Ist wirklich Troll geworden

Pop Seit er für Edeka „Supergeil“ gurrte, kennt jeder Friedrich Liechtenstein. Jetzt erscheint das Album "Bad Gastein" des Berliner Bühnenkünstlers
Ausgabe 30/2014

Ein hohes, zitterndes Pfeifen zieht dahin. Es geht abwärts. Erzählt wird delle terme di Gastein. Wir hören nicht die Stimme eines älteren Herrn mit elegantem Humor, wie wir sie von Friedrich Liechtenstein vielleicht erwarten würden. Zu uns wird Italienisch gesungen im Bariton einer Frau. Sie singt für uns die Legende, wie im österreichischen Bad Gastein die heißen Quellen entdeckt wurden: eine Erzählung zwischen Jugendstilzeichnung und Tourismusbroschüre. „Wer hätte nicht gehört von den segensreichen und wunderbar heilsamen Quellen des in schaurig-schöner Natur, von Felsenschluchten, Wäldern und Hochmatten umgebenen Wildbades Gastein? Vielen Tausenden von Kranken haben sie das hohe Gut der Gesundheit wieder zurückgegeben.“

Der Name Friedrich Liechtenstein mag Ihnen vielleicht kein Begriff sein, doch den Mann kennen Sie, sofern Sie in den vergangenen sechs Monaten nicht mönchische Mediendiät gehalten haben, längst. Sie kennen sein Lied, mit dem er sich für mehrere Werbespots der Supermarktkette Edeka in die Dynastie der deutschsprachigen Sänger des Geilen einreihte wie vor ihm Deichkind oder, in den 80ern war das, Bruce & Bongo: „Superknister. Superknusper. Supersnack. Supergeil.“ Seit 2003 tritt Liechtenstein, der zuvor als Absolvent der Schauspielschule Ernst Busch in Berlin eine Bühnenkarriere verfolgte, als Sänger auf. Jetzt also, mit 58 Jahren, veröffentlicht er sein erstes Album Bad Gastein.

Produziert und mitgeschrieben wurde es von dem Berliner Produzenten- und Klangkünstlerduo Anselm Nehls und Carl Schilde, die unter dem Namen Heavylistening tätig sind. Sie sind es, die uns von der unvermuteten italienischen Elegie für Streicher und Deklamatorin am Anfang des Albums weiter auf den Tanzboden schicken, wo ein Rummelplatzhit über den Hirsch von Bad Gastein zu hören ist – mit synthetischen Sirenen und verzerrten novelty sounds der Saison, mit Störtönen und Bassgrollen also. Sie geleiten uns herab zu einem verzerrten und befremdlich zeitverschleppten Singsang-Croon, „Der Regen ist gut für die Parks – nicht so gut für die Tapeten im Schloss“, weiter zu Italodiscobeats und rollig glucksenden Effekten, Backgroundchören und grandios-billigem Elektropiano. Die große Geste hat Liechtenstein in der Stimme, das sonore Befremden in den Klängen bereiten ihm die beiden Prodzenten. „Du weißt, dass ich auf Barfrauen steh: Das ist ja auch der Grund, warum ich zu Barfrauen geh.“ Einsames Klavier und das Knarzen der Dielen sind zu hören.

Tändeln, croonen, knödeln

Es sind zehn Lieder, die Friedrich Liechtenstein für uns singt. Er erzählt, gurrt, grunzt, croont, zwischen Kopfstimme und Barry-White-Bass, er stöhnt, säuselt, pfeift, tändelt, fistelt, knödelt. Aus einer Ballade wird ein Bargespräch, ein Clubhit, ein großes Muscialfinale. Die Musik hüpft ebenso sehr wie seine Stimme und verbindet kristalline Synthesizer mit haltgebenden Bässen aus dem Untergrund und lässt sogar Momente Neuer Musik und Klangkunst in diesen Songs entstehen. Die Epochen des Pop und der Genres verschmelzen, und aus den Liedern erhebt sich eine Erzählung in Klang, eine sonic fiction, wie der britische Musikkritiker und DJ Kodwo Eshun es nennt. „Zurück in den brandenburgischen Wäldern ging es mir nicht gut. Eine Idee war es, Fremdenlegionär zu werden.“ Die Erzählung von Liechtensteins erfundenem Bad Gastein, sie bildet sich gleichermaßen in den Klängen und den Worten der Stücke wie auch in der Fähigkeit der Hörerinnen und Hörer, sich zu erinnern und zu empfinden. Was erzählt uns Liechtenstein also in diesem Album?

