http://i57.tinypic.com/28qxf6p.jpg
© Hubertus J. Schwarz / Obdachlose Lajicha / Chicago / 2014
Eh, das ist meine! Lasst meine Kiste los, das ist meine!“ – das Mädchen keift. Sie ist außer sich, der verwaschene Slang kaum zu verstehen. Ihre Stimme kippt ins Schrille, während die Jugendliche über den Gehsteig läuft. Sie hält auf ein Pärchen zu. Die beiden Touristen stehen am Rande der Dearborn Street. Sie fotografieren einander vor dem Hochhauspanorama im Herzen Chicagos. Um besser ins Bild zu passen, drängen sich die zwei auf einem alten Pappkarton. Sie haben die alte Kühlschrankverpackung aus einem Müllhaufen unter einer der vielen Brüstungen hervorgezerrt.
Ihre Urlaubsfotos schießen die Touristen jedoch nicht auf einem beliebigen Altkarton, die beiden stehen auf dem Lebensmittelpunkt von Lajicha. Die Kiste ist Unterstand, Wohnung, Verkaufsfläche, Liebesnest des obdachlosen Mädchens in einem.
Lajicha schenkt den beiden nicht einen weiteren Blick. Sie rückt ihren Karton wieder an seinen Platz vor dem Gerümpelberg und beginnt in den aufgehäuften Säcken und vollgestopften Einkaufstaschen zu wühlen. Die junge Obdachlose sortiert ihr bisschen Leben. Zwei übereinander gestülpte Schlafsäcke, eine Plastiktasche mit abgetragenen Kleidern, etwas wie ein derangierter Kosmetikbeutel und Decken, jede Menge Decken. Die sind überlebenswichtig für die bitteren Winter in Illinois - und die harten Sommer, in der „Windy City“ am Lake Michigan können auch die Nächte im Mai noch klirrend kalt werden.
http://i62.tinypic.com/21oc9i9.jpg
© Hubertus J. Schwarz / Lajicha die Künsterin ohne Heimat / Chicago / 2014
Jeder Sechste lebt in Armut
Chicago, die drittgrößte Stadt der Vereinigten Staaten, zählt offiziell 2,7 Millionen Einwohner. Im Einzugsgebiet der Metropolregion sind es nahezu 10 Millionen Personen. Laut einer Erhebung der Initiative Povertyusa lebt jeder sechste Amerikaner in Armut, das entspricht etwa 46,2 Millionen Menschen, jeder Siebte ist dazu obdachlos – ein zunehmender Trend. Bereits 2010 stellte der United States Census einen Prozentsatz von 14,3 der Bevölkerung fest, die unter der Armutsgrenze leben, 2008 waren es 13,2. Seit zwanzig Jahren steigt die Quote unaufhörlich. Die Vereinigten Staaten, das Land der millionenschweren Tellerwäscher und kapitalistischer Selbstverwirklichung hat ein Elendsproblem.
Aber auch die vormaligen Industriestandorte Detroit, Chicago, Cleveland oder Pittsburgh veröden zusehends.In diesen Landkreisen liegen die Aufstiegschancen durchschnittlich unter 30 Prozent.
Hat das Schluckloch Armut einen erst einmal erfasst, ist ein Entkommen nur noch schwer möglich. Wie in allen modernen Industrienationen ist Arbeitslosigkeit ein stetiger Begleiter. Die nach wie vor anhaltende Abwanderung der Fertigungsstätten großer Unternehmen in Billiglohnländer lässt den Lohnarbeitssektor massiv einschrumpfen. Menschen mit mangelhafter Ausbildung haben es so immer schwerer, sich eine einfache Anstellung etwa als Lagerarbeiter oder am Fließband zu ergattern. Der Druck auf die ehemaligen Hochburgen der Industrie potenziert sich zudem durch die Sparzwänge der Wirtschaftskrise von 2008.
Aus dieser Entwicklung destillierte das National Poverty Center der Universität Michigan den sozialdemografischen Limes, nachdem Menschen mit einem jährlichen Einkommen von 11,344 Dollar, umgerechnet 9,952 Euro, als arm gelten. Dieser Wert differenziert sich unwesentlich, je nach Alter und Anzahl der Kinder.
Für Menschen wie Lajicha bedeuten Johnsons Worte nichts. Sie bekommen das amerikanische Elend mit voller Härte zu spüren. Arme pilgern von einer Suppenküche zur nächsten, so lange, bis genügend Nahrung für einen Tag im Magen beisammen ist. Die meisten Mittellosen klappern dafür eigene, festgefahrene Routen ab.
