Jetzt wird nicht mehr in die Haende gespuckt!

Kleiner-Wachsen Nach vierzig Jahren sind die "Grenzen des Wachstums" erreicht. Die Bevölkerung, der Verbrauch von Wasser, Energie, Protein wachsen exponentiell. Gibt's einen Fluchtweg?

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(Sorry, bisschen lang geworden.... Ging nicht anders.)

Gillian Flynns Krimi "Gone Girl" spielt im heruntergekommenen Stadtteil North Carthage, Missouri.


Die Polizei versucht mit dem Tagebuch einer verschwundenen Frau nachzuweisen, dass ihr Mann sie umgebracht hat. Spannend, weil alle Leute befragt werden, die im Tagebuch genannt sind.

Die Junkies im laengst geschlossenen Einkaufszentrum, die obdachlosen Arbeiter der ruinierten Schraubenfabrik, der ehemalige Besitzer der ausgebrannten Tankstelle, die schwerhoerige Rentnerin vor ihrem Fernseher, die drei Saeufer vorm Schnapsladen, die Witwe des toten Optikers, die mit dem Fernglas am Fenster sitzt.
Kranke, zerstoerte Menschen, die alle einmal in komfortablen Haeusern mit Auto in der Einfahrt in diesem Stadtteil gelebt haben. Durch den wirtschaftlichen Niedergang wurden sie unkontrollierbar in ein anderes, armselig fremdes Leben geschleudert.

"Frueher" haette man hoffen koennen, dass es irgendwann wieder aufwaerts geht in North Carthage. Aber heute? Ist diese amerikanische Vorstadt-Ruine nicht vielmehr die urbanen Zukunft der ersten Welt?

Vieles spricht dafuer: die zunehmende oekonomische Ungleicheit, die Fluechtlingsstroeme, chemische Katastrophen, Ueberschuldung der staatlichen und privaten Haushalte, die Abhaengikeit der Politik von Konzernen und Lobbyisten, die allgegenwaertige Korruption, das Versagen der Gewerkschaften. Alle diese Fehlentwicklungen treffen vor allem die Staedte und tragen zu deren Zerstoerung bei.

Hinzu kommen weltweiten Bedrohungen, durch Klimawandel, permanente Kriege, Finanz-Spekulation, Bevoelkerungswachstum, etc.

Trotzdem, eine Firma mit neuer, sauberer Technologie koennte sich ploetzlich auf dem Gelaende der alten Schraubenfabrik in North Carthage ansiedeln. Schon gaeb's wieder Arbeitsplaetze, Einkommen, Kaeufer fuer die Haeuser usw. Alles wieder prima? Nein. Orte wie North Carthage gibt es ueberall in der ersten Welt. Eine davon zu retten aendert nichts.

Doch gibt es eine Alternative zum Verfall der Stadt, in dem die Menschen des Romans "Gone Girl" leben?

"Degrowth", Kleiner-Wachsen, ein Mittelweg zwischen Wachstumsideologie und Zusammenbruchsapokalypse wird gegenwaertig als Ausweg diskutiert.

Durch Umkehrung der Wachstumsfixierung sollen der stabile, (regionale) Oekonomien entstehen, die entscheidend zum Rueckgang der CO2-Emmissionen beitragen.

Durch diesen Paradigmenwechsel koennte auch eine ueberregionale Rezession oder Depression, der Zusammenbruch des globalen Finanzsystems oder eine Weltwirtschaftskrise besser abfedert werden. Nicht nur die Staedte waren gerettet. Soweit die Theorie.

In Deutschland wird "degrowth" noch umfassender verstanden, dass zeigt u.a. die "Stream Towards Degrowth Conference Leipzig 2014" von Anfang September.

Die "usual suspects" fast aller gruen&alternativ&linken Aktivitaeten haben zum Thema "degrowth" beigetragen, was sich u.a. in den vielen Uebersetzungen des englischen Kunstworts "degrowth" zeigt.

Kleiner-Wachsen (eine weitere Uebersetzung von degrowth...:)) ist jedoch kein Allheilmittel fuer Konferenzthemen wie Klimawandel, den Kapitalismus, die Konsumorientierung, den Verfall der Staedte, das Wirtschaftsabkommen mit den USA, die Ungleichheit auf der Welt usw.

Es geht beim Kleiner-Wachsen (lediglich...) darum, Ressourcen (Wasser, Energie, Flaechen, Nahrungsmittel etc.) einzusparen, damit fuer unsere Enkel noch was uebrig bleibt! (Wenn dabei der Kapitalismus abgeschafft werden muss: Tja wat mut dat mut.)

