Stille Helden

Tag gegen den Lärm. Nicht nur akustischer Lärm setzt uns zu. Auch der Tinitus des Kapitalismus klingelt immer lauter und zermürbender in unseren Köpfen. Ein Plädoyer für mehr Stille.

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Stille Helden

Foto: KHALED DESOUKI/ AFP/ Getty Images

Samstagvormittag. Konsumgewitter in der Innenstadt. Ich bin mitten hineingeraten. Eine Welt voll Einkaufstüten und hektischer Menschen. Mode, Elektronik, Unterhaltung, Accessoires. „Kaufen – marsch, marsch“, tönt mir der alte unverblümte Werbeslogan eines Konzerns im Ohr. Genau das tun die Leute hier. Unzählig viele Shopping-Meilen werden zurückgelegt und dabei wird viel gekauft. Auch ich bin zum Kaufen hergekommen. Auf der Suche nach einer CD habe ich mich ins Getümmel begeben. Nun wird mein Blick, der eigentlich nach Orientierung sucht, von tausend Oberflächen angezogen und verwirrt. Plakate und Produkte drängen sich auf oder ziehen beinahe magisch an. Phantasien werden angeregt, Wünsche geweckt und Verlangen gekitzelt. Visuelle Reize stilisieren selbst Produkte der einfachsten Art zu Lustobjekten. Wenn optische Eindrücke eine Akustik hätten, würde man hier aus jeder Ecke angeschrien verführerisch beflüstert oder einfach nur beschwatzt. Und es ist wirklich so, als ob die Dinge, die Eindrücke hier eine Lautstärke in mir erzeugen. Es sind nicht nur die markigen Sprüche der Werbetafeln, die wie alles Lesbare gewissermaßen im Kopf als Sprache klingen; es sind auch die Bilder und Plakate mit ihren aggressiven Farben und aufdringlich-eindringlichen Motiven, die mich unhörbar, aber fühlbar anschreien.

Der Tinnitus des Kapitalismus

Ja, es gibt Lärm jenseits der Akustik. Lärm, dessen Lautstärke nicht in Dezibel gemessen werden kann: Der innere Lärm, der dann entsteht, wenn zu viele, zu grelle Eindrücke sich aufdrängen. Mentaler und emotionaler Lärm. Jeder kennt ihn. Wer wurde in diesem Land noch nie von einer Bildzeitungsschlagzeile angeschrien? Wem haben sich noch nie schockierende Bilder aus den Medien aufgedrängt? Wer wurde noch nie von einem Werbeplakat lautstark angemacht? Jede Werbetafel - und von diesen wird der städtische Raum immer voller - wirkt wie eine mentale Lautsprecherbox. Mal lauter, mal leiser aufgedreht. Ganz abgesehen von der wirklich akustisch hörbaren Werbung, die auf uns eintönt: „Wir können nur billig!“, „Da werden Sie geholfen“, „Wir geben ihrer Zukunft ein Zuhause“, „Sind wir nicht alle ein bisschen Bluna?“, „Nichts ist unmöglich“, „Leckerleckerlercker“, „Gibt’s auch hier im Kino“, „Come in and find out“. Der Tinnitus des Kapitalismus klingelt immer lauter in unseren Köpfen.

Zu viele Frequenzen

Doch nicht nur der Markt im engeren Sinne, auch die Medien, die Politik und die Kultur tosen und brausen, dass einem das Hören und Sehen vergeht. Um gehört zu werden, um aufzufallen, zu überzeugen und sich durchzusetzen, wird der Lautstärkeregler immer weiter gedreht. So platt es klingen mag: letzten Endes geht es dabei meist um Ansehen, Macht und Geld. Es ist laut geworden in Deutschland. Zu laut! Beide Sorten von Lautstärke setzen uns zu: Zum einen die akustische Lärmentwicklung, die seit Beginn der Menschheit stetig zunimmt und mittlerweile schon viele Menschen krank gemacht hat; zum anderen der unhörbare, mental-emotionale Lärm. Beide gehen Hand in Hand. Emotionaler Lärm drückt sich meistens auch akustisch lautstark aus. Aber eben auch in anderen Formen. Dann ist er zwar nicht hörbar laut, aber er lärmt gewissermaßen trotzdem, erzeugt innerlichen Lärm. Er ist ebenso schädlich, ja wahrscheinlich noch viel schädlicher. Denn das Eigene, das Individuelle eines Menschen, und damit die Vielfalt der Ideen und Träume, die ein Land braucht, werden durch diesen Lärm belagert. Als Papst Benedikt XVI. zum ersten Mal in Deutschland war, beklagte er, dass wir Gott nicht mehr hören könnten, weil wir zu viele Frequenzen im Ohr hätten. Man mag darüber streiten, ob und wie Gott zu hören ist, und ob man ihn früher besser hören konnte. Aber als der ehemalige Papst im Weiteren davon sprach, dass mit dieser Frequenzüberlastung ein Verlust von Wahrnehmung einhergehe, konnte ich ihm zustimmen. Denn wie nah kann man noch bei sich sein, wie viel hört man noch von seiner eigenen (inneren) Stimme bei diesen vielen Frequenzen und ihrer Lautstärke? Gute Gedanken brauchen Stille. Wirkliche Kommunikation braucht einen ruhigen Ort. Deshalb wird für eine zukunftsfähige Gesellschaft der Ausschaltknopf zur essentiellen Bedienoption. Ja, ich wünsche mir die Generation, die den Mut hat, die Geräte auszulassen. Die Generation, die die Welt mit eigenen Augen sieht – ohne Bildschirmfilter. Eine Generation, die den Lärm der Informations- und Medienwelten überwindet und Stille zulässt, um klarer zu sehen. Das meint kein weltabgewandtes Insichgekehrtsein – das bedeutet: sachliche, bedachte Information und Informationsrezeption fernab einer Informationsflut, die uns bisher noch mit ihren emotionalen und sensationslüsternen Wellen überrollt.

