Als der Sozialwissenschaftler und Journalist Peter von Haselberg 1949 aus dem Exil nach Deutschland zurückkehrte, wurde er am Frankfurter Institut für Sozialforschung einer jener Auswerter der 6.392 Schreibmaschinenseiten langen Protokolle von Gesprächen 1.635 Nachkriegsdeutscher in 121 Gruppen. Ziel des Megaprojektes „Gruppenexperiment“: die mentale Verfassung der Deutschen zu beschreiben, die wenige Jahre zuvor überwiegend noch Täter oder Mitläufer des NS-Staates gewesen waren. Mit Blick auf die Sprache der Interviewten konnte Haselberg „sedimentierte Verhaltensweisen“ freilegen, mit deren Hilfe sie „ein Gefühl persönlicher Schuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus abwehrten“, wie es in seinem erst jü
Nicht einfach nur Protestpartei
Partei Kein Zufall: Mit einer neuen Studie kann belegt werden, dass heutige AfD-Hochburgen sehr häufig in Gebieten liegen, in denen die NSDAP einst stark war. Was sind die Gründe dafür?
Hilmar Höhn
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52;ngst veröffentlichten Manuskript heißt.Mit der Verdrängung jener Schuld ging ein bockiger Blick nach vorn einher: „Man will uns nicht hochkommen lassen“, klagten sie über die Politik der Alliierten. „Wir leben noch, und unsere Generation wird noch länger leben, und wir werden der Jugend immer wieder ins Ohr sagen: Das haben die mit unseren Leuten getan, die haben uns eben ausgerottet und nun wollen sie uns wieder ködern“, so eine Stimme, die von Haselberg zitierte.Zeitsprung: Als die Alternative für Deutschland (AfD) nach einer Serie von Erfolgen bei Landtagswahlen 2017 mit 12,6 Prozent der abgegebenen Stimmen in den 19. Deutschen Bundestag gewählt wurde, ging das große Rätselraten los, wie denn der Erfolg zu erklären sei. Eine Forschergruppe um den Bielefelder Sozialpsychologen Andreas Zick etwa warf die Frage auf, wie es komme, dass „gerade in Regionen mit geringem Ausländeranteil rechtsextreme Einstellungen und Handlungen so verbreitet“ seien. Ihre Erklärung: Die AfD habe im Osten einen „Mythos von Überfremdung“ gesät und Stimmen geerntet. Das konnte jedoch nicht erklären, warum dieser Mythos, mit dem die Rechtsradikalen die ganze Republik befeuerten, nicht überall auf fruchtbaren Boden fiel. Auch sozio-ökonomische Erklärungsversuche führten nur zu bedingt schlüssigen Ergebnissen. Im Milieu der sozial Deklassierten ging die AfD bei der Bundestagswahl 2018 zweifellos als Wahlsiegerin hervor. Aber auch in der bürgerlichen Mitte, einst Heimat der Union, holte sie mehr als zwanzig Prozent. Selbst in der Oberschicht konnte die Partei ihren Stimmenanteil gegenüber 2013 auf acht Prozent verdoppeln. Gesagt wurde auch, die Ergebnisse seien primär ein Ausdruck von Protest gegen die etablierte Politik und die demokratischen Parteien täten gut daran, AfD-Themen aufzugreifen.Der braune Sumpf trocknet nicht ausDagegen warnte der Meinungsforscher Manfred Güllner: Wählerinnen und Wähler der AfD lehnten mehrheitlich den demokratischen Konsens ab und verträten rechtsextreme Positionen. Es gebe in Deutschland einen braunen Sumpf, der nicht austrockne.Aber warum nicht? Warum konnten rechte Parteien im Westen, in 70 Jahren Bundesrepublik Deutschland, immer wieder und scheinbar aus dem Nichts zum Teil beachtliche Wahlerfolge erzielen? Die Sozialistische Reichspartei war bis zu ihrem Verbot 1952 in Landtagen und im Bundestag vertreten, die Deutsche Partei gehörte bis 1961 mit Unterstützung der CDU dem Bundestag an, die NPD schaffte es in sieben Landtage und 1969 nur knapp nicht in den Bundestag. Zwei Jahrzehnte danach erschienen die Republikaner auf der Bildfläche mit starken Ergebnissen in Bayern, Baden-Württemberg und bei einer Europawahl. DVU und NPD wurden mit teils mehr als zehn Prozent in ostdeutsche Landtage gewählt und setzten sich dort fest, bis die AfD sie von 2013 an ablöste.Warum also ist das so? Es ist keine Neuigkeit, dass das Wahlverhalten durch die politische Sozialisation im Elternhaus und dem Umfeld in der Jugend geformt wird und über Jahrzehnte, wenn nicht ein Leben lang, recht stabil bleibt. Die Annahme, eine bestimmte Geisteshaltung existiere nicht, weil sie nicht im Parament vertreten sei, ist ein fataler Irrtum. Ihr kultureller Kern kann fortbestehen; das hätte man mit Blick auf die „Gruppenuntersuchung“ wissen können, über deren Ergebnisse Theodor W. Adorno schrieb: „Wir schauen jetzt auf das Weiterleben der faschistischen Ideologie.