Freitag: Herr Todd, Sie sorgten in den 70er Jahren mit der Prognose für Aufsehen, dass die Sowjetunion binnen 15 Jahren zerfallen werde. Wie kamen Sie zu dieser Vorhersage?
: Ich hatte 1975 eine Reise nach Ungarn gemacht, und währenddessen verstand ich, wie tot die kommunistische Ideologie war. Zurück in Paris fing ich an, dem Thema nachzugehen. Ich stieß auf demografische Studien über die Kindersterblichkeit in Russland. Sie war erst gesunken und zwischen 1970 und 1974 gestiegen. Die Kindersterblichkeit ist ein Schlüsselfaktor der Demografie. Ich zog noch andere Faktoren hinzu, den dramatisch gesunkenen Außenhandel etwa, auch ein Indiz für eine Krise. Im Kern bezog ich mich aber auf die Kindersterblichkeit.
Und Sie behielten Recht. Welche Aufschlüsse erlaubt die Kindersterblichkeit dem Demografen?
Kinder sind die gefährdetsten Individuen einer Gesellschaft. Man muss dazu sagen, dass die Sowjetunion damals ihre wirtschaftlichen Statistiken fälschte. Aber Daten wie Geburten und Sterblichkeit kann man nicht fälschen. Wenn man sagt, dass die Geburtenrate steigt, dann muss man später Personen erfinden, die es nicht gibt. Allerdings zog es die Sowjetunion vor, nach Erscheinen meines Buches keine Statistiken mehr zu veröffentlichen.
Welche Länder leiden heute unter einer hohen Kindersterblichkeit?
Die höchste Rate haben afrikanische Länder mit bis zu zehn Prozent. Die niedrigsten weisen Japan, Hongkong, Singapur und die skandinavischen Länder auf: von 1.000 Neugeborenen sterben im ersten Jahr zwei bis vier. In Deutschland und Frankreich liegt die Rate immer noch unter fünf Promille, in den USA bei sieben Promille. In Russland beträgt der Wert heute 1,6 Prozent. Als ich meine Studie verfasste, war der Wert in der Sowjetunion zwischen 1970 und 1974 von 2,4 Prozent auf 2,6 Prozent gestiegen, während er im Westen kontinuierlich sank. Die jeweilige Tendenz ist immer besonders aufschlussreich.
Welche Tendenz gibt es in der Statistik der USA?
In den USA ist der Wert heute nicht besorgniserregend, aber er steigt konstant. 1960 gehörten die USA zu den Ländern mit der geringsten Kindersterblichkeit, 1990 waren sie auf den 23. Platz zurückgefallen, inzwischen belegen sie nur noch den 34. Platz. Die Gesundheitsbehörden in den USA haben auf das Problem hingewiesen.
In der islamischen Welt konstatieren Sie in Ihrem Buch „Die unaufhaltsame Revolution: Wie die Werte der Moderne die islamische Welt verändern“ eine Modernisierung – jenseits von Terrorismus und politischer Agitation. Wie kommen Sie darauf?
D
er Grad der Alphabetisierung und sinkende Geburtenraten sind Ausdruck eines demografischen Übergangs, einer Modernisierung. Sobald die Frauen lesen und schreiben können, beginnt die Geburtenkontrolle. Die Alphabetisierung in der islamischen Welt schreitet voran, damit geht ein Rückgang der Religiosität einher. In Iran liegt die Geburtenrate inzwischen bei weniger als zwei Kindern pro Frau und damit unter jener der USA. Das lässt darauf schließen, dass Iran seinen Übergang in eine säkularere Gesellschaft bereits hinter sich hat, vielleicht ist das selbst den Mullahs nicht bewusst.
Wie steht es um andere islamische Länder?
I
ran ist mit der Türkei das modernste muslimische Land. Im Iran studieren mehr Frauen als Männer an der Universität. Aber auch in Saudi-Arabien sank die Geburtenrate von sechs auf vier Kinder. Algerien, Tunesien und Marokko bewegen sich heute zwischen 1,7 und drei Kindern und damit fast auf europäischem Niveau. Aber die muslimische Welt ist kein monolithischer Block. Die Zahlen reichen von 1,7 Kindern bis zu sieben Kindern in Niger. Hier zeigt sich die Kluft zwischen Dritter Welt und Ländern, die den demografischen Übergang schon hinter sich haben. Wir kamen zu dem Ergebnis, dass die islamische Welt ihre Krise überwunden hat und auf dem Weg der Modernisierung ist.
