Stillhalten ist tödlich

Die Legende von der Bedrohung durch irakische Massenvernichtungswaffen Rumsfeld und Wolfowitz legen die Karten auf den Tisch

"Die Wahrheit ist, dass wir uns aus Gründen, die sehr viel mit der Regierung der Vereinigten Staaten selbst zu tun haben, auf einen Punkt geeinigt haben, mit dem jeder einverstanden sein konnte: Massenvernichtungswaffen als wesentlicher Kriegsgrund"
Paul Wolfowitz, stellvertretender US-Verteidigungsminister im Interview mit dem Magazin Vanity Fair am 30. Mai 2003

Die USA haben im Irak einen puren imperialen Eroberungskrieg mit der nunmehr zugestandenen Lüge geführt, das eigene Land und die Welt vorbeugend gegen die Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen verteidigen zu müssen. Millionen in allen Kontinenten waren am 15. Februar auf die Straßen gegangen, weil sie den Schwindel ahnten. Manche Regierungen haben den Krieg mitgemacht, nicht weil sie gutgläubiger waren, sondern weil sie auf die Vorteile durch Unterwerfung aus waren.

Nun haben zwei Verantwortliche im Pentagon die Karten auf den Tisch gelegt: Die Mär von der Bedrohung durch die Horror-Waffen habe sich halt als das wirksamste psychologische Mittel angeboten, um den Krieg akzeptabel zu machen. Alle hundertfach von Bush behaupteten und von Blair wiederholten oder ergänzten Beweise für versteckte Arsenale waren nichts als Bluff.

Was wäre im bürgerlichen Alltag die Reaktion auf arglistige Täuschung von ähnlicher Schwere? Ein Skandal wäre unausweichlich. Die Täter würden an den Schandpfahl, wenn nicht vor Gericht gestellt. Auf verantwortlichen Posten wären sie nicht länger zu halten. Und die Helfershelfer wären heillos blamiert.

Aber wie ergeht es den "Geständigen" Rumsfeld und Wolfowitz? Niemand skandaliert sie. Sie selbst machen sich kaum die Mühe, ihre Genugtuung über die gelungene Täuschung zu verbergen. Was aber ist mit den Millionen Protestierenden vom 15. Februar und den Bevölkerungsmehrheiten, die überall bei Umfragen ihre Kriegsgegnerschaft bekundet hatten? Momentan Schweigen im Walde. Auch hierzulande kaum Aufregung über das Gefasel der Schäuble, Merkel und Pflüger von der "Drohkulisse" die angeblich Saddam zur Herausgabe der Massenvernichtungswaffen, die er gar nicht hatte, zwingen sollte.

"Ich bin bestürzt, weil ich weiß, dass die Bundesregierung über Informationen verfügt, dass es Massenvernichtungswaffen im Irak gibt"
Friedbert Pflüger, Außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion am 4. Februar 2003

Nun muss sich entscheiden: Bleibt es bei dem sprachlosen Entsetzen? Beugt sich die internationale Protestgemeinschaft der siegreichen Machtwillkür, oder findet sie zu der Selbstachtung und der Widerständigkeit vom 15. Februar zurück? Kaum zu glauben, dass der Triumph des Militärs ihnen die moralische Energie rauben könnte, mit der sie der Invasion entgegengetreten waren. Sie hatten doch recht mit ihrem friedlichen Aufstand. Den lange beschlossenen Angriff konnten sie nicht verhindern. Aber ein Zeichen haben sie gesetzt, das nachwirken wird, sofern sie jetzt nicht nachträglich dem falschen Spiel durch Resignation Recht geben.

Es ist doch verkehrte Welt, wenn jetzt der seiner Unredlichkeit überführte Präsident ausgerechnet diejenigen europäischen Staatsmänner, die sich von ihm nicht zum Narren halten ließen, durch Schikanen bestraft, obwohl er doch selbst und sein ganzer Führungszirkel an der Reihe wären, sich für ihre Unredlichkeit zu entschuldigen.

Fortan dürfte aber klar sein: Diese amerikanische Regierung wird gut und böse endgültig nur noch nach dem Maßstab differenzieren "Wer gehorcht uns und wer nicht". Wir siegen, also haben wir Recht. Nun grassiert ringsum eine Epidemie des Umdenkens wie durch ein hochinfektiöses Virus. Eine Regierung nach der anderen entdeckt die neue Anständigkeit, nämlich Selbstentmündigung als vermeintliches Gebot von Loyalitätspflicht und Dankesschuld. Die Polen dürfen im Irak Polizei spielen, und die Briten dürfen hoffen, dass die Beute Öl mit ihnen geteilt wird. Wer nicht mitmacht, sieht die kalte Schulter. Kritiker aus dem eigenen Land werden als unpatriotisch stigmatisiert, alle übrigen als feindliche Anti-Amerikaner.

"Amerikaner neigen einem eigentümlichen Wahn zu", schreibt Norman Mailer, "nämlich, dass wir Amerikaner alles können". John le Carré lässt sich von der Londoner Times so zitieren: "Die USA haben wieder eine ihrer Perioden historischen Wahnsinns erreicht, aber das ist die schlimmste, an die ich mich erinnern kann."

