Zauberland ist abgebrannt

68er Die Band „Ton Steine Scherben“ geht erstmals wieder auf Tour. Doch hinter den Kulissen tobt seit langem ein Streit um das Erbe von Rio Reiser
Ausgabe 14/2014

Wer von Hamburg nach Sylt fährt, kommt direkt daran vorbei. An der B199 zwischen Stadum und Leck liegt Fresenhagen. Durchquert man das Dorf bis zum Ende, gelangt man zu dem wohl am meisten mystifizierten Ort der deutschen Rockmusik, einem weißgetünchten Bauernhof. Die Auffahrt ist von Ulmen gesäumt. Dorthin hatte es 1975 die Kreuzberger Band Ton Steine Scherben verschlagen, die mit Songs wie Macht kaputt, was euch kaputt macht den Takt der 68er Bewegung vorgab und ohne die in der alten Bundesrepublik kein Haus besetzt wurde. Frustriert von der Linken, die sie als politische Musikbox benutzte, ihnen aber nicht mal ein Schmalzbrot gönnte, hatten die Scherben Berlin den Rücken gekehrt und waren aufs Land gezogen.

Ein Sturm hatte damals Teile des halbverfaulten Reetdachs hinweggefegt, sodass man von den Wohnräumen durch den Dachstuhl hindurch beobachten konnte, wie die Wolken über Nordfriesland hinwegziehen. Das Mauerwerk war schimmlig, die Decken und Wände waren voll von Wasserflecken, und in dem rund 600 Quadratmeter großen Haus war praktisch nur die Küche bewohnbar. Um zu überleben, half die Band ihren Nachbarn bei der Ernte. Zwar wurde der Hof auch schon mal von zwei Hundertschaften Bereitschaftspolizei durchsucht, weil man ihn in Zeiten der RAF-Hysterie für eine Terrorzelle hielt, doch die rockende Landkommune trotzte den widrigen politischen Verhältnissen, den nordfriesischen Wintern und produzierte Kinderhörspiele, Theater- und Filmmusiken. Und 1981 endlich wieder ein neues Doppelalbum: Ton Steine Scherben IV. Mithilfe von Tarotkarten wurde ermittelt, wer welchen Text schreiben und wer dazu die Musik komponieren sollte.

Es war eine „Explosion an Kreativität“ und ein „Fest an Experimentierfreudigkeit“, wie der Bassist Kai Sichtermann sich später erinnerte, beflügelt von der „obligatorischen Whisky-Flasche“, Koks, Opium-Tee, LSD und „magischen Pilzen“. Das Album untermauerte ihren Status als Band, die die Verhältnisse zum Tanzen brachte und sich von niemanden etwas vorschreiben ließ. Die darauffolgende Tour brach der Band jedoch finanziell das Genick. Trotz gefüllter Hallen waren die Scherben am Ende so hoffnungslos verschuldet, dass sie sich ein paar Jahre später auflösten.

In Fresenhagen blieben damals nur der Gitarrist R.P.S. Lanrue und Rio Reiser alias Ralph Möbius zurück, der an seiner Solo-Karriere bastelte und schon bald als König von Deutschland Erfolg hatte. Ab und zu in Berlin wohnend, wurde Fresenhagen für ihn zum Fluchtpunkt. Aber die Freundschaft zwischen ihm und Lanrue, beide zusammen hatten den Großteil der Songs geschrieben, glich mit der Zeit eher einem alten Ehepaar. Man sprach kaum mehr miteinander. So war es nicht verwunderlich, dass Reiser eine Einladung Lanrues zum Grillen ausschlug, weil er mal wieder auf Entzug war.

Es wäre das letzte Mal gewesen, dass sie zusammen am Feuer sitzen und sich alter Zeiten hätten erinnern können – wie sie alle zusammen von 15 Mark am Tag gelebt hatten und froh waren, wenn die Oma ihrer Managerin Claudia Roth, der heutigen Bundestagspräsidentin, einen Kuchen schickte; wie Nina Hagen hier ihr erstes Ufo gesichtet haben wollte oder wie Reiser so lange sein Zimmer nicht verließ, bis sein Bruder Gert Möbius wieder abgereist war. Am 20. August 1996 starb Reiser infolge eines Kreislaufzusammenbruchs.

