Freischwimmen, Freischreiben: »hatte man den Kopf erst einmal über Wasser, hatte man erst mit dem Schwimmen begonnen, dann war es unmöglich, wieder damit aufzuhören, bis man endlich den Sand des anderen Ufers spürte. Auf ähnliche Weise schwamm man mit dem Sätzen fort, man wurde getragen von den brühwarmen Sätzen der Schrift, wie über die Oberfläche eines nach Kohle und Moder riechenden Tagebaus...« - Irgendwie landet Wolfgang Hilbig immer in Meuselwitz, der Kleinstadt zwischen Leipzig und Gera, vor allem am Rande des Braunkohlereviers, einer unwirklichen Mondlandschaft, großartig und trostlos. Dieses Aroma von Kohle und Moder, das Hilbig zu beschreiben versteht wie kein Zweiter, wird man auch in den neuen Erzählungen nic
lungen nicht los. Um dieses Herkommen von einem Nicht-Ort kreist das Schreiben des gebürtigen Meuselwitzers, dessen Weg vom Heizer zum Büchnerpreisträger so außerordentlich ist, und der hier immer auch miterzählt ist, am Rande, wenn vom heute Erfolgreichen die Rede ist.Aber so wenig von den schönen Weinbergen der Pfalz zu berichten ist, der Landschaft, die der Schriftsteller mit Westvisum noch vor dem endgültigen »Systemwechsel« auf der anderen Seite fand, so wenig ist hier aus der Perspektive eines Prämierten, Belobigten, literarisch Etablierten geschrieben. Tastend zurück will das, hinab, zur Mutter, an den Tisch in der verqualmten Wohnküche, oder ins ganz Elementare, in das Loch aus warmem Schlamm bei der Moorinsel, unweit der Müllhalden, zu der sich der Knabe in einer Nachkriegswelt ohne Väter vor dem »Geschrei der Frauen« flüchtete und in das er dann zum erstenmal kommt: »und unter der Last der siedenden Dünste ringsumher schoß etwas aus meinem Körper, einem trüben Schmerz vergleichbar, ein hartes Etwas in mir, das aufgelöst und verflüssigt worden war, und das mich mit ungeheurer Leichtigkeit verließ, nur daß meine Lenden aufgeflammt waren und wieder erloschen, ein kurzes Aufbäumen und Strecken meiner gefangenen Wirbelsäule nur, und ich war wieder still, plötzlich war ich weich und gefühllos, selbst nur noch Fäulnis und Wasser, und ununterscheidbar von den Elementen um mich und über mir, mit denen ich mich vermischt hatte.«Jahre später findet der Erzähler den Ort kaum wieder, Vermischung mit den Elementen findet nicht mehr statt, auch wenn er noch ins trübe Gewässer pinkelt. Er gehört nicht mehr hierher, so wie »C.« nicht mehr dazugehört, der »begonnen hatte, sich Schriftsteller zu nennen«, und nach fünfzehn Jahren noch einmal das Werk besucht, in dem er als Heizer gearbeitet hatte. Doch die Vergangenheit bleibt verschlossen, die Erinnerungen liegen wie Kohle unter Ascheschichten, dahinunter gelangt man nicht; darüber regiert jetzt zähe Unabänderlichkeit: Arbeitslose in Jogginganzügen in der Vorhölle ewigen Nachmittagsfernsehens. Erinnerungslosigkeit wird zum Klassenmerkmal: »Und wenn man ihnen vierzig Jahre lang versucht hatte einzureden, daß sie das Werk, an dem sie teilhatten, selbst bestimmen sollten, so hatten sie es doch nicht verstanden. Ihre Bestimmung ließ ein solches Verständnis nicht zu, denn ihre Bestimmung war um so vieles älter als sie.« Und der Schriftsteller, der von sich als Schriftsteller nur in Anführungszeichen zu schreiben wagt, erfährt seine Arbeit im Tagebau der Erinnerungen als unausgesetztes Scheitern. So bleibt ihm die Beschreibung der Asche.Aber was heißt hier »Bestimmung«? »Es war vielleicht, als würden sie von einer alten finsteren Gottheit bestimmt, von einer unterirdischen Gottheit.« Zwischen dem schwarzen Gott der Tiefe und dem grauen Himmel über Meuselwitz liegt Hilbigs Traumbühne, und über allem wölbt sich wie über einem barocken Trauerspiel »das Verhängnis«. Dagegen helfen weder Ortswechsel noch Literatur. Und doch gelingt Hilbig in Der Schlaf der Gerechten ein Variationenwerk von strenger Konsequenz und finsterer Schönheit. Variationen: das thematische Material dieser Erzählungen (überwiegend aus den neunziger Jahren) liegt so nah nebeneinander, dass die Grenzen der einzelnen Texte durchlässig werden. Die Erinnerung an das Gefühl, unter Observation zu leben, wird einmal als beklemmendes Schattenspiel inszeniert; am Ende dann als gespenstische Begegnung mit dem mephistophelischen Anderen, und da kommt es zur reinigenden Bluttat. Am Stasimann, am Doppelgänger? - Wer wie Hilbig die Chuzpe hat, einen Roman »Ich« zu nennen, wie ausgerechnet die zweifelhafte Autobiographie des großen sächsischen Geschichtenerfinders Karl May, den wird man trotz aller biographischer Details (bis hin zum polnischen Großvater) von dem, der hier »ich« sagt, fein auseinanderhalten müssen. Seine Kunst liegt im Dazwischen. Nähme man´s bloß autobiographisch, man versäumte den großen Erzähler von Meuselwitz.Wolfgang Hilbig: Der Schlaf der Gerechten. Erzählungen. S. Fischer, Frankfurt am Main 2003, 192 S., 11,90 EUR
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