Wie erklären Sie sich bei aller Modernisierung den existierenden, religiös motivierten Fundamentalismus?
Er bedeutet in diesem Zusammenhang nicht Rückschritt, sondern ist ein Ausdruck der Übergangskrise. Aus diesen Erkenntnissen ergibt sich eine Gegenthese zu Samuel Huntingtons These vom Kampf der Kulturen. Das Buch, das ich mit meinem franko-libanesischen Kollegen Youssef Courbage verfasst habe, heißt daher auf französisch „Rendezvouz der Kulturen“.
Was bedeutet das alles für den Westen?
Das Beste, was Europa und die USA jetzt tun können, ist, Iran auf seinem Weg in die Modernisierung zu begleiten und seine Sicherheitsbedenken ernst zu nehmen. Das würde einem Demagogen wie Ahmadineschad mit seinen absurden Stellungnahmen den Nährboden entziehen.
Der Israel mit der Auslöschung droht.
Die Iraner haben einen starken Nationalstolz. Aber sie sind nicht wahnsinnig. Ein Angriff auf Israel wäre selbstzerstörerisch. Ich sage nicht, Ahmadineschad sei ein sympathischer Typ. Aber wenn Europa und die USA jetzt auf Iran zugehen, was Obama ja begonnen hat, wird er bald Vergangenheit sein.
Vor sieben Jahren haben Sie die aktuelle Krise der USA prognostiziert. Wie kommt es, dass Sie Dinge sehen, die andere nicht sehen?
Ich habe dafür inzwischen eine metaphysische Antwort. Die Menschen weigern sich, dem Schlimmsten ins Auge zu blicken. Das muss mit der Angst vor dem Tod zu tun haben.
Sie schrieben damals, das Geld, das in die Vereinigten Staaten fließe, werde in eine Fata Morgana investiert. Der Satz klingt im Rückblick prophetisch.
Die USA haben sich von einer produktiven Nation in eine verwandelt, die nur noch konsumiert. Am Vorabend der Weltwirtschaftskrise entfielen 44 Prozent der weltweiten Industrieproduktion auf die Vereinigten Staaten. Siebzig Jahre später lag der in der Industrieproduktion erwirtschaftete Teil des amerikanischen Bruttoinlandsprodukts unter dem der EU. Das Außenhandelsdefizit hat sich zwischen 1991 und 2001 verfünffacht. Inzwischen hat es sich nochmals verdoppelt. Wenn die Amerikaner viel mehr konsumieren als exportieren, wie konnten sie sich ihren gewaltigen Konsum leisten? Zum einen durch Verschuldung, zum anderen durch die ungeheuren Summen, die an die Wall Street flossen. Die Blase musste platzen.
Sie führen Wirtschaftssysteme auf anthropologische Phänomene zurück. Demnach haben das amerikanische Wirtschaftssystem und das deutsche ihre Wurzeln in vorindustriellen Familienstrukturen. Können Sie das erläutern?
Für den Demografen sind Familienstrukturen ein untrügliches Indiz für die Verfassung einer Gesellschaft. In England und den USA dominierte seit jeher die individualistische Kernfamilie mit freiem Erbrecht. Die Familie entlässt die Kinder früh in die Freiheit, und auch über ihr Erbe entscheiden die Eltern frei und über ihr Testament. Daraus entsteht sowohl die Idee der individuellen Freiheit wie auch die Akzeptanz von Ungleichheit. In Japan, Deutschland und in der deutschsprachigen Schweiz herrschte historisch die integrative Stammfamilie vor, zu der eine autoritäre Vaterfigur und ein inegalitäres Erbrecht gehören: der Erstgeborene wurde bevorzugt. Auch diese Familie nimmt Ungleichheit als gegeben an. Sie legt aber mehr Wert auf den Zusammenhalt der Familie.
W
as bedeutet das für das Wirtschaftssystem?