Während Lanrue noch monatelang völlig von der Rolle war, traten Rios Brüder zielstrebig ihr Erbe an. Ausgerechnet eine Springer-Zeitung wurde als erste über Reisers Tod informiert. Per Sondergenehmigung der schleswig-holsteinischen Ministerpräsidentin Heide Simonis wurde er im Garten vor seinem Domizil bestattet – wie Elvis in Graceland. Bei einem Abschiedskonzert in Berlin traten Herbert Grönemeyer, die Einstürzenden Neubauten und andere auf. Peter Möbius drehte ein TV-Porträt seines Bruders. Und wenig später wurde der Verein Rio-Reiser-Haus gegründet, der den Hof als Veranstaltungsort und Treffpunkt für Künstler erhalten sollte: „Das Rio-Reiser-Haus soll kein Ort sentimentaler Erinnerung sein, sondern ein Ort der Ermunterung. Dort, wo Rio Reiser begraben liegt, soll sein guter Geist lebendig bleiben.“

Alles Lüge. Statt eine Stiftung zu gründen, stritten sich Rios Erben mit Lanrue so lange um den hochverschuldeten Hof, bis der entnervt das Handtuch warf und nach Portugal auswanderte. Kurz vor der Zwangsversteigerung erwarb dann Gert Möbius’ Lebensgefährtin Ingrid Pilch das Anwesen.

Überall Gedenktafeln

Eine Zeitlang sah es so aus, als ob die hehren Vereinsziele doch verwirklicht würden. 2004 fand ein chaotisch organisiertes Festival mit den Söhnen Mannheims, Marianne Rosenberg und den Fehlfarben statt; der Eintritt war frei, es sollte sich lediglich durch die Parkgebühren finanzieren – wundersamerweise wurden die Kosten aber nicht eingespielt, obwohl es sehr gut besucht war und alle Bands umsonst aufgetreten waren. Drei Jahre später eröffnete man ein Museum, in dem auch jene Axt ausgestellt wurde, mit der Nikel Pallat von den Scherben einst in einer Talkshow versucht hatte, einen Tisch zu zerhacken – allerdings war es nicht das Original. Die Süddeutsche stellte dennoch fest, dass Fresenhagen „für die deutsche Geschichte seit 1968 so wichtig“ sei, „wie das Goethehaus für den Weimar-Kult“. Dann verhökerten Reisers Erben jedoch auch seinen einzigen Hit König von Deutschland ausgerechnet an den MediaMarkt für einen Werbespot. Statt die immensen Einnahmen daraus in den Hof zu investieren, blieben angeblich aus den Jahren 2006 bis 2009 Verluste in Höhe von 112.360 Euro übrig.

Hinter den Kulissen war derweil längst ein Kampf um die Deutungshoheit entbrannt. Meine inoffizielle Rio-Reiser-Biografie versuchte man vom Markt zu klagen; Rios Bruder Peter behauptete gar, meine Fassung sei „im Reißwolf gelandet“. Das gab die Richtung vor: In den folgenden Jahren verdarb es sich die Möbius-Familie mit so gut wie jedem von Reisers Freunden, Mitstreitern und Musikern. Ein ums andere Mal versuchte sie, ihren Einfluss auf sein Werk bedeutsamer erscheinen zu lassen. So erinnerte schon bald eine Gedenktafel in Alt Tucheband bei Küstrin im Oderbruch daran, dass dort Reisers Vater geboren wurde. Und in Unna, wo der Bruder lebt, gibt es seit ein paar Jahren einen Rio-Reiser-Weg zur Erinnerung an sein Engagement für die alternative Kulturszene der Stadt.

Seit 2009 klagt die Band, die einst mit der David Volksmund Produktion das erste deutsche Independent Label gegründet und ihre Platten von Anfang an selbst produziert und vertrieben hatte, nun schon vor dem Berliner Landgericht gegen Gert Möbius auf Auszahlung von Tantiemen in fünfstelliger Höhe. Nachdem sie eine nach dem Tod ihres Sängers geschlossene Vertriebsvereinbarung fristgerecht gekündigt hatten, um die Kontrolle über ihr musikalisches Werk zurückzuerlangen, hatte Möbius nicht nur eine Auszahlung immer wieder hinausgezögert, sondern auch dafür gesorgt, dass es fortan keine Platten mehr im Handel gab. Ein Vergleich liegt nun aber fast unterschriftsreif vor, sodass einige der Scherben demnächst wohl nicht mehr von Hartz IV leben müssen.