Ein ambitioniertes welt-gesellschaftliches Ziel, das lokal (!) umgesetzt werden soll.

Degrowth gibt's aber nicht fuer umsonst zu haben. In der erste Welt sind ziemlich rigorose Einschraenkungen des individuellen Lebensstils gefordert! "Green-light", also Fahradfahren, Abfalltrennung und Bioladen etc. reicht nicht mehr aus.

Halt, halt! Das gab's doch alles schon mal! Aussteigen, Landkommune, alternatives Leben, Aufhebung der Trennung von Arbeit und Leben etc. Das hat doch alles nicht geklappt! "Es gibt kein richtiges Leben im falschen", so haben die schlauen Leute die vielen Misserfolge damals erklaert. Gut, der Einwand ist notiert.

Unmoeglich ist Degrowth nicht.

Das Kleiner-Wachsen der Wirtschaft ist vergleichbar dem Rueckbau einer Durchgangsstrasse zur verkehrsberuhigten Zone oder der De-Regulierung eines kanalisierten Fluss durch Oeffnung der Ueberflutungswiesen.

Solche Vorhaben stossen immer auf Widerstaende. Dennoch kann man's erfolgreich durchsetzen. Es geht schliesslich nicht um brandneue Modelle oder revolutionaere Konzepte. Eine Strasse, einen Flusses, die lokale Wirtschaft zu veraendern, das kann sich fast jeder konkret vorstellen. Darueber kann man reden, sich streiten und einigen.

Mit einem kontrollierten oekonomischen "Schrumpfen" der Krimi-Kleinstadt North Cathage haette man vermutlich deren urbanen Verfall aufhalten oder vermeiden koennen. Vermutlich.

Statt lang und breit uebers Kleiner-Wachsen weiter zu argumentieren: ein kleines Gedanken Spiel.

Nehmen wir an, die Wiedervereinigung waere nicht als Wachstumsprozess (abreissen-neubauen) organisiert worden, sondern als kontrollierter Degrowth-Prozess, als Kleiner-Wachsen der DDR.

Keine Frage, die DRR war auf Wachstum fixiert (2-3% proJahr) ohne Ruecksicht auf Umweltschutz, Verschleiss, Effizienz usw. Und es ging auch immer um Modernisierung. Die DDR war schliesslich das nicht-militaerische Technologie-Zentrum des RGW.

Wirtschaft und Industrie der DDR mussten nach 1989 heftig umgebaut werden:

Einige Chemiebetriebe in der Region Halle-Bitterfeld waren oekologisch untragbar. Schliessen.

Einige der Kombinate waren zu gross und unbeweglich. Entflechten.

LPGs und GPGs setzten zu viel Chemie ein. Verkleinern. Usw.
Durch dieses unvermeidlich Kleiner-Wachsen der Oekonomie waeren aber Kernbereiche sichtbar geworden, die zu erhalten oder zu "reparieren" waren.

Geld aus dem Westen haette man gebraucht. 100 Milliarden DM vermutlich. (Aber eben nicht die 2.000 Milliarden Euro die dann spaeter ausgegeben wurden.)

Regional diskutiert, umgesetzt und gesteuert, haetten sich die Menschen wieder eine Zukunft in einer "reparierten" und "funktionierenden" DDR aufbauen koennen.

Wie das im einzelnen ausgesehen haette kann, man nicht vorhersagen. So glitzernd wie im Westen jedenfalls nicht.

Der Berliner Zentralismus waere zweifellos sehr "klein gewachsen" und durch Koordination der Regionen ersetzt worden. Beispielsweise.

Schoene Idee, doch waren nicht die meisten Menschen viel zu ungeduldig, um sich auf die "Reparatur der DDR" einzulassen. Der "Westen" war die scheinbar bequemere und schnellere Alternative.
Stimmt, aber viele waeren auch geblieben und einige von den Abgewanderten waeren auch zurueckgekommen. Vielleicht.

Die oekonomische Konfoederation beider deutscher Staaten, die zunaechst statt "Wiedervereinigung" beabsichtigt war, haette das skizzierte Kleiner-Wachsen der DDR ermoeglichen koennen.

Haette, waere, koennte. Schluss mit den Konjunktiven.