Dieses integrative Element, die Verantwortung für die Familie, ist heute noch im Konzept der sozialen Marktwirtschaft enthalten. In Frankreich, besonders im Pariser Becken, dominierte das egalitäre Erbrecht. Und es ist kein Zufall, dass hier die Idee der Gleichheit geboren wurde. Die Dominanz des egalitären Erbrechts in Russland hat dazu geführt, dass der Kommunismus sich dort eher durchsetzen konnte als in Deutschland. Und es ist immer wieder auffällig, dass in Kulturen mit Stammfamilie – vom Judentum bis Deutschland und der Deutschschweiz – Ausbildung groß geschrieben wird. Die Unterschiede in den Mentalitäten bestehen bis heute fort: Kürzlich diskutierte ich mit dem englischen Historiker Alan Macfarlane über das Erbrecht in Frankreich und England. Ich habe vier Kinder, und ich sagte ihm, dass in Frankreich per Gesetz ungefähr drei Viertel des Erbes gleichmäßig an meine Kinder verteilt werden. Nur über einen kleinen Teil kann ich frei verfügen. Es ist fast überflüssig, angesichts dieser Vorgaben überhaupt ein Testament zu verfassen. Mein Kollege fragte mich, was es für einen Sinn mache, Geld zu akkumulieren, wenn man nicht frei entscheiden könne, wem man es vererbt. Ich fragte ihn zurück, was es für einen Sinn mache, Geld anzuhäufen, wenn es nachher nicht gleich an alle Kinder verteilt wird. Hier erkennen Sie die Mentalitätsunterschiede.
Sie schließen daraus, dass der angelsächsische Liberalismus nicht für jedes Land geeignet ist.
Er wird ja auch nicht überall lupenrein umgesetzt. Nehmen Sie Russland: Die Leute denken, das Einwirken des Staates auf die Wirtschaft beschränke sich auf Putin. Aber hier kommt auch die Mentalität der russischen Großfamilie zum Ausdruck, die von einer autoritäten Leitfigur zusammengehalten wird. Diese Familie existiert heute in Russland nicht mehr. Aber die autoritär-egalitäre Note ist in der Mentaliät immer noch enthalten.
Sie haben in ihrem Buch über den Abstieg der USA als Weltmacht eine multipolare Welt kommen sehen. Wie sehen Sie die Rolle Chinas und Russlands aktuell?
Beide Länder sind stark von der Krise betroffen, da sie einseitig vom Export abhängig sind. Russland hat einen Aufschwung erlebt, erfährt aber gleichzeitig eine demografische Kontraktion. Die Bevölkerung wird ungebremst weiter schrumpfen, die Lebenserwartung der Männer liegt bei unter 60 Jahren. Russland stellt von daher keine Gefahr dar. Es versucht, seine Einflusszone wiederherzustellen. Aber es kann sich Konflikte mit dem Westen nicht erlauben. Der Konflikt mit der Ukraine wurde auch zum Konflikt mit Europa.
Sie haben einen Satz geschrieben, der direkt von Putin stammen könnte: „Historisch und soziologisch ist die Ukraine eine profillose Region, von der noch nie eine bedeutende Modernisierungsbewegung ausging.“
Im Grunde bildete die Ukraine eine Randzone des russischen Reichs, die ihre Anstöße aus dem Zentrum empfing. Die Lage dort ist kompliziert: mit ihren drei Bevölkerungsteilen, den unierten Ukrainern im Westen, den orthodoxen Ukrainern im Zentrum und den Russen im Osten. Die Frage bleibt offen, ob es die Ukraine in die Einfluss-Sphäre Russlands zurückzieht. Mangels einer eigenen Dynamik kann sie sich dem russischen Einfluss nur schwer entziehen. Die Lösung wäre, sie in eine Partnerschaft mit Russland und Europa einzubinden.
A
us demografischer Sicht gilt auch ein Konflikt zwischen Russland und China als möglich. Sehen Sie diese Gefahr?
Einerseits ist China riesig und dicht bevölkert, Sibirien hingegen nur äußerst schwach besiedelt. Andererseits ist die Geburtenrate Chinas ebenfalls sehr niedrig. China wird seine demografische Krise noch bekommen. Im Zusammenspiel mit der Wirtschaftskrise, von der China stark betroffen ist, könnte das egalitäre und revolutionäre Element der Chinesen noch erstaunliche Formen annehmen.
