"Es gebe "keinen anschaulicheren Ausdruck für Macht" als die Arbeit des Dirigenten. So sagt es Elias Canetti in seiner berühmten Studie Masse und Macht, in dem Dirigenten von Musik gar keine Hauptrolle spielen. Dennoch kommt nach Canetti kein Buch über Dirigenten ohne ein Canetti-Prunkzitat aus, auch Wolfgang Schreibers Grosse Dirigenten nicht. Und wo schon von "Größe" die Rede ist: Auch Alfred Einsteins einschlägige Überlegungen über Größe in der Musik dürfen nicht fehlen. Demnach ist Größe die Fähigkeit eines Künstlers zum "Aufbau einer inneren Welt" - was zweifellos und besonders für den Dirigenten richtig ist: Voraussetzung für die Organisation und Realisierung einer nur zunächst äußeren
8;chst äußeren Klangwelt; Vermittlung zwischen Partitur und Publikum.Als im 19. Jahrhundert das musikalisch-klassische Werk zum Gegenstand bürgerlicher Kunstanbetung wird, verwandelt sich der dienstleistende Dirigent, indem er mit dem Magischen der Musik umgeht, in eine selbst magische Figur. Daran hat sich manches, nicht alles geändert; der moderne Maestro ist jedenfalls nicht mehr zwangsläufig entweder nur Kapellmeister oder Oberpriester: "Alle Charaktereigenschaften, die Menschen haben können, sind auch bei Dirigenten zu finden - aber durch ihre im Wortsinn herausragende Stellung wird bei ihnen die Persönlichkeit besonders stark zum Ausdrucksträger. Da gibt es Notenanalytiker und Verführer, Formarchitekten und Klangmagier, Perfektionisten und Genießer, Kapriziöse, Exzentriker, Schweigsame, Kommunikationsgenies."Der Typus des modernen Dirigenten erscheint heute weit ausdifferenziert. Schreiber lässt keinen Zweifel daran, dass dies auch mit den Notwendigkeiten des Marktes zu tun hat: Ohne ein deutlich profiliertes "Image" wird sich keine große Karriere als Orchesterleiter entwickeln. Und um Karrieren geht es, neben der Musik, ja vor allem. So lesen sich die gesammelten Lebensläufe der Pultstars - vom genialischen Hans von Bülow, Jahrgang 1830, bis zum dem "hochbegabten jungen Aufsteiger" und musikalischen Leiter der Berliner Komischen Oper, Kirill Petrenko, Jahrgang 1972 - als Karrierewege. Immer wieder liest man also von der Initiation zur Musik, der Begegnung mit wichtigen Förderern und großen Alten, dem "Durchbruch", vorzugsweise durch - siehe Bernstein - spektakuläres Einspringen in letzter Minute, den Stationen von der Provinz - siehe Karajan - bis zur Entfaltung von Macht und Herrlichkeit an den großen und größten Häusern, dem sogenannten Olymp. Und dann, am Ende, der letzte Auftritt, erfüllt von Todesahnungen; meistens wird Tristan gespielt, oder Mahlers Zweite, die Auferstehungssymphonie.Wolfgang Schreiber, Musikkritiker der Süddeutschen Zeitung, schreibt flüssig, journalistisch, gut lesbar, doch den wohl unvermeidlichen Stereotypen der Darstellung von Musikdarstellern entgeht auch er nicht. Die Lebenswege von etwa neunzig großen Dirigenten, vermehrt um 34 Kurzportraits, auf über 500 Seiten hintereinander wegzulesen, braucht es deswegen ein gewisse Ermüdungsresistenz. Schreibers Großunternehmen, das vollständigste und aktuellste auf dem Markt, ist aus einer vielfolgigen Radioreihe beim NDR entstanden, eine gewisse Gleichförmigkeit ist so zu erklären. Zum Glück geht er aber nicht chronologisch, sondern assoziativ vor, beginnt mit einer etwas allzuknappen Revue der großen ganz Alten, Bülow und Nikisch, Weingartner, Mahler und Zemlinsky, steigt dann mit A wie Abbado in der Jetztzeit ein, es geht aber nicht ums Alphabet, denn nun folgen Zubin Mehta, Daniel Barenboim, Mariss Jansons, dann ein Kapitel Rattle und Salonen; über die Zukunftsmusiker Boulez, Nagano, Zender und einem Rückblick auf Bruno Maderna folgen dann die als Antipoden beleuchteten Furtwängler und Toscanini.Nach Bruno Walter und Otto Klemperer kommen wir zu den Helden der Schallplattenära: Karajan, Bernstein. Es folgen Blicke in die russische, französische, italienische, britische, ungarische Szene, und einer in ein kleines, aber besonders exotisches Gebiet: Dirigentinnen! - Die "neuen Deutschen", Thielemann und Metzmacher werden bedacht, Carlos Kleiber, der Begnadetste, durch seinen Rückzug Rätselhafteste, bekommt ein Sonderkapitel; Sergiu Celibidache, dem Bruckner-Buddhisten und Gegner aller Musikkonserven-Industrie, gehört ein Ehrenmal am Schluss, und Schreiber lässt keinen Zweifel, dass ihm der rumänische Übervater die Zentralgröße unter den Großen ist: "Was an einem "großen Dirigenten" letztlich interessiert, und berührt, das ist die Suche nach Klarheit und Konzentration, nach dem Zen-Ideal des Großen im Kleinen. Das führt zuletzt in die persönliche Bescheidenheit, so anspruchsvoll, vieles beanspruchend ein solcher Künstler gegenüber der Musik - gegenüber der Mitwelt - auch auftreten mag. Wer Celibidache ... beobachten konnte, hat es erfahren." - Schreiber hat es zweifellos.Natürlich muss sich der Autor auf Entrüstungsstürme der Fans einrichten: Warum nimmt ein Mann wie Zubin Mehta soviel Raum ein und findet eine (wenn auch:) gewesene Leitfigur wie Karl Böhm nur im Anhang statt? Jede Auswahl ist subjektiv. Dahinter aber liegt das größere, letztlich unlösbare Problem: in der summarischen Darstellung findet sich das Einzigartige der einzigartigen Persönlichkeit denn doch bestenfalls auf "den Punkt gebracht". Die Geheimnisse im Sinnbezirk alles Charismatischen aber bleiben dunkel, das weiß auch der Autor: "Bei aller ästhetischen und historischen Faktizität, es bleibt ein ungreifbarer Rest - die Rätselhaftigkeit der Musik."Nicht nur die. Es bleibt die Frage, was genau geschieht, wenn ein "großer Dirigent" vor einem Orchester steht. Wie man eine musikalische Interpretation beschreibt, jenseits der Parameter langsam-schnell, hell-dunkel, durchsichtig-kompakt, konservativ-modern und so weiter. Es bleibt die Frage, wieweit das Image eines Dirigenten unseren Höreindruck bestimmt. Es bleibt letztlich die Unbeschreiblichkeit großer musikalischer Ereignisse.Wolfgang Schreiber: Große Dirigenten. Piper München 2005, 531 S., 24,90 EUR
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