Ausreden und Fluchtwege, dem Tod zu entkommen

(Todesarten) Das Kind liegt halb im Wasser auf Sand und auf Felsen. Nirgends ein Ochs oder ein Esel. Das Kind liegt in der Krippe auf Heu und auf Stroh. Nirgends Bomben und Krieg.

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Zwei Kinder aus der gleichen Gegend. Erst der Tod machte sie zu Ikonen. Den einen mit drei den anderen mit dreissig. 2000 Jahre voneinander getrennt. Doch "tausend Jahre sind vor Dir wie der Tag, der gestern vergangen ist".

Mir geht es weder um Kirchengeschichte, noch um Fluechtlinge. Ich habe keine Zweifel, keine Anklagen, sammle keine Unterschriften. Der Vatikan und die Festung Europa sind mir egal. Ich lebe in Australien.

Es geht mir um den Tod.

Wir haben den Tod hinter die Kulissen geschoben, schrieb Norbert Elias. Wenn er uns ploetzlich und unverhuellt erscheint, am Strand, am Kreuz, am Rand der Autobahn oder im IS-Video, reagieren Menschen mit Entsetzen.

Tote gehoeren unter eine Plane oder in den gut verschnuerten Leichensack. Selbst die Kreuze werden demnaechst wieder, am Jahrestag des Todes, verhuellt. Wennn schon ueber den Tod gesprochen wird, muss man ihn nicht auch noch sehen.

Warum eigentlich?

Klar. Tod ist das einzige Ereignis unseres Lebens, das wir nicht beherrschen. Den Tod koennen wir verzoegern aber nicht heilen.
Zur "Heilung" des Todes klammern sich viele der Sterbenden an die alte Mythen. Doch die sind aehnlich kraftlos wie die Sterbenden. Die unsterblichen Goetter sind klapperig geworden, taub, stumm und blind. Dement, ohne Sinn und Verstand.

Niemand mehr, der Sinn spenden koennte. Nur der Tod mit seiner haemischen Frage, wofuer wir die vielen Lebensjahre abgesessen haben: vom Kinderheim, ueber den Jugendknast zum offenen Arbeitsvollzug bis wir endlich Freigaenger wurden. Keine gute Aufzaehlung.
Dem dunklen, existenziellen Nihilismus entkommen, vor dem Tod, lange vorher, das ist unsere beinah unmoegliche Aufgabe. Darum weg mit den Fragen, weg mit dem Tod. Abgang! Hinter die Kulissen! Gibt's Alternativen?

1. Versuch: Auswege

Zum Vergessen gibt es die endlose, immer neue Welt. Liebe, Familie, Eigenheim und Kinder, Bundesliga, Shopping, Weihnachten oder Chanukha, Fasten, Wellness, Kreuzfahrt oder die Hajj. Wir koennen uns so vieles leisten, das Sinn verspricht. Ohne schlechtes Gewissen. Geht ja. Klappt ja. Und wenn dann ploetzlich der Tod kommt ist alles ok. Das wuenschen wir uns.

Besser vielleicht der Weg in die Rationalitaet? Weltbilder, wissen wollen, Buecher schreiben, die Zukunft planen. Immer die naechsten Generationen im Blick. Die Unterdrueckten, die Ausgebeuteten, die naechsten 50 Jahre. Der Egoismus mag im Kaemmerlein bleiben. Forevere active. Die Welt braucht uns. Forever and ever.

Oder sollen wir etwa die endlose Arbeit an den Mythen weiterfuehren? Die Ketten des Sysyphos sind doch laengst verrostet, sein Stein zerbrochen. Die Umdeutungen des Alten, selbst mit bestem Bemuehen, enden in der Kleingruppe, im Wahrhaben und Rechthaben wollen.

Auswege? Nur Ausreden.

Am Ende warten weder Gott noch Mensch, sondern der Tod. ( Ein Rauchopfer im Hotelbett in Rom.)

2. Versuch: Fluchtwege

In den abrahamitischen Kulturen, die auch die griechischen Goetter adoptierten, wurde die Todesangst gelegentlich als Todessehnsucht umgedeutet. Nutzlose Flucht. Die Maertyrer weinen bei ihrer Steinigung und zittern ehe sie ihre Weste detonieren. Der Tod bleibt. Unberechenbar. Unvorhersehbar.

Man kann sich einen individuellen Fluchtwege als Sinn konstruieren. Fest an etwas glauben: an den Fortschritt, die Verbesserung der Welt, die Zukunft der Kinder, Menschenliebe, Opferbereitschaft. Tod wo ist Dein Schrecken? Heldenhaft! Doch die Helden vor Troja oder in Gethsemane hatten immer einen Gott in der Hinterhand, wenn sie zweifelten. Mit diesem backup ist es leicht zu sterben. Doch Held sein ohne einen Gott im Ruecken?

Ein ganz anderer Fluchtweg vor dem Tod fuehrt nach Osten in die karmisch-bunte Zauberwelt.
Tod? Keine Problem. Wer abrutscht, darf nochmal. Das Rad des Lebens dreht sich ewig, drei Aeonen lang. Der Engel kommt alle tausend Jahre und wischt mit dem Fluegel leicht ueber den Felsen. Das erste Aeon ist vergangen, wenn der Felsen verschwunden ist. Drei Aeonen sind eine beruhigend lange Zeit fuer Wiedergeburten. Nicht immer als Mensch, dennoch, es geht weiter immer weiter. Ha, ha, Tod.
Die schoenen Rituale, die bunten Gesichter, die Gesaenge, die Erleuchtung, die Einteilung der Welt ins Heilige und Profane. Tausende Jahre alt, erprobt und transportabel in alle Welt. Die moderne Wissenschaft beweist's. Kein Verfallsdatum. Ewig und ewig.

Eine sanfte Versuchung. Die anderen, die mit dem Tod hadern, nennen den karmische Fluchtweg Selbstbetrug und Esoterik und fluechten anders. (Vielleicht wie Malina, die in der Wand verschwindet?)

3. Versuch: Abkuerzungen

In Athen, die Hunde, die Kyniker. Unmittelbare Filosofie. Das Leben im Dreck. Nichts zaehlt ausser dem Augenblick.

Zivilisiert und eleganter die Stoiker. Warum weiterleben? Keine Ziele. Das eigene Blut vergiessen, damit ein Ende ist.

Ganz im Osten eine voellig idiotische Abkuerzung: Das Leben nicht ganz ernst nehmen.
Laecherlich son Leben, heisst es. Ein paar Jahrzehnte eingeklemmt zwischen Geburt und Tod. Rein ins Hamsterrad oder nicht, wo ist der Unterschied? Sinn ist ein aufgeklebtes Etikett. Tod nur ein Wort. Natuerlich gibt es Angst und Freude, Verzweiflung und Glueck und so weiter. Bitteschoen.
Was immer ueber das Leben geredet wird, ist nicht das Leben.

Das Kind am Strand, dass Kind am Kreuz, sind lediglich Spuren ihrer Zeit.

Mazu ist gestorben. Seine zahlreichen Kinder weinen am Totenbett. Mazu richtet sich nocheinmal auf. "Geht endlich an eure Arbeit", sagt er und ist wieder tot.

(Fuer Ingeborg Bachmann zum neunzigsten Geburtstag)

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Geschrieben von

Aussie42

Mauerberliner(West) bis 1996, 10 Jahre meditieren in Indien bis 2010, jetzt in Australien. Deutschland weit weg.

Aussie42

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