In wenigen Wochen, zum Jahreswechsel, biegt die bundesdeutsche Gesellschaft in die Endrunde einer Legislaturperiode ein, in der vor allem die Hoffnung auf Entspannung am Arbeitsmarkt enttäuscht wurde. Die vor bald vier Jahren gewählte neue Regierung kann im kommenden Winter mit der registrierten Erwerbslosenzahl rechnen, welche die CDU/FDP-Vorgängerregierung hinterließ. Das waren damals mehr als vier Millionen. In der Masse ist diese Zahl kaum abgeschmolzen. Konjunkturell und saisonal tritt eine zugespitzte Situation ein, die ohnehin durch fortlaufende Rationalisierung der Arbeitsabläufe und den Wegfall von Arbeitsplätzen gekennzeichnet ist - selbst in Branchen, die früher als krisensicher galten. Allein die vier größten deutschen Bankinstitute planen die Entlassung von über 20.000 Beschäftigten. Keine günstigen Umstände für die Gewerkschaften in Deutschland: Deren auffallend defensive Tarifpolitik hatte die abgenötigte Akzeptanz des verschärften Arbeitsdrucks in den Betrieben zusätzlich einzukalkulieren. Wo keine Alternative aufscheint, dieser Lage auszuweichen oder zu entkommen, wächst die Bereitschaft, vieles zu ertragen.
In vielen Branchen und Tarifbezirken einigten sich die Tarifvertragsparteien bereits im Jahr 2000 auf mäßige Tarifabschlüsse, um die Kostenstruktur der Unternehmen von der Lohnseite her möglichst wenig zu belasten. Dies entsprach der ökonomischen Lehrbuchweisheit, nach der eintretende Gewinnsteigerungen das Wachstum fördern und Neueinstellungen hervorrufen, sofern Zurückhaltung beim Preis der Arbeitskraft geübt wird. Die vage Hoffnung auf eine stetige Wachstumsrate um drei Prozent animierte die gewerkschaftlichen Verhandlungsführer zu Tarifvertragslaufzeiten von zwei Jahren, wobei eine geringe Lohnanhebung für 2001 vorab festgelegt wurde. Rücksichtnahme auf einen SPD-Kanzler, der dem Interventionsstaat in Fragen der Beschäftigungspolitik insoweit abschwört, als er auf keinen Fall Unternehmern auf die Füße treten will, spielte hier auch mit.
Bei einem Anstieg der Arbeitsproduktivität von zwei, einer Inflationsrate von 2,5 Prozent und einer durchschnittlichen Lohnerhöhung von 2,1 Prozent kam in diesem Jahr noch nicht einmal ein Inflationsausgleich zustande. Der Produktivitätsfortschritt schlug bei den Unternehmen voll zu Buche, während auf dem Binnenmarkt die Massenkaufkraft lahmte. So vollmundig wie selbstbewusst hatte Werner Peters, der Zweite Vorsitzende der IG Metall, angekündigt, in der nächsten Tarifrunde wolle man entschieden auf der Formel Produktivitätswachstum plus Inflationsausgleich plus Umverteilung beharren, um Wachstumsimpulse zum Ausgleich rückläufiger Exporterlöse über den Massenkonsum zu geben. Inzwischen folgten kleinlautere Töne aus der Vorstandsetage der IG Metall. Denn im Gefolge des Konjunktureinbruches in den USA wähnen Wirtschaftsforscher und Vorstandssprecher nun auch die hiesige Wirtschaft "am Rande einer Rezession". Jenseits des Atlantiks kehrte sich in einem Dreivierteljahr ein durchschnittlichen Wachstumsplus von 5,6 Prozent im Jahr 2000 auf ein Wachstumsminus von 5,8 Prozent im September 2001 um. Dort weicht jetzt monatelang vorgetäuschter Optimismus nüchterner Skepsis. Eine ähnliche Entwicklung ist für Deutschland absehbar. Hier schnurrten die Wachstumsvoraussagen des Bruttoinlandprodukts seit Jahresbeginn um zwei auf momentan 0,7 Prozent zusammen. Dass Vorstandssprecher der Industrieverbände prognostisch alles gern noch tiefer hängen, muss nicht wundern. Die ursprünglichen Tarifziele der IG Metall können dann noch besser als Killer der Restkonjunktur denunziert werden, weil Umsatzrückgänge und Lohnkostensteigerungen laut herrschender ökonomischer Logik die Beschäftigungssituation negativ beeinflussen; sie verhindern angeblich die Reinvestition. Die abgeschöpften Profite der vergangenen Jahre kommen in dieser Optik allerdings nicht vor.