„Quiet Is The New Loud“ ist der Titel einer CD, die mir auf meiner Suche in die Hände fällt. Der Titel ist programmatisch für die Stilrichtung mehrerer junger Bands, die einer lauten Welt stille Töne entgegensetzen. „Neue Stille als Abwehr“ ist in den Rezensionen der Musikpresse zu lesen. Das passt ganz gut zu meinen Gedanken. Ich kaufe die CD und setze mir beim Verlassen des Ladens die Kopfhörer auf. Stille Musik umgibt mich. Sie schirmt mich ab von dem Getöse der Stadt. Ich fühle mich nicht mehr involviert in den ganzen Trubel um mich herum, verwandle mich vom Teilnehmer zum stillen Beobachter. Vom Beobachter zum Träumer. Ich träume von einem stilleren Deutschland. Träume von leiserem Verkehr. Von weniger gestressten Menschen und von so kleinen Dingen, dass die Radiosender wieder kurze Pausen zwischen den Liedern lassen und Mobiltelefone keine Charts mehr plärren.

Vergangenheit und Zukunft vertragen keine Lautstärke

Ich schlendere durch die Straßen. Als ich an einem Kiosk vorbeilaufe, sehe ich Adolf Hitler. Streng und mürrisch blickt er mich an, den rechten Arm stramm zum Gruß erhoben. Er begegnet mir fast jeden Tag – in den Medien. Diesmal, wie so oft, auf der Titelseite des Spiegels. Zusammen mit anderen Magazinen und Zeitungen sind das sozusagen mindestens „gefühlte zwei Hitler-Titelseiten pro Monat“, wie es Harald Schmidt einmal treffend ausdrückte. Auch die Fernsehkanäle hallen von Volksempfängergebell, von Stiefeln im Gleichschritt und Fliegeralarmsirenen. Ein enormer Lautstärkefaktor in Deutschland. Vielleicht schaffen wir es, diese Lautstärke zu drosseln. Vielleicht können wir Hitler, der immer noch so allgegenwärtig durch die Programme schreit, dort zum Schweigen zu bringen. Ohne dass seine Abwesenheit in dieser Form zum Vergessen führt. Sondern dass fernab von dieser lauten und deshalb irgendwann ermüdenden Art begriffen wird, was sich nie mehr wiederholen darf. Kein Schweigen, aber ein nachdenklicher und ernsthafter Umgang mit der Geschichte ist damit gemeint. Vielleicht können die Lektionen der Zeit in stillerer Weise eindrücklicher vermittelt werden.

Auch die Fragen der Zukunft sind so sensibel, dass sie kein leeres, lautes Getöse vertragen. Besonders in den Bereichen, die das menschliche Leben betreffen, werden wir mit Fragen und Tatsachen konfrontiert, die so sensibel sind, dass sie keinen Lärm vertragen, der durch die Angst um Wählerstimmen, durch das Mahnen um Wirtschaftswachstum, durch Dogmatik oder Bemühungen um Popularität erzeugt wird. In Zukunft wird in Deutschland dieser Lärm um wichtige Fragen hoffentlich auf so einem Level gehalten, dass man noch diejenigen hören kann, die sich lange und ernsthaft um Antworten bemüht haben. Erst dann kann wirkliche Diskussion stattfinden und gehandelt werden.

