Ein merkwürdiges Buch, ein auf eine schon faszinierend eigensinnige Art misslungenes. Hans Joachim Schädlichs neuer Roman wirft Fragen auf, und die notorische Gattungsfrage: ob dies überhaupt ein Roman sei, gehört dabei zu den weniger spannenden. Nehmen wir Anders also wie es auf dem Titel steht für einen Roman, fällt zuerst die Einfachheit des Bauprinzips ins Auge: Rahmenerzählung mit eingefügten Episoden, die sich die Protagonisten gegenseitig erzählen. Es handelt sich um zwei pensionierte Meteorologen. Zufällig lieben sie dieselbe Frau Ida; zufällig sind beide des meteorologischen Datensammelns müde. Als Ruheständler sammeln sie nun "Fälle". Am Anfang dieser Leidenschaft stand ein Klassiker: "Wenn wir für das geh
;r das gehalten werden wollen, was wir sind, kommt alles darauf an, daß wir uns tatsächlich auch so geben, wie wir sind." Cicero! Umgekehrt wird bei den wunderlichen Wetterforschern ein Hobby daraus: "Wir brauchten nur zweimal das Wörtchen nicht einzufügen; schon hatten wir die Richtung gefunden, in der wir sammeln wollten: Wenn wir nicht für das gehalten werden wollen, was wir sind, kommt alles darauf an, daß wir uns nicht so geben, wie wir sind.."Aus den Profimeteorologen werden Hobbyhistoriker; und so ungerührt sie sonst Temperaturzonen und Tiefdruckgebiete verzeichneten, so kalten Herzens tragen sie jetzt darüber Material darüber zusammen, was ihnen als "Fall" erscheint. Als Fall gilt, wer anders ist, als er scheint. Das Prunkstück der Sammlung steht in der Mitte. Es ist der Fall des Germanisten und Volkskundlers Ernst Schneider, der als hoher SS-"Kultur"-funktionär Karriere macht, bei Kriegsende abtaucht und als "Hans Schwerte" wieder auftaucht. Es gelingt ihm, sich eine vollständig neue Identität zu geben, und das Erstaunliche: es gelingt ihm in seinem alten Fach. Rilke und die Bedeutung der Wandlung ist der Titel einer seiner ersten Arbeiten im anderen System. Schwerte habilitiert sich mit einem ideologiekritischen, vielzitierten Werk über Faust und das Faustische. Er heiratet seine Frau, die angebliche Kriegerwitwe Schneider, ein zweites Mal. Schwerte gilt als liberal, bald sitzt er auf Podien über den Holocaust mit Überlebenden zusammen, un-ter der Fragestellung "wie war das möglich", er gründet sogar eine Arbeitsgruppe "Deutsch-jüdische Literaturgeschichte". Von seiner faustdicken Lügenexistenz wissen nur wenige, etwa ein ehemaliger SS-Kamerad und Obersturmbannführer, der inzwischen als Lektor im Piper-Verlag die Autorin Hannah Arendt betreut. Schwerte wird Universitätsrektor in Aachen, der damalige nordrheinwestfälische Wissenschaftsminister Rau heftet ihm ein Bundesverdienstkreuz Erster Klasse an; sogar sein Slogan als Kanzlerkandidat soll auf den erstklassig verdienten Professor Schwerte zurückgehen: "Versöhnen statt spalten." Erst 1995 deckt ein niederländisches Fernsehmagazin den Fall Schwerte auf. Die Sache machte einigen Rumor; man wird sich an den Mann, der Hans Schwerte war, vielleicht noch erinnern können. Tatsächlich ist das eine in ihren Details unerhörte Räuberpistole, womöglich taugt sie zur Exempelgeschichte. Auf jeden Fall ist es der schlagendste Fall von Doppelleben, den Schädlichs Forscherpaar sich zu erzählen hat. Aber so schön lakonisch-phänomenologisch wird da der Ton gehalten, dass man´s bald schon als journalistisches Stück läse, würde der Textfluss nicht durch eingestreute Zwischenfragen ein wenig krampfhaft dialogisiert.Wer das "Gemachte" seines Textes so lässig durchscheinen lässt wie Schädlich es hier tut, dem war, steht zu vermuten, vor allem am Stoff gelegen, am