Die DDR wurde abgerissen. Danach wuerden "bluehende (Industrie) Landschaften" wachsen, versprachen die Politiker. Hat nicht geklappt.
Die Wiedervereinigung ist ein "gutes" Beispiel fuer das spektakulaere Scheitern der Wachstumsideologie ("alles weg, alles neu").

Statt Umbau der Wirtschaft durch kontrolliertes Kleiner-Wachsen von Regionen wurde ein unkontrollierter wirtschaftlicher Zusammenbruch ausgeloest, der im Gebiet der ehemaligen DDR bis heute zu spueren ist.

Das Gedankenspiel zeigt, dass Geduld und politischer Wille fuer den Abschied vom Wachstum unabdingbar sind. Regional sind solche Voraussetzungen eher zu finden, als ueberregional. Doch regionale Erfolge reizen zur Nachahmung.

Beim Rueckbau einer Durchgangsstrassen bleibt es meist nicht. Auch andere Leute im Stadteil wollen Nachts wieder ruhig schlafen koennen....


Doch Kleiner-Wachsen kann auch ganz anders und weniger spektakular beginnen als damals, in Deutschland.

Hier in Sydney, versucht Clover More, die energische Oberbuergermeisterin, seit einigen Jahren Kleiner-Wachsen als oekologische Rueckeroberung der Stadt zu beginnen.

Kleine Parks wurden in Community-Gaerten umgewandelt. Vertikale Gemuese-Gaerten auf dem Balkonen werden propagiert. Bienenzucht mitten in der Stadt ausprobiert. Die Begruenung von Hochhausfassaden wird bezuschusst. Fahrradwege und der oeffentliche Nahverkehr werden ausgebaut.

Zudem gibt es immer wieder Veranstaltungen in denen der oekologisch-soziale Umbau anderer Grossstaedten vorgestellt werden. Kleine Schritte in Richtung auf eine andere Innen-Stadt, in der Salat, Gurken und Spinat produziert werden und nicht nur big business dominiert. "We eat our suburbs", meinte jemand aus San Francisco.


Selbst diese Clover More Trippelschritt zum Kleiner- Wachsen muessen gegen den erbitterten Widerstand der Konzerne durchgesetzt werden, die in Sydney ihre Verwaltungen haben. Auch Politiker, egal welcher Couleur, die von Spenden der Konzerne und vom Wohlwollen der reaktionaeren Medien abhaengig sind, stellen ich gegen die Oberbuergermeisterin.

Doch nicht nur die Profiteure, auch Buerger und Waehler, die an Wachstum, Konsum, Wegwerfen etc., gewoehnt sind, werden Degrowth nicht wollen.

Verzichten ist nicht sexy. Koennte es aber sein.

Wenn die Wirtschaft unkontrolliert zusammenbricht wie in der DDR oder zuletzt in Suedeuropa, kann es Jahrzehnte dauern, bis das Land, die Regionen sich davon wieder erholt.

Nachdem die Grenzen der Wachstums erreicht sind koennte "Degrowth", Kleiner-Wachsen, ein Fluchtweg sein.

Uebrigens, das "Gone Girl" ist gar nicht tot, sondern taucht wieder auf. North Carthage allerdings bleibt verfallen wie es ist. Bis zum bitteren Ende des Romans.

Fuer diesen Beitrag habe ich zwei Artikel aus dem australischen Nachrichten Magazin "The Conversation" benutzt. Hier die URLs

http://theconversation.com/what-gone-girl-tells-us-about-american-degrowth-32697?utm_medium=email&utm_campaign=Latest+from+The+Conversation+for+10+October+2014+-+1973&utm_content=Latest+from+The+Conversation+for+10+October+2014+-+1973+CID_c3b21e8c1ae8d07344c11ae914de673d&utm_source=campaign_monitor&utm_term=What%20Gone%20Girl%20tells%20us%20about%20American%20degrowth

http://theconversation.com/life-in-a-degrowth-economy-and-why-you-might-actually-enjoy-it-32224?utm_medium=email&utm_campaign=Latest%20from%20The%20Conversation%20for%202%20October%202014%20-%201958&utm_content=Latest%20from%20The%20Conversation%20for%202%20October%202014%20-%201958+CID_a353342529c170e7792db42ce6d04b94&utm_source=campaign_monitor&utm_term=Life%20in%20a%20degrowth%20economy%20and%20why%20you%20might%20actually%20enjoy%20it


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Geschrieben von

Aussie42

Mauerberliner(West) bis 1996, 10 Jahre meditieren in Indien bis 2010, jetzt in Australien. Deutschland weit weg.

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