Deutschland - Hinterland der Zivilisation?

Zwei Monate Deutschland. Vier Wochen Berlin, vier Wochen anderswo in Deutschland. Die Zeit sollte reichen. Spurensuche.

Die erste Ueberraschung: Ueberall in Deutschland nur Weisse! Kaum ein Asiatisches Gesicht, kaum InderInnen, nur ein paar Kopftuecher, in acht Wochen kein einziger Chador. Die Deutschen bleiben unter sich in Deutschland. In Australien gibts weisse Mehrheiten nur in preiswerten Vororten oder in den Kleinstaedten, im Hinterland.

Ist Deutschland das Hinterland der westlichen Zivilisation?

Weitersuchen.

Ein Fahrrad faehrt auf dem Buergersteig. Das Kind mit Helm, die Frau am Lenker ohne. Hm. Ich achte darauf und zaehle. Stimmt. Fast alle Erwachsenen fahren ohne. Ein freies Land mit freiem Kopf?
Und wenn moeglich schlaengeln sich die Radler auf dem engen Gehsteig und ueberholen erschreckte Fussgaenger. Buergersteige abschaffen, wie in Indien? Zweispurige Fahrradwege markieren wie in Sydney und dafuer Parkplaetze verschwinden lassen?

Waere kein Problem. In den Staedten stehen hundertausende von Autos abgeschlossen an den Strassenraendern. Fahren die jemals?
Muessen sie, denn Staus sind gibt es ueberall. Die Ampeln erlauben den Fussgaengern nur gelegentlich und kurzzeitig das Ueberqueren der Autostrassen. Trotzdem warten die Fussies ausdauernd auf das ampelgruen Maennchen .

Strange. War das in den 90ern auch schon so? Ich weiss es nicht. Hatte damals noch selbst ein Auto.

Bus, Strassenbahn, U-Bahn gibts. Alle neu, unpuenktlich, unfreundlicher Service aber beinah sauber. Den richtigen Fahr-Preise koennen nur Einheimische der dritten Generation herausfinden. Meist bin ich daher schwarz gefahren und nicht erwischt worden. Grosse schottische Freude.

Bei der BVG gilt der AB Fahrschein uebrigens auch im Osten.
Wie bitte, den Osten gibt's doch laengst nicht mehr? Die Mauer steht nicht mehr. Natuerlich nicht. Aber den Osten gibt's natuerlich noch. Beweis?

"Freitag ab eins, macht jeder seins." Und so werkeln sie in der Kleingartenkolonie in Falkenhagen bereits am fruehen Freitagnachmittag. Und an den Garagen im halbverlassen Dorf bei Neustadt (Dosse) gibt's auch viel zu haemmern, am Freitag ab um eins. Nur die Karnickel lohnen nicht mehr. Das Weissfleisch in Groessenordnungen wird von der EU nicht subventioniert.

Szenenwechsel. Sechspurige Autobahn kurz vor Muenchen. Vom Voigtland durch den Bayrischen Wald und Franken, vier Stunden auf der Flucht gewesen. Mit der australischen Hoechstgeschwindigkeit von 110 km/h waren wir Freiwild. Ich schlug vor, auf die Standspur auszuwichen.

War das immer schon so? In den 90ern hatte ich einen alten Golf GTI. Damals war ich vermutlich noch nicht Wild, sondern Jaeger.

An einer Strassenbahnhaltestelle in Muenchen. 5 Minuten warten. Ich starre auf das ueberlebensgrosse Bild einer jungen Frau. Breitbeinig steht sie da, die Haende ueber dem Kopf. Kein Widerstand mehr. Sie laechelt kuehl bis ans Herz. Ihr Bikini verdeckt knapp die Nippel und die Schamlippen. Nur 13.95 steht auf dem Plakat einer Klamotten-Kette. Gegenueber, auf der anderen Strassenseite. Das Gesicht eineer sehr jungen Frau, die eine Eistuete umfasst. Blick von unten. Aus dem Mund tropft eine weisse Fluessigkeit. Ich kann den Text nicht lesen. Die Strassenbahn kommt. Beim Hinsetzen grueble ich, ob nuttigen Frauen der aktuellen Marketing-Trend in Deutschland sind, um auch die muffeligen Maenner zum shoppen anzuregen.

Liegts am abgewichsten Porno-Bedarf der Deutschen? Oder bin ich das nur auf meine dreckige Fantasie reingefallen?
Ich merke, die angelsaechsische Pruederie ist mir doch lieber. Muss ja nicht gleich victorianisch sein.

Am naechsten Tag im Viertel der alternativen Lehrer zum einkaufen beim Bio-Obst-Gemuese-Haendler aus der Region . Ich frage die Frau an der Kasse, ob's die Bananen mit den schwarzen Flecken billiger gibt als die glatt-gelben. Alle im Laden gucken mich an, als haette ich Heil Hitler gerufen. "Kannste doch nicht machen", fluestert meine Begleiterin. "In Australien macht das jeder", versuche ich einzuwenden. "Alle Bio-Bananen kosten 2.99", sagt die Frau an der Kasse. Wieder was gelernt.

Abends beim Edel-Italiener. Die Penne waeren fuer Zahnlose geeignet, die Sauce ist aus der Dose und der geriebene Kaese war am Stueck vermutlich eingetrockneter Gouda. Ich will den Matsch einem vorbeieilendem Kellner in die Hand druecken. "Ich hatte Pasta bestellt", sage ich. Der Kellner guckt mich verstaendnislos an. Meine Begleiterin, laechelt brilliant und stellt den Teller wieder auf den Tisch. "Kannste doch nicht machen", fluestert sie.
Gegen diesen Satz kann man nicht anstinken, weiss ich inzwischen.
Am Ende kriegt der Kellner gut 10% Trinkgeld. "Warum denn das? Das Essen war doch Scheisse", frage ich. (Australier gelten als Schotten der Suedsee.)
"Und Du fuehrst Dich auf wie die Axt im Walde", zischt die Begleiterin. "Und rede nicht so laut." Ok, ok.

War das frueher schon so? Egal was auf den Tisch kommt, Trinkgeld gibts immer? Vermutlich. Wie schnell man doch vergisst. Damals wusste ich aber noch nicht, wie eine Sosse aus frischen Tomaten und Kraeutern zur Penne schmeckt, die direkt aus dem sprudelnden Wasser kommt.

War dieses Deutschland vielleicht schon immer Hinterland der Zivilisation?

Schnell wieder nach Berlin(Ost), Invalidenstrasse, Ecke Luisen.
Von Baustellen gequaelter Schrittverkehr. Ich bin zu Fuss schneller, Hae, hae. Dann bin ich noch schneller, weil die Autos stehen bleiben. Ein Motorrad-Schupo hatte sich quergestellte. Kurze Pause. Dann kommt die Kavalkade. Nein, nein, keine 7er Volvos, sondern windschnittige Grossdaimler. Davor, dahinter wie immer Blaulichtautos, weissgruene Motorrad Eskorte. Ich lache. Keiner der Polizisten lacht mit. Zu jung vermutlich.

Die Grossen sind sich alle gleich im Leben und als Leich, zitiere ich aus dem Kopf.
Zufrieden gehe ich weiter zur Charite.

Spaeter, mit der S-Bahn zurueck. Bellevue, Tiergarten, Zoo, Savignyplatz. So wars immer. Gestern dagegen fehlten mir der Marx-Engels-Platz und der Intershop auf dem Bahnsteig der U6 nach Alt-Mariendorf.

Hat sich ja doch einiges geaendert!