Noch vor Kurzem galten Meinungen, die eine Ökonomie des permanenten Wachstums für ökologisch und sozial verheerend hielten, noch als abseitig. Inzwischen wächst zumindest die Zahl der Skeptiker*innen, denen dämmert, dass das Wohlstandsversprechen auf dem bisherigen Weg wohl nicht einzulösen ist. Und diese Wachstumskritiker*innen finden zunehmend Gehör. Allerdings fehlt es ihnen noch an schlüssigen Konzepten dafür, wie eine Gesellschaft mit sehr viel weniger oder Nullwachstum gestaltet werden könnte. Eine große Leerstelle ist vor allem die Frage, wie soziale Sicherung in einer Postwachstumsgesellschaft aussehen könnte.
Dieser Thematik haben sich nun Irmi Seidl und Angelika Zahrnt angenommen, die zum engeren Zirkel der Postwachstumsprotagonist*innen zählen: Seidl ist Professorin für Ökonomie an der Uni und der ETH Zürich, Zahrnt war langjährige Bundesvorsitzende des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland und ist nun dessen Ehrenvorsitzende. Seidl und Zahrnt haben Expertinnen und Experten verschiedener Disziplinen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz gebeten, mehr Licht ins Dunkel zu bringen.
Seidls und Zahrnts Grundthese lautet folgendermaßen: „Das gegenwärtige Wirtschaftssystem ist paradox: Wachstum soll Erwerbsarbeitsplätze schaffen. Dazu beitragen soll die Steigerung der Arbeitsproduktivität, doch damit gehen gleichzeitig Arbeitsplätze verloren. Entsprechend muss Wachstum zusätzlich die wegrationalisierten Arbeitsplätze kompensieren.“
Arme Hamster sind wir
Da Sozial- und Abgabensystem maßgeblich von Erwerbsarbeit abhängig sind (in Deutschland zu rund 75 Prozent), treibe dies die Steigerung der Arbeitsproduktivität voran, meinen die Herausgeberinnen. Wie aber kommt man raus aus diesem Hamsterrad? Wie lässt sich soziale Sicherung von ökonomischem Wachstum abkoppeln?
Seidl und Zahrnt halten dabei zweierlei für besonders wichtig: Die Bedeutung der Erwerbsarbeit sei zu relativieren, sowohl als Basis für soziale Sicherung als auch als Quelle gesellschaftlicher Anerkennung. Dafür müsse man ein anderes Verständnis von „Tätigsein“ (bewusst wählen sie diesen Begriff statt des Begriffs „Arbeit“) entwickeln, das etwa auch die Eigen-, Freiwilligen-, Care- und Gemeinschaftsarbeit einschließt. Konkret müsste die Arbeit steuerlich entlastet, personenbezogene Dienstleistungen in Gesundheit und Pflege ausgeweitet und soziale Netze wie Nachbarschaften und andere Strukturen der Selbsthilfe gestärkt werden. Lebensstile, die auf Selbstversorgung und Genügsamkeit aufbauen, sollten gefördert werden.
Tätigsein in der Postwachstumsgesellschaft stellt Beiträge, die Grundsätzliches zur Entwicklung und Bedeutung von Arbeit und Tätigsein behandeln, neben solche, die sich mit verschiedenen Akteuren (Konsument*innen, Unternehmen, Gewerkschaften, gemeinnützigen Organisationen) auseinandersetzen, und solche, die die Bedeutung von Sorgearbeit, Arbeit in der Landwirtschaft und Digitalisierung analysieren. Artikel, die sozioökonomische Fragen nach sozialer Sicherung, dem Abgabensystem, aber auch der Arbeit in Entwicklungs- und Schwellenländern stellen, runden den Band ab.
Hervorzuheben ist ein Beitrag zum Agrarbereich, den Franz-Theo Gottwald gemeinsam mit den Herausgeberinnen verfasst hat: Er entwirft ein recht konkretes Bild einer künftigen Landwirtschaft, in der wieder sehr viel mehr Menschen tätig sein werden als heute. Zugleich werden hier auch Umwelt und Natur geschützt. Landwirtschaftliche Betriebe, die den Zielen einer „öko-sozialen Agrarkultur“, also natürlichen Kreisläufen folgen, multifunktional sind, indem sie neben Nahrungsmitteln auch Energie erzeugen, in Tourismus und Bildung aktiv sind, die hauswirtschaftliche, handwerkliche, gärtnerische Tätigkeiten sowie Pflanzen und Tierzucht vereinen, seien auch wesentlich arbeitsintensiver, schreiben die Autor*innen. In solchen Betrieben könnten also wieder sehr viel mehr Menschen arbeiten, trotz Digitalisierung. Ordnungspolitische und steuerliche Maßnahmen müssten diese Entwicklung ermöglichen, aber auch organisatorische Veränderungen in den Betrieben selbst.
Grundeinkommen? Peripher
Für die Fragestellung des Buchs besonders wichtig sind auch die Beiträge von Gisela Kubon-Gilke sowie von Angela Köppl und Margit Schratzenstaller zur sozialen Sicherung und zu einem Abgabensystem, das Arbeit fördert.
Kubon-Gilke plädiert für eine „präventive Sozialpolitik“ durch Umverteilung der Vermögen, einen Staatsfonds, CO₂-Steuer-Dividenden, Förderung von Genossenschaften und Gewinnbeteiligung bei Unternehmen sowie betriebliche Alterssicherungen. Köppl und Schratzenstaller setzen sich mit den Abgabensystemen in der EU auseinander, die sie aus Nachhaltigkeitssicht für nicht zeitgemäß halten. Die Abgaben müssten viel stärker Emissionen und Verbräuche sowie höhere Einkommen belasten und Arbeit im Gegenzug entlasten. Interessant: Nur äußerst peripher beschäftigen sich die Autorinnen mit dem bedingungslosen Grundeinkommen.
Besonders lesenswert sind auch der sehr differenzierte Beitrag von Norbert Reuter zur Rolle der Gewerkschaften und der von Georg Stoll zu Entwicklungs- und Schwellenländern. Darin wird deutlich, dass die reicheren Länder ihre Potenziale für Postwachstumsstrategien schneller heben können und müssen, um den ärmeren Ländern noch Spielräume für die Nutzung von Ressourcen zu eröffnen.
Das Buch bietet viele konkrete Ideen und Konzepte, die bisher in dieser Form fehlten. Nicht alles ist neu, aber vieles aktualisiert und neu konnotiert. Dennoch entbehrt der Band einer Analyse, an welchen Stellen die vorgestellten Konzepte an die aktuellen politischen Auseinandersetzungen im deutschsprachigen Raum anzuknüpfen vermögen. Hier sollte man tätig werden.
Info
Tätigsein in der Postwachstumsgesellschaft Irmi Seidl, Angelika Zahrnt (Hg.) Metropolis 2019, 262 S., 18 €
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