Lebenserfahrung gegen die Angstkampagne in UK

Brexit als Klassenkampf. Regen in Manchester. Engels hat hier den reinen Kapitalismus entdeckt. Alle Oeffentlichen sind privat. Gespräche im Bus. "Brexit? I'll vote for it." Auch der Vermieter.

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Die Prognosen fuer oder gegen den EU-Ausstieg sind das Lieblingsthema der Meinungsbefrager im Vereinigeten Koenigreich. Seit zwei Wochen hat das "out-camp" die Nase vorn, hat "momentum". Warum eigentlich?

Je aelter und aermer der Brite, desto Brexit.

Ziemlich einfach. Im Februar war die grosse Mehrheit der jungen Leute gegen den Brexit. Ab 40 ueberwog der Anteil der Brexit-Befuerworter. Was unterscheidet junge und aeltere Leute? Klar, die Lebenserfahrung.
Die aelteren haben 25 Jahre lang EU am "eigenen Leibe" erfahren: die Privatisierungen, die Finanzkrise und Blaire, den Neo-Con.
All das hat die Lebensbedingungen in UK verschlechtert. Die EU ist nicht an allem Schuld, bietet sich aber als Projektionsflaeche an.

Fuer die Juengeren ist's anders. Die verdienen Geld mit irgendeinem Job auf dem fluiden Arbeitsmarkt. Damit am Wochenende im Billig-Flieger auf den Kontinent, nach Muenchen, Marseille oder Mallorca. Sprit und Meta sind billig und die Parties cool, good fun und back home. Easy living in Europe.

Bereits das Lebensalter erklaert also die unterschiedlichen Praeferenzen fuer den Brexit.

Hinzu kommen, schreibt die Zeit, die sozialen Differenzen "einer Nation, die beim Thema Europa in zwei Klassen gespalten ist: (...) Je privilegierter, desto EU-freundlicher. Je weniger privilegiert, desto Brexit. Solch eine Kluft tut weh", meint Imke Henkel. .

Um Frau Henkels Resumee mal bombastisch umzuformulieren: Der Brexit ist Klassenkampf! Herzlichen Danke, liebe Tante.


Zum Klassenkampf gehoeren immer zwei.

Was macht das UK-Kapital und sein Lakaien? (Wenn wir schon beim bombastischen Formulieren sind.) Man wuerde denken, die "Herrschenden" wuerden ihren Hintersassen die vielen wunderbaren Vorteile der EU-Mitgliedschaft verklickern. Fehlanzeige. Keine Wort darueber! Nicht ein einziges.

Stattdessen wird Angst verbreitet, Horror. Nach dem Brexit wird alles ganz, ganz furchtbar werden! 'Es kann ja sein, dass ihr euch benachteiligt fuehlt, liebe Briten. Nach einem Brexit wird's aber viel, viel schrecklicher.' Das ist die Botschaft von oben.

Bei dieser Angst Kampagne machen alle mit: Obama, und die Damen Merkel und Lagarde, die Herren der zweiten Reihe, Tusk, Junker, Schaeuble und natuerlich auch Cameron und seine City-Claqueure.
Dazu passt ganz prima ein Schreckensszenarium der Tante.

Auch Gregor Gysi hat ein Horrorszenario fuer die Zeit nachdem Brexit. „Ich garantiere Ihnen, wenn die EU passé ist, haben wir spätestens zehn Jahre danach wieder bewaffnete Konflikte in Europa.“ So wird Gysi im Newsletter des neuesten Freitag zitiert.

Bei soviel Zuarbeit aus allen Lagern muessen die cleveren Jungs, die ihr Geld knochenhart arbeiten lassen, nur noch ab und an einen kleinen Brexit-Pups ablassen. Der medial zum Donnergrollen wird und die Maerkte erschreckt.

Doch bisher haben diese Kampagnen eher das Gegenteil bewirkt. Es ist, als haetten die "weniger Privilegierten", wie ehedem, nichts zu verlieren als ihre Ketten. Der Brexit hat Zulauf.
Aber freuen wir uns nicht zu frueh.