Seine Erzählung entzieht sich dem faktischen Alter ihres Protagonisten – „72 ist kein gutes Alter für einen Gogodancer“ – wie überhaupt jedweden Zeitenfolgen. Mal sind wir jung, mal alt mit ihm, dann sterben wir, dann sind wir wieder auf der Reise. Das Driften hinüber und zurück, das unerträgliche Innehalten, Wiederholen, Verschleifen und Zurückgleiten, Moonwalk unaufhörlich, ist das eigentliche Motiv des Erzählens: In Gastein, lautet Liechtensteins Credo, können wir Schätze entdecken, Klänge und Überraschungen, Wunder und neue Lieben, neue Tode. Es ist für Liechtenstein ein anderer Ort, jenseits des Getriebes, in dem aber Triebe und Sehnsüchte, Obsessionen und Ausstiege sich ereignen können. „Sie zeigte mir den Eingang zu einer unterirdischen Freimaurerloge. Dort sah ich mein zweites Ich. Es war rot und wurde geprügelt. Ich konnte ihm nicht helfen.“ Bad Gastein ist, kurz, ein mythischer Ort des Extraordinären – der weitestmöglich von Liechtensteins Wohnort Berlin entfernt zu sein scheint.

Der Protagonist des Albums, Liechtensteins Pop-Persona, deckt sich dabei mit Friedrich Liechtenstein, der Bühnenfigur: dem Sänger, der – ganz nach Gutdünken – sich auf jeder Bühne bewegt, erzählt und gängige Technikausfälle mit bewusst hilflosen Geschichten und Slapstickeinlagen zu Höhepunkten des Entertainments werden lässt. Die blickdichte Brille, der verspiegelte, schwere Mantel sind dabei ebenso Insignien seiner Ungreifbarkeit, seines Driftens und Springens wie das musikalische Gleiten in seinen Liedern. Er tritt auf, seit einiger Zeit schon, wie aus dem Nichts, erfüllt den Raum mit Gesang und unterkühltem Humor und verschwindet wieder von der Bühne. Bewusst ohne Begleitmusiker, manchmal hat er einen CD-Rohling dabei, auf den er schnell noch sein Playback gebrannt hat. Er ist ein Zeitreisender, ein allgegenwärtiger, schamloser Troll – im besten Sinne. Seine untergriffigen, stets merkwürdig unpersönlichen und doch auch aggressiv sexuellen Streiche bestätigen dies: Unter „Trolling mit Friedrich Liechtenstein“ finden sich auf der Videoplattform Ihrer Wahl unverschämte Witze auf Kosten diverser Blogger. „Ey, alter Fickschlitten! Mein liebes Fräulein Mösenfröhlich.“

Die Pop-Persona Friedrich Liechtenstein ist ein soignierter Troll der Kanäle, ein Flat Eric, ein SpongeBob und Pan Tau: Er springt und nimmt, mit was der eine Kanal nicht zulässt, in den nächsten, der die Grenzüberschreitung gar nicht bemerkt. Und das tut er tatsächlich, er sagt es nicht nur: Er posiert für die Yellow Press ebenso wie für Qualitätszeitungen und gurrt auf dem Kassenband des Lebensmitteldiscounters von nebenan. Ab September ist er in Christian Ulmens Webserie Mann/Frau für den Bayerischen Rundfunk zu sehen. Jeder dieser Auftritte ist aber nur ein kurzer Abstecher auf seiner Springprozession. Er taucht auf, taucht unter, hüpft und tut, dann ist er wieder weg. Es ist ihm (und uns) eine sardonische Lust. Eine Unverschämtheit, für die die notgeil geschmierten Medienkanäle der 2010er Jahre billig und willig genug sind, ihm all dies durchgehen zu lassen. Am Ende wohl sogar die großen, eleganten, die lebensweisen und klangsatten Hymnen der Hingabe und der großen Geste von Burt Bacharach, Louis Armstrong und Tom Waits, mit denen Bad Gastein endet. Streicherserenaden mit Drumcomputer: eine Mischung, die weder ironisch noch massenkompatibel ist, sondern zart und anrührend.

Zittriger Synthesizerschmalz

Diese Musik, diese sonic fiction, die zwischen ihm und seinen Produzenten entsprang, sie driftet ebenso: Sie bündelt und verschmilzt bislang Unverbundenes, vielleicht Max Goldts Überall Fichtenkreuzschnäbel – Nirgendwo Fichtenkreuzschnäbel mit klassischer Hochitalodisco im Stile von Baltimora (wer erinnert sich noch daran?) und dem zittrigen Synthesizerschmalz von Christian Bruhn für Timm Thaler und andere TV-Serien der 70er. Es ist Musik, die damals vielleicht als überproduziert galt – heuer aber elegant und billig zugleich erscheint: ganz aus dem Jahr 2014, gerade in der Konstellation von befremdlichen Vorbildern und Nachklängen. Es ist eine Lust, diesen Herrn unterkühlt und respektlos durch die Produktionsmaschinerie der Musik und des öffentlichen Lebens gleiten zu sehen und zu hören. Es sind Schätze, die hier zu entdecken sind. Denn wie heißt es am Ende der italienischen Ouvertüre dieses Albums: „Sie entschieden, diesen Schatz den Menschen zugänglich zu machen.“ Seine berühmte Single war nur ein Medienstunt. Bad Gastein ist sein Meisterstück. „Wir sind nicht auf dieser Welt, um perfekt zu sein.“

Bad Gastein Friedrich Liechtenstein Heavylistening Records 2014

Holger Schulze ist Gastprofessor für Sound Studies an der Leuphana Universität Lüneburg

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