Mit der Orientierung auf kurzfristige Tarifvertragslaufzeiten versucht die Gewerkschaftsseite, ihrem Dilemma zu entgehen. Zuerst könnten nominal nach oben greifende Lohnerhöhungen die Mitgliedschaft ruhigstellen. Je düsterer die Konjunkturlage im Sommer ausfällt, desto bescheidener wären die Anschlusstarifverträge zu formulieren. Diese Gangart käme den Unternehmern durchaus zupass. Beide Schritte versprechen Ruhe an der Klassenfront, und nicht zuletzt verhagelt keine klassenkämpferische Eruption den angepeilten Wahlsieg der neuen Sozialdemokratie. Daran sind beide Seiten interessiert: Die Gewerkschaften danken für kleine Geschenke wie das novellierte Betriebsverfassungsgesetz, mit dem sie ihren betrieblichen Einfluss und damit den organisatorischen Bestand sichern. Die Unternehmer dürfen stark auf weitere "Reformen" hoffen, mit denen Bruttolohnbestandteile für die Sozial- und Gesundheitsversicherungssysteme wegfallen. Die glatte Inszenierung der sogenannten "Rentenreform" - Absenken der staatlichen Rentenbezüge bei Individualisierung der Restrisiken - bewies, dass sozialdemokratische Vorstandskrähen in den Gewerkschaften dem Parteivorstandsgefieder der gleichen Art kein Auge aushacken.
Mit dem Zugeständnis eines Inflationsausgleichs und branchenspezifischer Regelungen zur Lohnfindung schwenkte BDA-Chef Dieter Hundt auf eine Position ein, über die sich mit den Gewerkschaften Einvernehmen herstellen lassen müsste. Dezente Hinweise auf eine Beteiligung am Produktivitätswachstum je nach Branche oder Betrieb, derzeit im Schnitt bei 2,5 Prozent, bringen das Zugeständnis einer noch weiter betriebsnah zerfaserten Tariflandschaft ins Tarifpokerspiel. Das Ende des Flächeneinheitstarifs rückt näher.
Aber je länger kein durchgreifender Abbau der Erwerbslosenrate erfolgt (West 7,2 Prozent, Ost 16,8 Prozent im Oktober), desto mehr bleibt der Handlungsspielraum gewerkschaftlicher Politik eingeengt. Ein Ausweg wäre vorhanden, er ist nicht neu: An der Umverteilung des gesellschaftlichen Arbeitsaufkommens auf mehr Beschäftigte durch Arbeitszeitverkürzung führt kein Weg vorbei. Der Appell der Gewerkschaften an die Unternehmer, Überstunden wenigstens dann zu reduzieren, wenn sie ausufern, verweist auf zwei Notwendigkeiten. Eine Arbeitszeitgesetzgebung, die, aufs Quartal berechnet, eine 60-Stunden-Woche ermöglicht, gehört abgeschafft. Sie wirft die Frage nach der Legitimation einer Regierung auf, die mehrheitlich von Lohnabhängigen gewählt wurde und hier nur zuschaut. Aufgrund des Tarifvertrages in der Metallindustrie ist weitere Arbeitszeitverkürzung bis 2003 kein Thema. Dann aber wird stundenweises, wöchentlich verrechnetes Abzwacken an der Normalarbeitszeit kein Problem lösen. Es geht um den Kampf für einen neuen Normalarbeitstag in der Gesellschaft. Der Sechsstundentag ohne Lohneinbuße eröffnet einen vierten Schichtkorridor am Tag. Die Transformation von Teilzeitstellen in Vollzeiterwerbsplätze würde insbesondere die Gleichwertigkeit der Frauenerwerbstätigkeit fördern. Nicht zu vergessen die kräftigeren Zuflüsse in die Kassen der Sozialversicherungssysteme infolge erhöhter Erwerbstätigenzahlen. All das wird auf massiven Widerstand von Kapitaleignern und Besitzern großer Vermögen stoßen. Aber es ist eben nicht nur ein Verteilungskampf, sondern gleichfalls ein Kulturkampf um die Frage, wie wir in Zukunft mit fortschreitender Produktivität leben wollen. Die Gewerkschaften können diesen Umschwung allein nicht erzwingen. Sie brauchen Bündnispartner in der Gesellschaft, die wenigstens meinungsbildend den Klimawechsel flankieren und absichern, in dem das neoklassische Dogma von den zu hohen Arbeitskosten - für wen mit welchen gesellschaftlichen Folgekosten? - endlich zu Fall kommt.
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