Nach dem Brexit

Die EU-Oberen tut so, als wuesste sie noch nicht, was ihre Buerokraten am Tag nach dem UK-Austritt tun werden.

Doch die Plaene sind laengst fertig und nicht schwer zu erraten. Nur vier Hinweise.

1. Bei "unpassende" Ergebnissen wurden, in der Vergangenheit, EU-Volksbefragungen so oft wiederholt, bis sie "passten". Die nationalen Abstimmungen ueber den EU-Grundlagen Vertrag von Lissabon sind das "Schnittmuster".
Diese Methode wird fuer UK-Abstimmung gerade angeleiert. Verhandlungen ueber die Bedingungen des Brexit koennen zwei Jahre dauern, meinte EU-Tusk neulich.

Solange gilt dann business as usual fuer die Briten. Parallel dazu Brexit-Verhandlungen mit schweren Krisen, Nachtsitzungen etc. Das volle Programm. Liebe, Drama, Wahnsinn fuer Europa.
Danach ein zweites Brexit-Referendum fuer das Koenigreich anzusetzen, ist doch logisch, oder?

2. Cameron und Corby haben beide nicht hinreichend funktioniert. Erfolglose Politiker sind ungehoerige Lakaien und werden vor die Tuer gesetzt. Es gibt genuegend Dienstboten. Der eine wird durch den cleveren Boris Johnson ersetzt. Der andere durch einen der weniger unbeliebten Labour-Repraesentanten.

3. Die cleveren Jungs der globalen Finanzmaerkte koennen derweilen einige Schnaeppchen abgreifen, wie damals in der GFC.

Flankierende Massnahmen:

Grossbetriebe werden ein paar Tausend Leute entlassen, die ohnehin nicht mehr gebraucht werden.

Die Steuern werden angehoben und die Renten gekuerzt. Immer mit der Begruendung Brexit. (Im Guardien UK werden solche Konsequenzen noch kritisch hinterfragt.)

Die Schrauben werden angezogen, um die "ungebildeten" Brexit-Befuerworter zu ueberzeugen.

4. Und wenn die Menschen weiterhin stoerisch sind? Werden die Schrauben eben fester gedreht. Eine bewaehrte Strategie.

Doch Luegen wir uns nichts in die Tasche.

Mit Referenden kann man die Bebauung des Tempelhofer Rollfelds verhindern oder den Verkauf eines lokalen Wasserwerks. Schon der Bau eines Bahnhofs ist gegen ein Referendum immun.

Darum sehe ich im Augenblick keine erfolgversprechende Strategie gegen die weitere Ausbreitung des neo-reaktionaeren Kapitalismus, weder durch den Brexit in UK noch durch Proteste anderswo auf der ersten Welt.

Trau keiner/m unter dreissig.

Ein wichtiger Grund sind die vielen jungen Leute, die mit knall-bunten Werbeversprechen gross geworden, die sie kopflos gern glauben wollen. Verstaendlich. Sie konnten die "Vorteile" des Systems schliesslich einige Jahre lang geniessen". Warum kritisieren?

Solange shopping eine Freizeitbeschaftigung ist und die Schlangen vor den Appleshops laenger sind als vor der Suppenkueche der Heilsarmee, wird sich nicht viel aendern.

Beim Untergang des "ancient regime" haben einigen tausend Buerger auf der Guillotine den Kopf gelassen.

Heutige Regime haben sich gegen Revolutionen dieser Qualitaet immunisiert. Sie koennen sich nur noch selbst zerstoren. Dabei gehen auch die Lebenswelten der Buerger kaputt. Diesen Mechanismus hat der Zusammenbruch des "Sozialismus" ueberdeutlich vorgefuehrt.

"Preiswerter" wird auch der Zusammenbruch des Kapitalismus nicht zu haben sein.

Die Queen hat es gut. Sie ist neunzig, darf nicht abstimmen und braucht ihren Kopf fuer die Huete. God save the Queen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Aussie42

Mauerberliner(West) bis 1996, 10 Jahre meditieren in Indien bis 2010, jetzt in Australien. Deutschland weit weg.

Aussie42

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