Was auf den Tisch kommt, wird gegessen!

Ernährung&Herrschaft Klar, derzeit geht's vor allem um Geschenke fuer die Lieben. Aber Liebe geht durch den Magen. Essen essen, Essen! Ist das alles? Ein Blick ueber den Tellerrand.

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Als ich in der erste Klasse war, ermahnte mich meine Grossmutter, ich solle auf keinen Fall mein Pausenbrot in den Abfall schmeissen, weil sonst die Armen N***kinder hungern muessten. Zwei Kriege und drei Ehemaenner frueher, als meine Grossmutter die hoehere Toechterschule in Bremen besuchte, war das vermutlicher ein fortschrittlicher Hinweis.

Ich dagegen kannte einen AmiN***, der mir mal einen Donut geschenkt hatte. Dessen N***Kinder brauchten mein Pausenbrot bestimmt nicht! Oft genug hatte ich auch gar keins.

Nur die Bauernkinder warfen ihre Wurstbrote in den Abfallkorb auf dem Schulhof. Son Brot haette ich mir liebend gern mal rausgefischt, aber die grossen Kinder waren immer schneller. Und die Bauernkinder haben haemisch gelacht.

Seit diesen Erfahrungen des Erstklaesslers mit dissonanten Informationen zur weltweiten Ernaehrungsituation, verfolgt mich dieses Thema.

Ab der vierten Klasse wurde leider nicht mehr gehungert. Der Konsum war wieder auf und im Milchladen konnte man Schlagsahne kaufen. Das Thema Ernaehrung hatte sich praktisch erledigt.

Spaeter lernte ich noch deprimierende Woerter wie Kalorie, Diaet und Normalgewicht. Mit 40 wollte ich Buddhist werden, entschloss mich aber zunaechst nur zur vegetarischen Ernaehrung.
Als meine Familie und meine Bekannten sich nicht daran gewoehnen konnten, mir keine Schnitzel auf den Teller zu legen, ging ich nach Indien.

Die meisten Inder sind naemlich Vegetarier, was anderes koennen sie sich nicht leisten. Die Landarbeiterinnen kochen einmal am Tag einen Brei fuer die Familie. Der wird abends warm gegessen und am naechsten Tag kalt. Wenns nicht genug ist kriegen die Maedchen weniger und die Jungen mehr.


Manchmal bekommen diese Familien ihre staatliche Ration von Reis oder Dall. Dazu wird eine duenne Sosse mit viel Chilli gekocht. Dieses Fest-Essen reicht dann einige Tage lang. Danach gibt's wieder Brei.
So lebt die Mehrheit der vegetarischen Inder. Hungrig, ohne Kaste, ohne Rechte, ohne Zukunft.

Brahmanen, die traditionelle Oberschicht, sind die anderen vegetarischen Inder. Sie demonstrieren durch ihre fleischlose Ernaehrung Distanz zum 98%igen Rest der Gesellschaft.

Zwischen diesen beiden Extremen gibt es ca. 300 Millionen Inder, die Fleisch, Fisch und Eier essen, um sich von den armen Vegetariern abzugrenzen. Je mehr man isst, um so deutlicher hat man sich abgegrenzt. Bisschen mit dem Essen rumschmieren, ist auch prima, denn das zeigt den Hungerleidern, dass man sich was leisten kann.

Als Ergaenzung ab und an demuetig ein "pure veg" Restaurants zu besuchen, um Naehe zur Oberschicht zu demonstrieren, gehoert fuer die indische Mittelschicht auch zum Lebensstil.

Ich brauchte fast zwei Jahre, bis ich das Essen als "subkutanes Gewebe" von Herrschaft in der indischen Gesellschaft verstehen konnte.

Als Vegetarier fuehlte ich mich in dieser Zeit zunehmend unwohl. Die armen Leute, die ich durch die sozialen Projekte kannte, empfanden es als Hohn, wenn ich als reicher Europaer vorgab, kein Fleisch zu essen. Und meine Brahmanen Freunde winkten nur muede ab, wenn sie hoerten, dass ich Vegetarier sei: Das behauptet jeder.

