Wir wandern aus. Hier hält uns nichts mehr. In diesen Wochen und Monaten, da Fronten nur noch mehr verhärten. Rechthaberei, Niederbrüllen, ruppige Gewalt und Aufeinandereinprügeln scheinen die zweite Natur, Sturheit und Starrsinn das neue oberste Prinzip zu sein. Wo bleiben Zartheit und Nachdenklichkeit, Infragestellen der eigenen Ansichten und Haltungen, immer neues Zweifeln an sich selbst, wie wir zusammenleben, wie wir uns umtun und sind? Wir gründen eine neue Gesellschaft – auf einem anderen, unbekannten Kontinent der Empfindung: „Die deutsch-amerikanische Siedlung BETTINA wurde von ihren idealistischen Gründervätern nach Bettina von Arnim benannt. 1847 nahe der Stelle errichtet, wo Elm Creek und Llano River im steinigen Hill Country des S
s Staates Texas zusammenfließen, existierte sie nur für die Dauer eines Jahres.“ Hier gilt für jeden das Grundgesetz der Devianz, des eigenen, tatsächlich anderen Lebens: Everyone’s a different kind of alien.Venus in FrankfurtDer neue Roman von Thomas Meinecke, Selbst, erzählt von solchem Auswandern – mit historischen und heutigen, wissenschaftlichen und populärkulturellen Zeugen. „Es gibt nicht zwei Geschlechter, sondern eine Multiplizität von genetischen, hormonellen, chromosomalen, genitalen, sexuellen und sensuellen Konfigurationen“: Diese Utopie der vielen Geschlechts- und Lebensweisen stammt aus der Gegenwart. Paul B. Preciado formulierte sie im Buch Testo Junkie: Sex, Drogen und Biopolitik in der Ära der Pharmapornografie (b-books 2016). Darin schildert der Philosoph, der 1970 als Beatriz Preciado geboren wurde, wie er sich Testosteron jahrelang im Selbstversuch verabreichte – nicht, um von einer sogenannten Frau zu einem sogenannten Mann zu werden, sondern um das sozial und kulturell festgeschriebene System der Zweigeschlechtlichkeit grundsätzlich zu unterlaufen. Preciado verfasste seinen Körperessay, seine self-theory, als Declaration of Independence für dich und mich: Wir sind Selbstsucherinnen, wurzellose Luftwesen und fremdartige Kreaturen. Aus solchem Material ist Meineckes Selbst gestrickt. Preciado ist nur eine von ungezählten Quellen, die Meinecke im Roman zitiert, teils auf Deutsch, teils auf Englisch.Kein Ich oder gar ein Wir suchen die Aliens des 19. und des 21. Jahrhunderts, wie sonst üblich im modernen Roman. Sie suchen ihr ganz körperliches Selbst, das hormonell und habituell sich allzu gerne wandelt: „Was ist das Selbst im Unterschied zum Ich?“ Venus und Eva, Fotomodell die eine, Kunsthistorikerin die andere, sind die Agentinnen dieser Suche. Mit einer Dritten, Genoveva, autodikatische Sexualforscherin, teilen sie sich nicht nur eine Wohnung in Frankfurt am Main, sondern auch Liebhaber, Ausgeh- und Lektüreerlebnisse.Selbst sammelt die Gespräche der Hauptfiguren, Auszüge aus gefundenen Texten, Zwischengedanken und die Erfahrungen mit dem Anprobieren unterschiedlicher Rollen: eine Springprozession täglicher Lektüre zwischen Netz und Regal, die Texte finden sich überall. Der Realismus des vernetzten Lesens zwischen The Awl und Texte zur Kunst, Vice Magazine und Frankfurter Allgemeine Zeitung, Resident Advisor und der Freitag.Die Suchgeschichte von Eva und Venus ist der Roman. „Ein sich ständig verändernder Text ohne Namen, ohne Fußnoten, ohne Zitiernachweise“: Zustimmend zitiert Meinecke die Literaturwissenschaftlerin Gertrude Postl – das ist Selbst. Dieses „Schreiben unterliegt nicht dem Zwang, recht zu haben, folgt nicht der Logik von Prämissen und Schlussfolgerungen. Gleichzeitig Autobiograpfie, Kommentar, feministisches Manifest, politisches Traktat, philosophischer Diskurs, Narration, Poesie und Gesang; ein schier undurchdringliches Gewebe von Gattungen und Stilen“. Auch Susan Sontag kommt zu Wort: „Die Untersuchung von Ideen ist ein nicht minder legitimes Ziel des Romans.