“Placeholder image-1Placeholder image-2Und die zeitigt bis heute Wirkung: Die Wahlergebnisse der AfD bei den beiden jüngsten Bundestagswahlen liegen in einer Linie, die sich bis zu den Reichstagswahlen 1933 ziehen lässt. Eine Gruppe von Wirtschaftshistorikern um Davide Cantoni hatte schon mit Blick auf die Bundestagswahl 2017 regionale Wahlergebnisse von AfD und NSDAP verglichen. Ergebnis: Wo die Hitler-Partei überdurchschnittlich gut abschnitt, war auch die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich 2017 eine AfD-Hochburg finden würde. Umgekehrt waren die Wahlergebnisse der AfD dort häufig niedrig, wo schon die NSDAP 1933 trotz Wahlkampfterrors nicht punkten konnte.Zufall? Bei der Bundestagswahl 2021 wurde die Kontinuität noch klarer sichtbar, wie die Forschenden in einer neuen, noch unveröffentlichten Studie nachweisen. Die Auswertung der dem Freitag vorliegenden Rohdaten lässt keinen anderen Schluss als diesen zu: Die Hochburgen der AfD sind vielfach Hochburgen der NSDAP gewesen. Die faschistische Ideologie hat 70 Jahre überlebt. Das gilt für den Süden des heutigen Rheinland-Pfalz wie für den Odenwald, den Schwarzwald und die Gegend nordöstlich von Stuttgart, die Gebirgsgegenden von Sachsen oder den Süden Brandenburgs. Das gilt nicht für einige Gegenden in Norddeutschland. Auch diese Abweichungen erklärten Cantoni und Kollegen in ihrem Bericht über die Bundestagswahl 2017. Wo, wie im Norden, überdurchschnittlich viele deutsche Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Heimat fanden, setzte sich ein Narrativ durch, das die Vorherrschaft der Nazi-Ideologie durchbrach.Und die vielen Kontinuitäten, wirklich kein Zufall? Um sicherzugehen, untersuchten die Forscher, ob sich ein vergleichbarer Zusammenhang bei der Bundestagswahl 2013 herstellen ließ, als die AfD noch als Anti-Euro-Partei antrat. Ergebnis: Erst mit dem 2015 vollzogenen Schwenk ins Lager des Rechtsextremismus punktet die AfD in den einstigen Nazi-Hochburgen.Narzissmus und FamilieWie aber werden Erzählungen weitergereicht, ohne dass Institutionen wie Parteien oder Stiftungen zur Verfügung stehen? Wie wird, salopp gesprochen, der Fluch des Altnazis, den von Haselberg hervorgehoben hat, tradiert? Es gibt zwei Formen der Weitergabe: die von Generation auf Generation bewusst betriebene Weitererzählung hinter vorgehaltener Hand von den angeblichen Vorzügen des NS-Staates.Und es gibt die unbewusste Weitergabe von Schuldverstrickungen und Mitläufertum. Die Psychologie geht davon aus, dass Täter und Mitläufer ihre Integration in das NS-Regime verdrängten, die häufig positiv erlebte Vergangenheit geradezu derealisierten. Die Sozialpsychologin Angela Moré spricht „von einer schweren kollektiven Kränkung“, als die die Deutschen von 1945 ihre Umkehrung von Herrenmenschen zu Verlierern erlebten. Das narzisstische Projekt lebte fortan im Ich fort, wie Jan Lohl es erklärt, bleibt an einem sicheren Ort. Die einstigen Mitglieder des NS-Systems wehren sich gegen kritische Nachfragen ihrer Kinder. Und so verinnerlichten diese die Tabus der Tätergeneration.Deren Abwehr erzeuge in den Enkeln der Täter das Bedürfnis nach positiven „Familienmythen“ entlang der Vorstellung, die eigenen Großeltern seien keine Verbrecher, Nazis oder mordende Angehörige der Wehrmacht gewesen. Doch bei allem Wunsch nach einer „positiven emotionalen Kontinuität zwischen Enkeln, Eltern und Großeltern“ spürten die Enkel, so Lohl, dass da noch etwas ist, wonach man besser nicht frage. So verschwindet die historische Tatsache eines Terrorregimes, in dem sich Millionen Deutsche in Schuld verstrickt hatten, hinter dem Nebel eines verbreiteten Bedürfnisses, die eigenen Familien in Unschuld, als Opfer oder gar als Widerständler zu definieren.Eine Ideologie der MenschenfeindlichkeitSo entstanden Echoräume, in welchen die nationalistischen, ausländer- und modernisierungsfeindlichen Parolen der AfD ihren Widerhall finden. In diesen Echoräumen sind heute, anders als vor einigen Jahrzehnten noch, der NS-Staat und der Hitlerkult keine Referenz mehr, auf die sie sich beziehen. Die Ideologie der Menschenfeindlichkeit hingegen ist (nicht nur) bei Rechtswählern Common Sense, wie die Leipziger Autoritarismusforschung zeigt.Die Fortdauer des NS-Tabus in den Familien ist so mindestens mit ein Grund, warum Massenmedien, Wissenschaft und Politik sich weigerten, in den Wählerinnen und Wählern der AfD nicht geistige Erben der NS-Ideologie zu sehen, sondern Protestwähler. Aber sie sind Rechtsextremisten; unter der brüchig gewordenen Firnis der Zivilisation ist die NS-Ideologie einmal mehr sichtbar geworden.Die Verbreitung der Kernelemente der NS-Ideologie ist ja wohlvermessen. Etwa durch die Forschungen von Elmar Brähler und Oliver Decker. Seit zwei Jahrzehnten attestieren die beiden einem erheblichen Anteil der bundesdeutschen Gesellschaft wieder und wieder, Träger jener giftigen Mixtur aus Verschwörungsfantasien, Menschenfeindlichkeit, Demokratieablehnung, Führersehnsucht, Antisemitismus und Deutschlands angeblich verhinderter Weltgeltung zu sein.