Stille als Luxus

Langsam führt mich mein Weg aus der Innenstadt hinaus in Richtung der Wohngebiete am Stadtrand. Hier an den Hügeln, die die Stadt umgeben, stehen altehrwürdige Bürgerhäuser und moderne Villen. Vor den Domizilen parken teure Autos. Viele von denen, die hier wohnen haben ihr Geld, weil es da unten in der Stadt in dem Maße lärmt, wie ich es beschrieben habe. In ihren Häusern, Autos, Pools und Suiten steckt das Übermaß an Geld, das an anderen Orten der Stadt und der Welt fehlt. Aber vielleicht sind diese Dinge gar nicht so sehr aus Geltungssucht, aus Lust am Reichtum angeschafft worden, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Vielleicht ging es den Bewohnern dieser teuren Häuser vielmehr auch darum, sich gegen den Lärm der Welt abzuschotten. Vielleicht sehnten sie sich danach, einen Platz der Stille zu besitzen, um sich vom Rauschen der globalen Ströme, an denen sie sitzen, zu erholen; sich wenigstens eine Nacht lang in ihren weitläufigen Schlafzimmern und Bädern dem Lärm des Marktes, den Zuflüsterungen der Effizienz entziehen zu können. Stille als Privileg. In dem Land, von dem ich träume, ist Stille kein Luxusgut. Vielmehr eine Art ungeschriebenes, aber allgemein anerkanntes Grundrecht. In diesem stilleren Deutschland steht es völlig außer Frage, dass es einen Tag in der Woche gibt, an dem es ruhiger ist als sonst. Ein Tag, an dem die Arbeit ruht und menschliche Begegnungen an die Stelle von Geschäftsbeziehungen treten. Ein Punkt in der Woche, an dem alle die Möglichkeit haben, zur Ruhe zu kommen. Ja, ein Tag, an dem jeder ausreichend Zeit für sich, für Familie und Freunde hat, ist für ein Gemeinwesen so wichtig, dass es in dem Land, von dem ich träume, zwei davon pro Woche gibt.

Was wirklich zählt

Ich bin auf meinem Weg ganz oben auf dem Hügel angekommen. Hier stehen die letzen Häuser der Stadt, bevor dort hinten der Wald anfängt. Teile des Baumbestandes am Waldrand sind gefällt worden. Eine große Tafel kündigt das Entstehen neuer exklusiv und naturnah gelegener Immobilien an. Nicht nur hier, sondern überall im Land muss die Natur weichen. Über 100 Hektar freie Landschaft werden nach Information des Bund für Umwelt und Naturschutz täglich in Deutschland verbaut oder von Verkehrswegen zerschnitten; das entspricht einer Fläche von 125 Fußballfeldern pro Tag. So wird auch die Stille der Natur wird immer weiter zurückgedrängt. Eine Stille, auf die viele Menschen schon lange nicht mehr gelauscht haben. Wer den Lärm der Stadt kennt, ist oftmals nur noch gelangweilt von der Stille, die über weiten Landschaften liegt. Der Lärm hat das Gefühl überlagert, dass hier etwas Wunderbares gefährdet ist. Ich setze mich auf eine Mauer und blicke auf die Stadt, nehme die Kopfhörer ab und lausche auf das Rauschen dort unten. Ich denke an ein Deutschland in der Zukunft und wünsche mir, dass dort eine stille Generation lebt. Die Generation, die keinen mental-emotionalen Lärm verbreitet und ohne schrille Akustik und grelle Optik auskommt, weil sie weiß, was sie tut und deshalb frei von dem Zwang ist, auffallen zu müssen. „Ich mag keine Helden. Sie machen mir zu viel Lärm in der Welt“ hat Voltaire einmal gemeint. Das wird er über die Helden der Zukunft nicht mehr sagen können. Die Helden der Zukunft werden stille Helden sein. Ohne großes Aufsehen werden sie auf ein stilleres Land hinwirken. Durch den Rückgang des Lärms wird sich nach und nach ein Bewusstsein ausbreiten für das, was wirklich (über-)lebenswichtig für uns ist: Es werden wieder eigene Träume sein, die die Menschen träumen und sie werden die Ruhe besitzen, diese zu verwirklichen. Der Hilfeschrei der Natur wird gehört werden, und wir werden auf-hören, unsere Lebensgrundlage zu zerstören. Und nicht zuletzt wird die neue Stille dafür sorgen, dass all die weiteren Fragen, Gefahren und Chancen, welche die Zeit auf uns zuführt, rechtzeitig wahrgenommen und angegangen werden.

Langsam wird das Rauschen der Stadt ein wenig schwächer. Der Feierabendverkehr ebbt ab. Ich sitze noch ein wenig da und genieße das Abendlicht über den Häusern. Dann irgendwann stehe ich auf und mache mich weiter auf den Weg. Mit leisen Schritten.

Der "Internationale Tag gegen den Lärm" findet seit 1998 einmal jährlich im April statt. 2013 war es der 24. April. Die Deutsche Gesellschaft für Akkustik informiert damit über Lärm und seine Ursachen sowie dessen Auswirkungen.

Der Schreiber des Essays hat diesen Tag zum Anlass genommen um gegen eine ganz spezielle Form von Lärm anzuschreiben.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
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