“Selbst untersucht Ideen über den geschlechtlichen Körper. Der Autor selbst taucht dabei mit auf, erstmals auf Seite 64. Zum Akteur dieses Themenfeldes ist Thomas Meinecke tatsächlich mit der Zeit geworden, etwa mit seinen Romanen Tomboy (1998) und Hellblau (2001) und mit dem Hörstück Work (2009, mit David Moufang). Der Autor bleibt aber Randerscheinung im Roman. Weder hält er sich als auktorialer Erzähler allmächtig bedeckt – noch ist er autofiktional sich selbst das einzige Thema: Meineckes Selbst verlässt „diese herabsetzende Kleinlichkeit der männlich-konjugalen Subjektökonomie“, die ohne Unterlass die eigene Großartigkeit und Überlegenheit gegenüber jedem denkbaren Gegenüber markieren muss. Dagegen schlägt Selbst eine andere Rolle vor: „Es lebe der sozialistische Hermaphrodit!“ – So der Ausruf von Protagonistin Genoveva.Selbst folgt damit einem Begehren, das wenigstens zwei weitere Bücher dieses Jahres umtreibt:Wurzellose Kosmopoliten (Ventil) von Jonas Engelmann und Didier Eribons Rückkehr nach Reims (Suhrkamp). Alle drei Bücher fragen sich: Wie lebe ich als Alien, wenn ich als jüdisch, als randständig, als schwul, als unbedeutend, als ohne Stimme, als der oder die Andere, als abgehängt markiert werde? Meinecke wie auch Engelmann und Eribon propagieren „eine Suche nach Fluchtlinien, nach Verwandlungen und Transformationen, in denen möglich erscheint, was in der Realität eine Utopie bleiben muss: die Zuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft ambivalent zu halten und sich ihnen immer wieder zu entziehen“ (Engelmann).Eine Suche, die ausgewanderte deutsche Utopisten und Kommunisten im 19. Jahrhundert verband, etwa Ottmar von Behr, Ferdinand von Herff, John O. Meusebach, August Siemering und Hermann Spieß: Sie bespielen die Seiten von Meineckes Selbst ebenso wie Protagonisten des sozialmedial präsenten Kultur- oder Clubbetriebes, sei es die DJ Nina Kraviz, die Mode-Kuratorin Mahret Kupka, der Verleger Jo Lendle, die Pop-Superstars Beyoncé und Lana Del Rey, die Pornodarstellerinnen Stoya und Lorelei Lee, der Künstler Ryan Trecartin, der Publizist Christian Nürnberger, Schriftsteller und Theoretiker wie Anaïs Nin, Honoré de Balzac, Georges Bataille, Charles Baudelaire, Maurice Blanchot, Barbara Vinken, Hélène Cixous, Joseph Vogl – oder eben Thomas Meinecke selbst. Diese Aliens, historisch dokumentiert oder medial präsent, bevölkern die Utopie, die dieser Roman entfaltet. Eine utopische Kolonie des Andersseins.Bettina in TexasDie Schutzheilige dieser Kolonie ist eine Dichterin um 1800, die Kolonistinnen wie Preciado, Kraviz oder Stoya eher unbekannt sein dürfte: Bettina von Arnim (1785–1895). Die romantische Dichterin, das multiple Genie der Künste und Sensibilitäten ihrer Epoche, gab tatsächlich einmal einer utopisch-texanischen Kolonie 1847 ihren Namen: Bettina. Eine Kolonie der neuen Menschen, ihrer gedanklichen und lebensweltlichen, sensorischen und sexuellen Idiosynkrasien sollte diese Siedlung sein. Das Werk Arnims ist Vorbild für Selbst, auch der Rückkehr nach Reims oder Engelmanns Wurzellosen Kosmopoliten hätte es als Türsteher beigesellt sein können: Die Briefwechsel und fiktiven Gespräche der Bettina von Arnim, ihre Denkschriften und Gedichte erschufen um 1800 eine Utopie aus Sensibilität, Imagination und intimem Leben, die sich furchtlos ausstellt. Eine Selbsterfindung als Andere in Texten und in Handlungen.Meinecke lässt in Selbst Jack Halberstam alias Judith Halberstam, profilierter Gender- und Queer-Theoretiker, kundtun: „I prefer not to clarify what must categorically remain murky“ – „Ich bevorzuge es, im Unklaren zu lassen, was kategorial unscharf bleiben muss.“ Halberstam und von Arnim, Meinecke und Preciado, ja Engelmann und vielleicht sogar Eribon könnten einstimmen in diesen Lobgesang auf das Prinzip vom „Nachkünsteln, dem Zitieren, Imitieren, Nachsprechen, Übersetzen und Wiederholen“ (Engelmann).So wandern wir also aus, mit diesem Lied der Aliens auf den Lippen. Hier hält uns nichts mehr. Wir gründen diese neue Gesellschaft: eine Gesellschaft des Genusses. „Jede Phase des Genießens schreibt sich als Klangbild ein“, zitiert Meinecke die poststrukturalistische Schriftstellerin Hélène Cixous. Dann löst sich alles Wahrgenommene, zum Ende des Romans, erneut in die Kakofonie des Hier und Heute auf.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1
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