Material der Fallgeschichten selbst. Deren Erkenntnispotenzial erweist sich aber bei aller Interessantheit als schwankend. Ein Leipziger Theologe und Paläograph, der Mitte des 19. Jahrhunderts den orthodoxen Mönchen des Katharinenklosters am Berg Sinai die bis dahin ältesten Bibelhandschriften abschwatzt. Ein Philosoph aus Ex-Jugoslawien, der als Stipendiat statt über Ontologie zu forschen, seine Familie als Putzmann durchzubringen versucht. Wie die braven Bürger der Klassikerstadt Weimar sich ohne Skrupel der Billigarbeitskräfte im nahen KZ Buchenwald bedienten. Wie sich der antifaschistische DDR-Mythos von der Selbstbefreiung Buchenwalds als Legende erweist, und die Heldenerzählung, wie die politischen Häftlinge einen dreijährigen Judenjungen vor dem sicheren Tod in Auschwitz retteten, als ein Fall von "Opfertausch": statt des kleinen Jerzy hatte es da eben irgendeinen "Zigeunerjungen" getroffen. Davon stand aber nichts in Bruno Apitz´ Roman Nackt unter Wölfen. Es war anders, stellen die Anders-Forscher fest, wo immer sie die Trümmer der Geschichte ein wenig lüften. Für die gewesenen Wetterkundler ist das erstaunlicher als vermutlich für die meisten Leser. Und die naive Freude an der Feststellung, wie es "in Wirklichkeit" gewesen sei, wird man auch bloß Hobbyhistorikern noch zugestehen.Witzig, doch von einiger Häme der Beitrag der gegenüber dem Tun ihrer Verehrer ansonsten kritisch eingestellten Doppelfreundin Ida über "Dschidschi", der immer der Kleine war, auch als Sohn eines großen Kulturfunktionärs der DDR, der Rinderzüchter lernte und Rechtsanwalt wurde und vor allem als Entertainer groß rauskam: "Dschidschi war zwanghaft unterhaltsam" - vor allem nach dem Systemwechsel: die Talkshows im neuen Deutschland wurde seine Bühne. Bis zur Enttarnung als Stasi-IM. So jedenfalls steht es bei Schädlich: "Es hatte sich für Dschidschi ausgeschwatzt."Am Ende ist der Erzähler auch das Sammeln leid und nimmt eine Einladung zu einer Klimakonferenz nach Australien an. Dort trifft er einen Zoologen, mit dem er über die Anpassungsfähigkeit von Eidechsen und Menschen ins Gespräch kommt, "Tarnungs- und Täuschungskünstlern par excellence". Vermutlich wird er dort bleiben, am Ende der Welt, resigniert, "weil sich nichts ändert." Das ist nun eine ebenso flaue Pointe wie die Behauptung, die Beschäftigung mit historischen und aktuellen Fällen von "Andersartigkeit" sei zu verstehen als Beitrag zu einer Meteorologie des Sozialen, des "Gesellschaftsklimas". Dazu taugen die Recherchen dieser Pensionäre weniger als die konzentrierten Episoden, die hier ganz nebenbei abfallen, und die besser zeigen, was Schädlichs Spür- und Sprachsinn zu erfassen vermag, wie er in ein paar Strichen eine ganze traurige Existenz hinstellt: "Unterwegs traf ich einen Nachbarn. Er ging ein Stück mit mir und sagte: Ick nix gutt. Ick 20 Jahr Siemens. Kuhlschrank bauen. Herz kaputt. Arzt sagen: Du Rente! Aber dann ick tausend Mark. Un Miete kost tausend Mark. Mein Sohn nix arbeiten. 20 Jahr alt. Mussen arbeiten! Aber nix hören. Immer Disco un Mädschen. Frau nix schlafen mit mir. Schlafen in Zimmer von Sohn. Ick 27 Jahr verheiratet. Ick ander Frau brauchen. Ick viel Problem."Oder im Bericht von Awas (des anderen Meteorologen) demenzkranker Mutter im Seniorenheim: "Ich habe sie gefragt: Was hat man Schönes im Alter? - So etwas wie dich. Wer bist du? - Dein Sohn. - Da habe ich wieder etwas dazugelernt." - Merkwürdiges Buch.Hans Joachim Schädlich: Anders. Roman. Rowohlt, Reinbek 2003, 220 S., 19,90 EUR
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