"Einfach so" Vegetarier sein geht in Deutschland. In Indien demonstriert ein vegetarischer Europaer Parteinahme fuer die Oberschicht.

Diese abgrenzende Funktion des Essens ist in anderen Kulturen durchaus aehnlich.
Orthodoxen Juden essen koscher und trennen in der Kueche das Milchige und das Fleischige.
Glaeubige Muslime essen halal und fasten waehrend des Ramadan bis die Sonne untergeht.
Fromme Christen verzichten am Freitag auf Fleisch und fasten sechs Wochen lang vor Ostern.
Im wissenschafts-glaeubingen Westen argumentieren Vegetarier und Veganer mit ernaehrungsphysiologischer Forschung und richten sich danach.

Kurz, durch "richtiges Essen" begruenden Eliten (und die, die sich dafuer halten) ihre gesellschaftlich-religioese Dominanz.
Allerdings kann "richtiges Essen" leicht dysfunktional und sektirerisch werden, vor allem wenn's religioes ueberhoeht wird. Einige Beispiele.

Fasten ist fuer Suffis eine der Vorbereitungen auf dem Weg zur Einheitserfahrung. Darum gelten sie vielen Muslimen als Abtruennige und werden verfolgt.

Die Franziskaner Spirituale des spaeten Mittelaltern versuchten das biblische Armutsgebot zu leben und wurden dafuer verbrannt.

Die jungen Chassiden im bettelarmen Osteuropa studierten die Thora ohne zu arbeiten und ohne viel zu essen. Halluzinationen begleiteten ihren Weg zum Abgrund des Erkennens. Vielen verwirrte sich vorher der Geist.


Die indischen Saddhu-Asketen nahmen in Kauf, an Unterernaehrung zu sterben, nur um ins Nirwana zu gelangen.

Buddhistische Moenche haben nur das gegessen, was Ihnen die Bevoelkerung spendete. Meist war das nicht viel, oft Abfaelle oder gar nichts. Viele haben diesen Weg zur Erleuchtung nicht ueberlebt.

Heute sterben Krebskranke, die meinen, durch eine spezifisch abgestimmte Ernaehrung ihre Krankheit besiegen zu koennen.

Uebertrieben "richtiges Essen" schaedigt und entlarvt aber nicht nur religioese Sektierer, sondern muss auch in der deutschen Familie bekaempft werden.

Nehmen wir den ersten Weihnachtstag. Die Teenager-Tochter verschmaeht angewidert die Kruste der Gans und knabbert lieber eine Karotte .
Um die Ordnung der Familie zu sichern, muss der Hausherr dann ein Machtwort donnern. "Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt!" beispielsweise.

Mit aehnlichen Hinweisen auf das angemessen "richtige Essen" wahren die geistig-religioese Eliten der Hindus, Juden, Muslimen, Christen, Veganern usw. ihre Dominanz gegenueber dem Rest der Gesellschaft.

Hier koennte jetzt nahtlos eine vorweihnachtlicher Spendenaufruf fuer "Misereor", "Oxfam" oder "Brot fuer die Welt" anschliessen.

Waere zu einfach. Hunger in der dritten Welt ist eben nicht nur Nahrungsmangel, sondern auch - wie die religioesen und familialen Beispiele zeigten - eine Methode der elitaeren Dominanz und Unterdrueckung. Daran koennen und wollen Hilfsorganisationen nichts aendern.

1905, als meine Grossmutter die Schule fuer hoere Toechter in Bremen besuchte, waren dieser Zusammenhaenge offensichtlich bekannt. Den armen N****Kinder in Deutsch-Suedwest ein paar Schulbrote von der Waterkant zukommen zu lassen, waere in voellig Ordnung gewesen. Schliesslich sorgte Paul von Lettow-Vorbeck mit seinen Askari und Kamelreitern dafuer, dass die Herero nicht uebermuetig wurden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Aussie42

Mauerberliner(West) bis 1996, 10 Jahre meditieren in Indien bis 2010, jetzt in Australien. Deutschland weit weg.

Aussie42

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