Hava Nagila und PTSD - Erfahrung ausagieren

Tanz in Sydney Samsung, Ethiad und Google haben die hochgelobte Hofesh Shechter Company mit Sack und Pack ins Sydney Opera House transportiert. Dort tanzen sie fünfmal SUN. Einen Flop.

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Normalerweise wird in Sydney Ende August um die Wette getanzt. In diesem Jahr hat uns Berlin diesen Event geklaut. Dafuer haben wir den renomierten Hofesh Shechter bekommen, der mit seinen Leuten SUN tanzt. Die Karten gabs mit 75% Rabatt. Trotzdem wars nicht mal halbvoll bei der dritten Auffuehrung.

Mal zur Sache.

Kartenbestellung am Telefon. Die Frau sagt: "Es ist aber sehr laut." Hat gestimmt. (Beim Reingehen kriegte man Ohrstoepsel fuer umsonst.)

Die Musik ist einerseits heldisch, Tannhaeuser, und "Abide with me" (ein anglikanischer Hymnus), andererseits Filmusik von Irving Berlin.

Zu Anfangs zwei 5000 Watt Stimmen aus dem off. Eine dunkel und gefaehrlich, die andere ein aufgeraeumter Conferencier.

Danach wird kurz das Happy-End der Schow vorgetanzt. Schnell komisch, verrueckt.
"Damit Sie auch bis zum Finale bleiben", sagt der launige Ansager.

Die Angst des Choreographen, die Zuschauer koennten trotz der Ohrenstoepsel weglaufen, versteht man gut, wenn man vorm Dunkelwerden die Shechter'sche Biographie im Programmheft gelesen hat.

1975 in Tel Aviv geboren. Kindheit ohne Mutter, stattdessen Klavier und Volkstanz.
Mit achtzehn, 1993, als die erste Intifade endet, zur Armee. Schiessen, schiessen. "It felt like a electrical short circuit (=Kurzschluss) in my brain."
Man nennt diese Erfahrung auch Post-Traumatic-Stress-Disorder (PTSD).

Schechter wird aus der Armee vorzeitig entlassen.

Verlaesst Isreal und reist ruheloslos durch Europa. Tanzt, komponiert, choreographiert. Wird weltberuehmt mit zwei Produktionen in London, "Cult" und "Uprising".

Ruhelos, auch im Sydney Opera House.

Das Trauma wird mit ueberlauter Musik ueberdeckt. Atemlos schnelles tanzen, tanzen, tanzen. Die Compagnie fliegt ueber die Buehne. Von links nach rechts, von rechts nach links.

Zwischendurch Szenen im Gleichschritt. Die Compagnie als Kompanie. Dann eine Erschiessung auf offener Buehne. Kurz darauf: ein Mann am Boden wird von vier anderen ausgepeitscht. Das Klatschen der Schlaege wird mit 5000Watt verstaerkt. Verstehe, Zuschauer! Verstehe!

Einige Volkstaenze, auch Hava Nagila: ein Schritt und das Bein schmeissen, mit dem anderen hops, dann ein weiterer Schritt etc. gefolgt von schnellem Laufen. Und so weiter.

Die Taenzerinnen und Taenzer sind glaenzend trainiert doch lustlos. Routine. Verstaendlich nach der zweiten Auffuehrung mit Hoeflichkeitsapplaus.

Bilder von Schafen, Woelfen, Eingeborenen, Kolonialsoldaten werden betanzt. Das Gute, das Boese, das Gute. Symbol, Symbol.

Immer dabei: lauteste Musik, Rauch, wabernder Nebel, Dunkelheit oder weisses Licht.

Der Prinzipal ist nicht nur in der Musik praesent, sondern stoert seine Taenzer auf der Buehne, zappelt wirr inmitten seiner Leute, versucht sie zu uebertrumpfen.
(Technisch gesehen, haetten der Auffuehrung eine weitere Probe-Wochen sicher gut getan.)

Irgendwann sieht man ein, es kommt nichts mehr. Ein Trauma als Tanz-Produktion ausagiert. Fuer den Betroffenen sicher hilfreich. Fuers Publikum nur ohrenbetaeubend.

Schluss.

Und uebrigens, Berlin, im naechsten Jahr kriegen wir den "Tanz im August" zurueck, ja?

PS.
Jill Sykes, die immer ums Positive bemuehte Kritikerin des Sydney Morning Herald (sowas wie der Tagesspiegel fuer Syneysider) hat diesmal grosse Muehe der Produktion ein Lob abzuringen.

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Geschrieben von

Aussie42

Mauerberliner(West) bis 1996, 10 Jahre meditieren in Indien bis 2010, jetzt in Australien. Deutschland weit weg.

Aussie42

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