Das mittlerweile als einfaches Kulturdenkmal eingestufte Rio-Reiser-Haus in Fresenhagen rottete in dieser Zeit vor sich hin. Erst vermietete man es an einen Verein für therapeutisches Reiten; die Besitzerin suchte aber nach wenigen Monaten wieder das Weite. Dann ließ man es von einem Paar bewirtschaften, das Konzerte mit der Charly Schreckschuss Band veranstaltete. Um es anschließend statt an Ton Steine Scherben, die ebenfalls ein Angebot abgegeben hatten, an eine Jugendhilfeeinrichtung für betreutes Wohnen zu verkaufen, die schon bald ebenfalls Schiffbruch erlitt. Mitte April wird der sogenannte Rio-Reiser-Hof nun zwangsversteigert.

Geschichte wird gemacht

Von seiner Atmosphäre wurden einst auch Die Ärzte, Kettcar oder Die Sterne inspiriert. Rio Reisers Grab, auf das seine Brüder so stolz waren, weil zuvor nur dem Bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß die Ehre widerfahren war, auf einem Privatgrundstück bestattet zu werden, wurde indes längst umgebettet. Seit drei Jahren befindet es sich auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Berlin. Dort, wo auch die Gebrüder Grimm liegen. Darunter tun es Reisers Erben nicht.

Die Faszination alter Songs wie Keine Macht für Niemand, Der Traum ist aus oder Jenseits von Eden ist jedoch ungebrochen, insbesondere in der Punk-Szene, deren Vorreiter Ton Steine Scherben waren. Sie spielten als erste Rock mit deutschen Texten. Die parolenartigen Refrains werden weiterhin auf Demonstrationen skandiert, weil sie nichts von ihrer Wucht verloren haben, auch wenn es sich die 68er längst in ihren „Nestchen“ bequem gemacht haben und eine neue Generation heute die Utopie der französischen Revolution propagiert: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Davon überzeugen kann man sich nun in den kommenden Wochen, wenn Ton Steine Scherben in Originalbesetzung auf Tournee gehen, wobei Reiser selbst durch Lanrues Tochter Ella Josephine Ebsen und den Berliner Nico Rovera ersetzt wird, der auch äußerlich an den jungen Rio erinnert. Dafür wird aber erstmals seit 1985 wieder Lanrue selbst, der heimliche Kopf des Musikerkollektivs, den Ton angeben.

Kein Zweifel: Die Legende lebt. Doch der Traum von der Freien Republik Fresenhagen, einem anderen Leben im Falschen, gehört unweigerlich der Vergangenheit an. Denn das Zauberland, von dem Reiser sang, war schon abgebrannt, bevor sich seine Erben daran machten, die Geschichte einer Musikkommune umzuschreiben und alle daran Beteiligten zugunsten eines einzelnen Genies zu Statisten zu degradieren. Ton Steine Scherben waren, wie so viele ehemalige Alternativprojekte, letztlich an dem System gescheitert, dem sie den Kampf angesagt hatten. Während politisch weniger radikale Bands wie BAP Karriere machten und der Marsch durch die Institutionen andere bis in den Bundestag und ins Außenministerium brachte, waren ihre Träume an der Realität des Kapitalismus zerschellt: Wer nicht genügend Platten verkaufte, galt ab den achtziger Jahren künstlerisch nichts mehr. Der Kampf zwischen David und Goliath war zugunsten des Stärkeren entschieden worden, die Alternativszene verbürgerlicht, und aus Hausbesetzern wurden so Hofbesitzer.

Am Mythos, dass Fresenhagen über magische Kräfte verfüge, die nicht nur die Scherben inspiriert hätten, und dass dieser Ort ein Symbol für die deutsche Alternativbewegung der siebziger Jahre und ein anderes Lebensgefühl sei, wird somit auch die Zwangsversteigerung nichts ändern. Das haben Legenden eben oft so an sich: Sie enthalten zwar meistens einen Kern historischer Wahrheit, zielen aber auch auf die Verkündigung eines Glaubens. Ding Ding Dang Dang.

Hollow Skai ist Musikexperte. Er schrieb die Reiser-Biografie Das alles und noch viel mehr und eine Geschichte der Neuen Deutschen Welle: Alles nur geträumt

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