Amerika hat einen neuen Präsidenten. Wird er die Krise in den Griff bekommen ?
Die Wahl Obamas ist ein gutes Zeichen. Ein Element, das ich an den USA des letzten Jahrzehnts kritisiert habe, das imperiale Element, gibt es nicht mehr. Jetzt muss Obama dafür sorgen, die industrielle Produktion wieder in Gang zu bringen. Er muss auch das Bildungssystem erneuern. Den USA fehlen Ingenieure. Die amerikanische Oberschicht schickt ihren Nachwuchs lieber auf Law Schools als an Technische Universitäten. Aber die Dienstleistungen, denen Amerika sein scheinbares Wachstum verdankt, haben einen großen Nachteil: Sie haben keinen Wert für den Export. Sein gutes Image wird Obama helfen, noch mehr Staatsanleihen zu verkaufen. Trotzdem rate ich den Investoren gegenüber den USA zu einem freundlichen Misstrauen.
Und wie kommen Sie persönlich durch die Krise?
Die Ironie ist: Meine psychologische Verfassung profitiert von der Krise. Weil ich sie vorhergesagt habe, sind die Leute alle sehr nett zu mir. Mir persönlich geht es gut. Aber ich bin traurig für die Welt.
Das Gespräch führte Holger Christmann
Blogroll: Schlaglichter auf den Alltag eines widersprüchlichen Landes
Stop Torturing us berichtet über systematische Folter im Iran. In der Selbstbeschreibung des Blogs heißt es, es widme sich „Mentaler Folter mit schrecklich grausamen Taten wie Steinigungen, Massenexekutionen (...), solange wir nicht inhaftiert sind; und physischer und mentaler Folter, wenn wir in Haft sind.“ Schließlich habe der Iran kein Recht zu Foltern, nur weil er die UN-Antifolterkonvention nicht unterschrieben habe, so der Betreiber des Blogs, der wohl wegen der scharfen Angriffe auf die iranische Regierung und seine Berichte von Schicksalen iranischer Justizopfer lieber anonym bleibt.
stop.torturing.us
Die 24 Jahre alte Studentin Khorasan Razavi wiederum schreibt in ihrem Blog My Small Life in verschiedenen Rosatönen und mit bestem Web-Exhibitionismus aus ihrer Heimatstadt Mashhad über ihr Leben. Razavis Sujet ist: sie selbst. Sie berichtet von Ausflügen mit ihren Freunden, Erfolgen bei der Arbeit oder anstehenden Prüfungen, vor denen sie nervös werde. Ihr Blog betreibe sie vor allem, um ihr Englisch aufzubessern; insgesamt eine angenehme Erinnerung daran, dass der Iran vielleicht von religiösen Fanatikern regiert, aber nicht ausschließlich bewohnt wird.
smalllifeofmine.blogspot.com
Naeim Karimi, wurde im August 1978 geboren, und damit, wie er schreibt, „nur wenige Monate vor dem Ereignis, das die Geschichte des Landes verändert hat, das ich meine Heimat nenne“. Dieses Ereignis, die iranische Revolution, und ihre Folgen beschäftigen den Journalisten auch in seinem Blog. Tagesaktuell bloggt er aus der Perspektive eines „kulturell Staatenlosen“, wie er sich selbst bezeichnet, denn er sei für die Iraner ebenso ein Fremder wie er für Fremde ein Iraner sei. Zurzeit berichtet Karimi vor allem über die anstehenden Präsidentschaftswahlen am 12. Juni 2009.
naeimkarimi.wordpress.com
Der französische Bevölkerungswissenschaftler und Historiker Emmanuel Todd, 58, wurde in eine Intellektuellen-Familie hineingeboren. Sein Großvater war der Schriftsteller Paul Nizan, sein Vater der Journalist Olivier Todd. Er studierte in Paris, promovierte in Cambridge. Bekannt wurde er durch seine Studie La chute finale. Essais sur la décomposition de la sphère Soviétique (1976). Zudem erschienen: Die Erfindung Europas (1994), Das Schicksal der Immigranten (1994), Weltmacht USA. Ein Nachruf und Die unaufhaltsame Revolution (2007)
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