Spiel mit dem Biest!

Facebook Jeder nutzt die sozialen Netzwerke anders: sinnvoll und sinnlos. Das soll man nicht verallgemeinern
Twitter demokratisiert die Talkshows
Twitter demokratisiert die Talkshows

Illustration: Otto für der Freitag

Ein Sonntagabend Anfang Mai. Ein junger Mensch sitzt auf einem Sessel unter anderen, die diskutieren; und dieser Mensch wirkt abwesend. Immer wieder schaut er, gemütlich auf seinen Sessel gekauert, auf ein handtellergroßes elektronisches Gerät; dieses Gerät, bekundet er vorab, zeige ihm Fragen, Meinungen und Zwischenrufe einiger Menschen, die seinen Auftritt hier (übertragen auf Fernsehapparate und Internetportale) verfolgen. Deren Ansichten und Haltungen wolle er möglichst direkt in die Runde tragen. Doch seine Gesprächspartner sind pikiert: Was erlaubt der Lümmel sich eigentlich! Zieht sich einfach so raus? Unmöglich.

Die öffentliche Rede tags drauf in Zeitungskolumnen und Blogposts streitet beherzt über die Frage: Hat dieser politische Geschäftsführer einer jungen Partei allein durch sein vermeintlich desinteressiertes Lesen und Tippen alle beleidigt auf der medialen Bühne dieser großen Talkshow? Oder haben wir es zu tun mit einem neuen Habitus rund um soziale Netzwerke, der hier seinen beeindruckenden Auftritt hatte im eminenten Raum der Fernsehgesellschaft?

Die deutsche Kulturgeschichte der Gadgets und Applikationen des 21. Jahrhunderts wird vermutlich diesen Moment als ihre Mondlandung verzeichnen: Als mit Johannes Ponader erstmals im deutschen Fernsehen ein Mensch soziale Netzwerke nicht nur als Verlängerung von Öffentlichkeitsarbeit, Zuschauerbindung und anbiedernder Jugendlichkeitsattitüde missbrauchte, sondern die Netzwerke lakonisch nutzte. Die viktorianische Empörung über diesen vermeintlichen Verfall der Sitten bewies vor allem eines: Die Aneignung sozialer Netzwerke erreichte auf dieser medialen Bühne einen neuen Grad. Die Affekte belegten, dass diese neuen Nutzungspraktiken kaum gesellschaftlich normalisiert und selbstverständlich sind. Doch tat hier jemand nur öffentlich, was viele zwischen zwölf und 42 unaufhörlich tun: Gespräche führen, Ideen einwerfen, Umsetzungen vorausplanen, dies aufschreiben, im Netz überprüfen, darüber twittern, Veränderungen einpflegen, Status-Updates eintragen, Links versenden, Einladungen bestätigen, ablehnen, versenden, Favoriten und Likes und Plus klicken. Ja und?

Nicht wenige empörten sich aus purer Gewohnheit – so wie sonst gegenüber eigenen Kindern, Freundinnen, Partnern: Warum machst du das? Kannst du dich nicht auf unser Gespräch konzentrieren? Sind wir nicht interessant genug für dich? Diese Empörung zeigt vor allem einen Bruch der Mentalitäten und alltäglicher Praktiken der Freund- und Bekanntschaft, des Schreibens und Lesens, Mitteilens und Austauschens im Netz. Das Netz ist wie ein wildes Biest, das gezähmt werden soll, damit es am Ende harmlos und folgsam bei uns sitzt, manierlich schaut und auch nur spricht, wenn es gefragt wird.

Endlose Aneignungen

Wenn wir dieses wilde Biest aber kennenlernen, mit ihm spielen, erkennen wir: Soziale Netzwerke sind tatsächlich Spiel- und Werkzeug, nicht technologische Nemesis. Ihre spielerischen Praktiken der Nutzung, die missbrauchenden und umnutzenden Aneignungen im persönlichen Alltag sind endlos. Von außen schauen diese Nutzungsweisen vielleicht ganz ähnlich aus – Menschen tippen versonnen oder begeistert stundenlang auf kleinen Touchscreens herum. Medienanthropologisch betrachtet unterscheiden sich die persönlichen Praktiken aber radikal: Ob ich nur gelegentlich etwas schreibe, sonst eher im Netz suche; ob ich ellenlange Reply- oder DM-Dialoge mit Freunden oder nur Bekannten führe; ob ich meine anregenden oder skurrilen Ideen schnell aufschreibe; ob ich Bilder von Dingen, Schildern, Konsumobjekten, Freunden aufnehme und meine Begeisterung darüber mitteile; ob ich mein Berufsleben darin organisiere?

Manche Nutzer üben nur eine dieser Praktiken, andere eine Handvoll, einige tun dies nur am Wochenende, nur zur Arbeitszeit, nur abends, andere kreuz und quer gemischt, euphorisch oder genervt; manche haben Tausende, die potenziell mitlesen und antworten, andere nur eine Handvoll von ähnlich Besessenen. Sprich: Die Nutzung sozialer Netzwerke und Smartphones der Gegenwart ist so divers wie die Nutzung anderer Geräte: Personal Computer, Fernsehapparate, Automobile, Küchenmaschinen, Spielautomaten. Viele benutzen diese Dinge – wie sie dies aber tun, mit welchem pragmatischen Halbinteresse oder mit welcher Lust am Selbstverlust, all dies ist heterogen und kaum zu verallgemeinern.