Diese Anlaufstellen sind oft überlebenswichtig. Eine 2013 ausgesprochene Gesetzesnovellierungen stellt zunehmend unter Strafe, bettelnden Menschen in der Öffentlichkeit Lebensmittel zu schenken. Damit soll das Elend aus den Städten verbannt werden. 2014 wurde der neunzigjährige Arnold Abbot verhaftet, weil er im Zuge seiner seit über 23 Jahren bestehenden Non-Profit-Organisation Love Thy Neighbour Nahrungsmittel an Bedürftige verteilte. Unter dem Eindruck dieser Repressalien wird der spontane Wohlfahrtsgedanke nachhaltig verkrüppelt. Frei nach dem Motto Aus-dem-Auge-aus-dem-Sinn verschwinden die Armen wieder in den Häuserschluchten der Sozialbauten – dort schwelen soziale Brennpunkte unter der Oberfläche der öffentlichen Wahrnehmung ungehemmt fort. Die verwahrlosten Labyrinthe aus Beton mutieren zu in sich geschlossenen Mikrogesellschaften, mit eigenen Verhaltensweisen und Herrschaftssystemen. Nach den Analysen des Wirtschaftswissenschaftlers Tom Hertz ist der Ausbruch aus dieser Kaste kaum möglich, die Isolation von Armen und Obdachlosen befeuert den Trend überdies.
http://i61.tinypic.com/ams55e.jpg
© Hubertus J. Schwarz / Solidarität der Mitmenschen / Chicago / 2014
Wo die Solidarität der Passanten noch nicht verboten ist, kann sie den Bedarf der vielen Obdachlosen kaum decken. George, als Kriegsversehrter gezeichnet, verdient sich als Straßenmusiker ein Zubrot zu seiner Invalidenrente. Ohne die Unterstützung karitativer Vereine und lokaler Hilfsprojekte würde er seinen Lebensunterhalt nicht stemmen können. Es scheint zynisch, dass gerade die Verletzung, die ihn nach der Heimkehr bei der Arbeitssuche und dem Wiedereinstieg in das soziale Leben hinderte, nun einen Bonus im Überlebenskampf des Chicagoer Großstadtdschungels garantiert.
http://i58.tinypic.com/30muzxi.jpg
© Hubertus J. Schwarz / Veteran George / Chicago / 2014
Wer den Willen aufbringt sich auf die Sozialhilfen des Staates zu stützen, begibt sich auf eine bürokratische Odyssee, korrumpiert von überlasteten und mangelhaft geschulten Behörden. Ein Ursprung dafür ist das tückische Steuersystem der Vereinigten Staaten. Die Gemeinden und Städte sind im Besonderen auf die Einnahmen aus der Grundsteuer angewiesen. Diese bemisst sich jedoch, wesentlich strikter als in Deutschland oder Österreich, aus dem aktuellen Marktwert der Kommunen. Sinkt dieser, beispielsweise durch fallende Immobilienpreise während einer Rezension, schlägt sich das unmittelbar auf die Steuereinnahmen nieder.
Je schlechter es einer Region geht, desto weniger Geld hat die Verwaltung, um den entstehenden Defiziten entgegen zu wirken. Die Schulung von Arbeitslosen, Kinderbetreuung oder Resozialisierungsprogramme können so kaum der gesellschaftlichen Abwärtsspirale Einhalt gebieten.
http://i58.tinypic.com/e61vuw.jpg
© Hubertus J. Schwarz / Lajicha und ihre Bilder / Chicago / 2014
Statisch keine Chance
Obwohl Lajicha als Frau und Afroamerikanerin statistisch kaum eine reelle Chance hat, der Armut zu entkommen, zählt sie doch zu den hoffnungsvollsten Kandidaten für eine Resozialisierung. Vorausgesetzt sie wird von einem der Hilfsprogramme aufgefangen. Bisher hat sie es geschafft, weder drogenabhängig noch schwanger zu werden, beides stigmatisiert eine Obdachlose in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit als hoffnungslosen Fall.
Die Deutungsebene hinter Lajichas Bildern bleibt schwer zu dechiffrieren. Es kommen einem die Worte der ersten afroamerikanischen Preisträgerin des Pulitzerpreises, Gwendolyn Brooks, in den Sinn. Die ebenfalls in Chicago aufgewachsene Dichterin schrieb, schon in fünf oder sieben Silben könnte echte Größe stecken. Es braucht kein überbordendes, episches Werk um Wahrhaftigkeit auszudrücken.
__________
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.