Wahnsinn, das ist schnell dahingesagt. Aber ist nicht etwas daran? Wahn ist Besessenheit. Präsentiert dieser Präsident im Weißen Haus sich nicht ganz offen als Besessener mit seiner Kreuzritter-Mentalität und seinem exorzistischen Berufungsglauben? Und erreicht er es etwa nicht, dass sich Massen willig von seinen Welt-Rettungsphantasien hinreißen lassen, so dass selbst die Demokraten um ihre Wahlchancen fürchten, wenn sie seiner Kriegspolitik widersprechen? Also handelt es sich doch um ein Kollektivphänomen, wie es Freud schon 1920 in Massenpsychologie und Ich-Analyse beschrieben hatte.

Nun wiegeln manche ab: Könnte man diesem Präsidenten und seinem hingerissenen Gefolge nicht den Traum gönnen, etwas Besonderes zu sein und in Gottes eigenem Land zu leben. Schließlich sind die Amerikaner zur Zeit die Stärksten, und ist es denn so schlimm, wenn es doch die Freiheit ist, die sie überall hintragen wollen?

Tatsächlich ist Freiheit der Begriff, den Bush beinahe jeden zweiten Tag beschwört. Was aber lebt er vor? Was ist das anderes als pure Machtwillkür aus Stärke, wenn er die UNO erpresst und bei Misslingen missachtet, wenn er das Prinzip der Ebenbürtigkeit und der Gleichberechtigung der Völker aushebelt, auf das sich die internationale Staatengemeinschaft 1945 - unter maßgeblicher Mitwirkung der USA - verständigt hatte?

Da ist die neue "Nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten". Sie will die militärische Übermacht der USA für alle Zeit festschreiben und gegen jede etwa erwachsende Konkurrenz durchsetzen. Das aber ist nichts anderes als die Programmierung der nächsten Kriege. Die Drohgebärden gegen den Iran sind in dieser Hinsicht bereits unmissverständlich.

Freiheit kann immer nur bringen, wer diese zunächst in sich selbst hat. Jedenfalls fehlt sie demjenigen, der sich ständig von Schurken und Schurkenstaaten umringt sieht, deren er sich durch unablässiges militärisches Besiegen erwehren zu können glaubt. Wer die Welt so sieht, dem wohnt nicht die Freiheit, sondern Verfolgungsangst inne. Das Wahnhafte liegt also gar nicht so sehr in der grandiosen Selbstüberschätzung im Sinne von Mailers "Wir Amerikaner können alles". Vielmehr verrät die Besessenheit eine aus dem eigenen Inneren aufsteigende Phantasie des Schrecklichen, des Zerstörerischen, der Barbarei. Und dieses Gespenst muss fortwährend an äußeren Feinden festgemacht, bekämpft und besiegt werden. Das Phantom der unauffindbaren Massenvernichtungswaffen des Saddam Hussein war für die Rumsfeld und Wolfowitz gewiss nur eine wohlkalkulierte Erfindung. Aber für den Präsidenten war es und ist es anscheinend doch noch mehr, nämlich die unentbehrliche Materialisierung des Bösen, die das gesuchte heroische Szenario für die Rettungstat plausibel macht. So hält er ja auch anders als Rumsfeld und Wolfowitz an dem unbedingten Vorhandensein des Teufelszeugs in unentdeckten Verstecken unbeirrbar fest. Die paranoide Fixierung auf die lauernden feindlichen Arsenale ist die gefährliche Kehrseite der geheimen Selbstvergöttlichung.

"Die Bedrohung durch Saddam Hussein und seine Massenvernichtungswaffen ist real"
Angela Merkel, CDU-Vorsitzende am 8. Februar 2003

Aber was an dieser Irreführung der Welt auch immer normal oder pathologisch ist - so oder so ist entschlossener Widerstand gegen die destruktiven Auswirkungen dieser Mentalität geboten. Die von den Kriegsmachern heraufbeschworene moralische Krise darf nicht verschwiegen oder gar verdrängt werden. Die Gegenkräfte, die der 15. Februar sichtbar gemacht hat, dürfen nicht schweigen, was hieße, dem Schurkenstück nachträglich Recht zu geben.

Die neue US-Strategie heizt unausweichlich ein neues Wettrüsten und die Entwicklung neuer Generationen von Massenvernichtungswaffen an. Die Führungsmacht büßt auf diesem Wege nichts von der Verletzbarkeit ein, die ihr am 11. September 2001 bewiesen wurde. Nur eine internationale, von unten herauswachsende und vernetzte Bürgerbewegung kann in die Politik die Idee hineintragen, die allein die gemeinsame Zukunft garantiert: Das ist der Aufbau von Sicherheit durch Gemeinsamkeit, das heißt Widerstand gegen die Pentagon-Strategie, die genau die Katastrophe, auch für die USA selbst, vorbereitet, die sie verhindern zu können vorgibt.

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