Bei den sozialen Netzwerken bleiben jedoch die Projektionen der Deutenden. Ähnlich wie ehedem Bürger und Beamte den fahrenden Musikern und Tänzerinnen eine enthemmte und abartige Lebensweise unterstellten, werden hier ebenso begehrte Abweichungen von der eigenen Norm projiziert auf Unbekanntes. Die faktische Nutzung der Netzwerke ist dabei nicht selten genau das Gegenteil dieser mystischen Überhöhung: ernsthafte Berufspraxis, lustvolle Kommunikation und Fokussierung.

Das konzentrierte Erkunden des neuen Spielzeugs lotet aus, wie ein Leben mit sozialen Netzwerken aussehen könnte. Wie bewegen wir uns künftig auf diesen neuen, mikroskopischen Bühnen? Wir leben ja längst nicht mehr nur auf lakonischen Schauplätzen des Alltags wie Trambahn und Bäcker, Besprechungsraum und Kaffeeküche, Spielplatz, Bar oder Club. Manche von uns leben auch in großen medialen Präsentationsräumen in Aufnahme- und Fernsehstudios, Filmsets und Pressekonferenzen. Und neuerdings besiedeln wir eben auch die Plätze vor Podcast-Mikrofonen und -Webcams, Handykameras mit Instagram-Anschluss, leben in Profilupdate-Timelines, Kommentaren und Links. Die Präsenz auf diesen neuen medialen Bühnen ist mehr als nur phatische Kommunikation, wie sie gerne mit begrifflichem Trostpreis abgespeist wird. Sie ist unsere Lebenspraxis, dort ist der Lebensraum. Zu schreiben und abzubilden, zu senden und auszutauschen, zu kommentieren ist Lebensvollzug in sozialen Netzwerken.

Noch lernen unsere Gesellschaften – das Talkshowbeispiel zeigte dies – wie sie mit und in sozialen Netzwerken leben könnten. Sie lernen, wie präsent und gleichbereichtigt dieser öffentliche Raum der sozialen Netzwerke sich medienanthropologisch neben den betagten Räumen und medialen Bühnen immer weiter ausbreitet und diese mehr und mehr durchlöchert. Wir lernen auch, wie vergänglich und flüchtig das Handeln in diesen Räumen ist: Jenseits aller Horrorszenarien ist erfahrungsgemäß nichts vergänglicher als digitale Datenformate, als Provider digitaler öffentlicher Räume. Das zeigen die inzwischen verjährten Angebote wie Geocities, AOL, Second Life oder Myspace. Auch die Twitter-Suche ist eher Orkus: Nichts kehrt daraus wieder. Sind die Nutzer dann verschwunden, sind Standards und Netzwerke untergegangen, ist alles unwiederbringlich. Verschwunden und nutzlos wie heute jede Diskette, jede Geocities-Website, jede Datenbankverwaltung der Neunziger oder die Myspace-Accounts der Nullerjahre. Mit jeder neuen Hard- und Softwaregeneration verschwindet die verdrängte vollständig inkompatibel im Strom digitalen Vergessens. Das Netz vergisst ständig.

Monarchie ohne Bürgerrechte

Am bedenklichsten ist aber nicht dieses Vergessen oder die erst beginnende Akzeptanz, sondern der politische Status der Netzwerke: Faktisch sind sie autokratisch geführte Unternehmen, im besten Falle konstitutionelle Monarchien ohne Bürgerrechte. Der neue Lebensraum medialer Bühnen muss vermutlich erst verfassungsrechtlich anerkannt sein, seine unhintergehbare Bedeutung und Notwendigkeit für (fast) alle Lebensbereiche muss vom Gesetzgeber begriffen worden sein, ehe die einzig richtige Konsequenz gezogen werden kann: eine gleichberechtigte Versorgung mit Zugängen grundrechtlich sicherzustellen; vermutlich durch Verstaatlichung dieser Schlüsselindustrien medialer Bühnen des 21. Jahrhunderts.

Wenn ich gegen Ende meines Lebens, in drei bis vier Jahrzehnten, diesen Artikel wiederlesen werde (so die Datencenter, in denen er gespeichert ist, nicht durch Naturkatastrophen oder Kriege gegen den Terror zerstört wurden oder in den 2040ern überhaupt noch PDFs, .doc, .docx oder .txt gelesen werden), erinnere ich mich wohl kaum mehr, wer oder was Facebook eigentlich mal war: eine Suchmaschine? Ein Musikportal? Es wird aber andere, vielleicht umfassendere, vielleicht partikulare Vernetzungshilfsmittel geben, die wir uns heute kaum vorstellen können. Soziale Netzwerke der 2010er werden dann als Vorschein jener Gegenwart angesehen. Von nun an bleiben sie Teil unseres Lebens – weder besonders begeisternd oder erschreckend – wie Eisenbahn, Television, Kühlschrank oder Telefon. Sie sind gekommen, um zu bleiben. For better or for worse.

Holger Schulze ist Gastprofessor und Leiter des Sound Studies Lab an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zum Thema erscheint von ihm dieser Tage: Intimität und Medialität. Eine Anthropologie der Medien im AVINUS Verlag Berlin. schulze@soundstudieslab.org

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