Es soll "die demokratischste und revolutionärste Partei in der Geschichte Venezuelas" sein - so die Vorstellung von Hugo Chávez, der bis Dezember eine Vereinigte Sozialistische Partei (PSU) gründen will. Sie soll alle linken Kräfte bündeln. Im März hatte der Präsident sein Projekt verkündet, heute ist klar, dass sich die Partei Patria Para Todos, die KP und andere nicht anschließen werden. Chávez hat dafür wenig Verständnis. Wer die PSU ablehne, übernehme "Gedankengut der Rechten und des Imperiums".
"Ich habe im Meer geackert und in der Wüste gesät", soll Simón Bolivar im Jahr 1830, kurz vor seinem Tode, gesagt haben. Die Lebensbeichte des venezolanischen Befreiers vom kolonialistischen Joch der Spanier konnte kaum bitterer ausfallen. Er war damit gescheitert, aus Großkolumbien - wozu damals Kolumbien, Panama, Venezuela und Ecuador gehörten - sowie Peru und Bolivien eine Konföderation zu bilden, die ein starkes Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten darstellen und letztlich zur Einheit des Subkontinents führen sollte.
1826 vom "Libertador" Bolivar auf der ersten Panamerikanischen Konferenz in Panama als die "schicksalhafte Vollendung" eines Lebenswerks proklamiert, bestand diese Konföderation nur wenige Monate. Dann aber musste ihr Schöpfer zunächst im Süden (Peru und Bolivien) durch Intrigen und Konspirationen auf seine Präsidentschaft verzichten. Schließlich brach auch Großkolumbien im Jahr seines Todes auseinander. Damit war eindeutig misslungen, was sich Bolivar im letzten Drittel seines Lebens erhofft hatte - Präsident "seiner" Republiken zu werden und sich unter Umständen sogar zum Kaiser krönen zu lassen. Ein "berittener Geist" wie Napoleon Bonaparte war der "Libertador". Er machte sich daran, den Völkern Lateinamerikas große Verfassungsentwürfe zu präsentieren und mit dem Schwert nicht nur prunkvolle Militärparaden zu veranstalten, sondern in einer ungestümen Großzügigkeit gegenüber den Armen und in dem gebotenen Feingefühl gegenüber den Reichen bürgerliche Verhältnisse durchzusetzen.
Ein Traum oder ein bleibendes Trauma? Die fest geronnenen klerikal-feudalen Strukturen des Subkontinents, der sich allein schon wegen seiner weiten und zerklüfteten Geografie nicht ohne weiteres "vereinheitlichen" ließ, machten Bolivar, der die französischen Revolutionäre, die Jakobiner und Aufklärer, ebenso liebte wie seine üppigen Tropen, einen Strich durch die Rechnung. Der Revolutionär wurde zum tragischen Helden - zu einer der widersprüchlichsten Figuren der lateinamerikanischen Geschichte im 19. Jahrhundert, für die Karl Marx nur Hohn und Spott übrig hatte. In seinem Artikel Bolivar y Ponte - erschienen 1858 in The New American Encyclopædia - wird der "Befreier" sarkastisch als eine Persönlichkeit beschrieben, deren "Neigungen zum Despotismus" eklatant seien. Hier klingt nach, was Marx als bonapartistisches Phänomen in Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte bereits 1852 unter die Lupe genommen hatte: Geschichtliche Tatsachen und Personen ereignen sich zweimal, aber "das eine Mal", verbesserte er Hegel, "als Tragödie, das andere Mal als Farce". Nicht nur das französische Gesellschafts- und Staatsgetriebe samt seinen Galionsfiguren empfand er als Bestätigung dieser These. Sechs Jahre später traf Marx´ Verdikt der "Farce" auch den südamerikanischen Libertador, der überdies als "Lügner", "Betrüger" und "Fälscher" dargestellt wird. Dennoch war Marx´ These - trotz aller Übertreibungen und Missverständnisse - im Kern richtig, sie bleibt bis heute zum Verständnis der populistischen Geschichte Lateinamerikas von eminenter Bedeutung.
Denn dieser "General in seinem Labyrinth", wie Gabriel García Márquez Simón Bolivar in seinem historischen Roman bezeichnete, bleibt als Sinnbild der Gratwanderung zwischen politischer Realität und Fiktion überliefert. "Magisch-realistisch" und von nationalistischem Pathos überstrahlt, taucht er immer wieder auf: Als Lázaro Cárdenas im Mexiko der zwanziger Jahre oder in Gestalt des argentinischen Diktators Juan Domingo Perón in den Vierzigern und Fünfzigern. In der Ära des Brasilianers Getúlio Vargas, ebenfalls in den fünfziger Jahren, oder des Bolivianers Gualberto Villaroel - über 70 Jahre ist das her. Sie alle können durchaus als fortschrittliche "Befreiungskämpfer" im Sinne Bolivars gelten. Nur sollte dabei nicht vergessen werden, ihnen allen waren "despotische Neigungen" nicht fremd, sie einte eine grundlegende Skepsis gegenüber Demokratie und Gewaltenteilung. Sicher illustriert gerade dies "idealtypisch" nur eine allgemeine Tendenz des lateinamerikanischen Bonapartismus in seiner spezifisch populistischen Prägung. Als ein unendlich scheinender historischer Strang, der das rechte wie linke Lager gleichermaßen durchzieht, ist damit jedoch ein gemeinsames Erbe vorhanden, das in Europa nur schwer verständlich scheint.
