr sie zusammen steht, doch ist damit quasi zwangsläufig auf der anderen Seite eine Exklusion derer verbunden, die nicht zu dieser Gruppe gehören. Es entsteht dadurch immer ein "Wir" und "Die". Auch wenn die Anlässe dafür so banal sein mögen wie Fußball, lässt sich einfach nicht sagen, welche Folgen so etwas potentiell nach sich ziehen könnte, wenn die Kategorie „Nationalität“ auf diese Art und Weise bei uns wieder weiter an Bedeutung gewinnen würde.
„es ist sogar schön mit an zu sehen wie alle zusammen stehen für Ihre Idee eines Staates , eines Landes ...einer Nation .“
„Für Deutschland und für die Idee die Fahne in den Wind zu halten.“
Welche gemeinsame Idee ist jetzt damit noch mal gemeint?
Aber scheint ja, als hätte da jedes Land eine ganz andere, sonst wüsste ich nicht, wieso die Gemeinschaft stiftende Kategorie unbedingt die Nationalität sein sollte…
Ganz allgemein erinnert dieser extrem ausgeprägte Nationalstaatsgedanke aber wohl eher ans 19. Jahrhundert denn an das Jahr 2012.
Ich selbst jedenfalls hätte wohl kein besseres Beispiel geben können für die immer stärker aufkommenden und extrem nervenden schwarz-rot-geilen Schland-Fantasien, als Du/Sie es mit diesem Kommentar getan hast/haben. - Zumindest danke dafür.