Klebrig, eklig, igitt

Literatur Marieke Lucas Rijnevelds „Was man sät“ ist nichts für Zimperliche
Ausgabe 36/2020
Marieke Lucas Rijnevelds Schreiben ist roh und teilnahmslos, wenn auch oft grotesk eindringlich
Marieke Lucas Rijnevelds Schreiben ist roh und teilnahmslos, wenn auch oft grotesk eindringlich

Foto: Jeroen Jumelet/ANP/AFP/Getty Images

Marieke Lucas Rijnevelds Debütroman, der soeben den International Booker Prize gewonnen hat und dabei auch Daniel Kehlmanns Tyll aus dem Rennen warf, verstört. Das Buch war ein Bestseller in den Niederlanden, woher Rijneveld, 28, auch stammt. Rijneveld identifiziert sich als nicht-binär, also weder als männlich noch weiblich. Der Roman Was man sät beginnt damit, dass die junge Jas sich darüber ärgert, nicht mit ihrem Bruder Matthies Schlittschuhlaufen gehen zu dürfen. Und Jas wünscht sich ebenfalls, Matthies würde anstelle ihres Kaninchens sterben. Der Verdacht: ihr unsentimentaler Vater, ein Milchbauer, könnte das Haustier fürs Abendessen eingeplant haben. Doch dann stirbt Jas’ Bruder wirklich. Er bricht im Eis ein.

Was folgt, ist die schonungslose Studie einer Familie, die im Wahnsinn der Trauer zusammenbricht, was durch die kindlich schlichte, undramatische Art und Weise, in der das alles berichtet wird, umso beunruhigender wirkt. Jas’ Familie wird zudem durch den Ausbruch der Maul- und Klauenseuche auf ihrem Bauernhof, der die Schlachtung der geliebten Kühe nötig macht, vor eine weitere schwere Prüfung gestellt. Die Familie ist streng christlich – ein Hintergrund, den sie mit Rijnevelds wirklicher Familie teilt. Und auch Rijneveld arbeitet noch immer in einem Milchviehbetrieb. Rijneveld hat über das Gefühl, mit einem „bedrohlichen, grausamen Gott“ aufzuwachsen, gesprochen – und auch davon, in jungen Jahren einen Bruder verloren zu haben, worüber in ihrer Familie kaum gesprochen worden sei. Das schweigsame Leiden ist auch im Roman die Antwort der fiktionalisierten Familie auf das, was ihr zugestoßen ist. Schon vor Matthies’ Tod sind die Eltern überfromm und züchtigen ihre Kinder. Körperfunktionen gelten hier als Quelle der Schande. Nach dem Unfall scheint es, als verknüpften sich die Dogmen über Sünde, Buße und Körperlichkeit mit dem Verlust und den verzweifelten Versuchen, ihn zu bewältigen, auf schmerzhafte Weise.

Jas weigert sich, ihren mit der Zeit immer ekliger werdenden roten Mantel auszuziehen, lässt eine Nadel in ihrem Bauchnabel stecken und entwickelt chronische Verstopfung – dieser nüchtern erzählte, skatologische Roman ist nichts für Zimperliche. Jas’ Bruder Obbe schlägt wie besessen seinen Kopf gegen das Bettgestell und fängt an, Tiere zu töten, während die Mutter eine länger und länger werdende Liste von Lebensmitteln anlegt, die sie sich zu essen weigert. Die Figuren der Geschichte testen körperliche Grenzen aus – die eigenen wie die anderer. Jas’ Vater schiebt ihr Seife in den Hintern, um die Verstopfung zu lösen; ihre Schwester steckt ihr die Zunge in den Mund, was sich für Jas wie ein von der Mutter aufgewärmtes Steak anfühlt. In einer besonders unangenehme Szene kommt eine Befruchtungspistole aus Metall in einer Körperöffnung zum Einsatz, für die sie nie vorgesehen war.

Rijneveld hält sich bei all dem wirklich nicht zurück und stochert mit klebrigen Fingern an unangenehme Stellen herum, um peinliche Erinnerungen an vorpubertäre Erkundungen von Sexualität und Sterblichkeit zu wecken. Rijnevelds Schreiben ist roh und teilnahmslos, wenn auch oft grotesk eindringlich. Nicht alles funktioniert in diesem Roman: Auf der Suche nach einem Ende für ihre Geschichte wirkt Rijneveld bemüht. Jas’ Überzeugung etwa, ihre Mutter halte Juden im Keller versteckt, scheint weniger plausibel als die meisten ihrer anderen Wahnvorstellungen.

Trotzdem ist es ein ziemlich bemerkenswertes Debüt. Selbstbewusst und brutal, dabei weniger beliebig als kontrolliert erzählt, präsentiert Was man sät eine denkwürdig schräge Erzählerfigur und ein bemerkenswertes neues Talent.

Was man sät Marieke Lucas Rijneveld Helga van Beuningen (Übers.), Suhrkamp 2019, 317 S., 22 €

Holly Williams schreibt für den Guardian über Kultur

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