Natürlich gibt es in Lateinamerika einen progressiven Populismus bonapartistischer Couleur, der ein großes gesellschaftliches Potenzial des sozialen Wandels in sich trägt und bereit hält und nach Fidel Castro in einer neuen Generation charismatischer Caudillos Ausdruck findet. Hugo Chávez und Evo Morales gehören dazu, der Nicaraguaner Daniel Ortega oder Ecuadors Präsident Rafael Correa. Sie stellen eine realistische Alternative zur kapitalistischen Welt als "der besten aller möglichen Welten" dar. Und wollen in diesem Sinne auch gesehen werden.
Im bekannten Spruch aus der Epoche der spanischen Conquista: "Teile und herrsche - aber wenn du schon herrschst, dann teile nicht", sind auch diese jüngsten Erben Bolivars vereint. Mutatis mutandis teilen sie auch dessen bonapartistisches Erbe. Keiner der linken Caudillos Lateinamerikas bleibt davon unberührt: die Erhebung des "politischen Genies" über Staat und Gesellschaft, um politische oder soziale Prozesse "im Interesse von Nation und Vaterland" einheitlich voranzutreiben - diesem Hang entgeht keiner. Man gibt sich bürgerlich oder sozialistisch, aber handelt gelegentlich autoritär. Demokratie wird dabei oft als "notwendiges Übel" verstanden, da sie dem lebenslänglichen Machtanspruch des "charismatischen Führers" entgegensteht. Ferner werden "Volksgefühle" heraufbeschworen, die per se als revolutionär gelten sollen.
Hugo Chávez´ Erklärung in seiner Sendung Aló presidente vom 5. März 2007, die er inzwischen mehrfach wiederholt hat, eine Sozialistische Einheitspartei Venezuelas ins Leben zu rufen, um mit vereinten Kräften das "US-Ungeheuer" zu besiegen, folgt diesem Geist und dient der Machtkonsolidierung des populären, nationalistischen Präsidenten und einstigen Karriereoffiziers, der in Lateinamerika nunmehr als Neuauflage Fidel Castros und gar als "Wiedergeburt des Libertadors Bolivar" bezeichnet wird. Sein bonapartistischer Versuch, das ganze Spektrum linker Parteien auf eine einheitliche Linie zu bringen (s. Übersicht), soll ein erster Schritt sein, um die auf Bolivar zurückgehende Idee einer "Nationen-Konföderation" mit Leben zu erfüllen, die Lateinamerika aus dem kolonialen beziehungsweise semikolonialen Elend herausführen und somit eine ganz andere Rolle auf der weltpolitischen Bühne ermöglichen soll.
Auch in ihrer bolivarianisch-chávistischen Dimension bleibt "unser Amerika" (so erst Bolivar, später der Kubaner José Martí, dann Fidel Castro und nun Hugo Chávez) als "Volk-Staat-Nation" ein linkspopulistischer Traum. Er bleibt es, solange diese Sehnsucht nur einen nachholenden Bezug auf den europäischen "Leviathan" (Thomas Hobbes) als einheitlich säkularisierten Staatssouverän darstellt, der als Phänomen des absolutistischen Staatssouveräns die bürgerlich-nationale Entwicklung Europas prägte.
Lateinamerika litt im 19. Jahrhundert unter jener für Europa typischen, besonders in Italien und Deutschland beheimateten, historisch-ideellen Ungleichzeitigkeit von bürgerlichem Bewusstsein und feudalem Sein, das plebejisch-populistisch kompensiert werden sollte. "Selbstbewusstsein" blieb auch hier Traum oder war sogar Trauma. Es ließ "verspätete Nationen" wie die deutsche im frommen Ideal eines "zusammengeflickten Bewusstseins" (Hegel) verharren, das nur die Kehrseite ihres "unglücklichen" Seins darstellte.
Die in Europa aber trotz allem historisch gelungene Einheit von "Volk-Staat-Nation", auf die sich Bolivar berief und die den modernen Caudillos bis heute als Orientierung gilt, scheiterte in Lateinamerika vor allem daran, dass hier die reinigende Zäsur des Dreißigjährigen Kriegs vom 1618 bis 1648 nicht stattfand oder bestenfalls als Projektion bestimmter Bildungseliten existierte. In Europa entstand der laizistische Staat, der die Religionskämpfe in den Hintergrund rücken ließ; in Lateinamerika dominierte im 19. und 20. Jahrhundert ein nicht zu erschütternder Katholizismus, der feudal oder später bürgerlich-oligarchisch als Institution mit dem Selbstverständnis der Oberschichten, der Armee, der aufsteigenden plebejischen Schichten, sogar der Unterschichten, und natürlich den Alltagskulturen fest verwachsen war.
Trotz dieser Last der Vorgeschichte scheint die populistische Achse selbst für das heutige Lateinamerika keineswegs alternativlos zu sein. Einige soziale Bewegungen, sofern sie nicht vom Staat hervorgebracht wurden, zeigen eine exemplarische Immunität gegen jedweden bonapartistischen Populismus. Der bolivianische Vizepräsident Alvaro García Linera bemerkte in einem am 29. März 2007 veröffentlichten Interview: "In Venezuela sollen die sozialen Bewegungen von oben aufgebaut werden, in Bolivien existieren diese Bewegungen schon seit langem, und sie nehmen rege Anteil an der Politik. Die Regierung ist von ihnen quasi umzingelt."
Das sollte keine Ausnahme in Lateinamerika bleiben. Am Ende könnte jedenfalls der Tag kommen, der die virulenten bonapartistischen Tendenzen nicht länger verschont. "Denn die materialistische Geschichtsdeutung ist (...) kein beliebig zu besteigender Fiaker und macht vor den Trägern von Revolutionen nicht halt!" - Es war 1919, als Max Weber, fern vom Populismus aller Schattierungen in seiner Schrift Politik als Beruf Karl Marx seine Huldigung aussprach. Auch heute ist dies eine Lehre, die in Lateinamerika Gültigkeit hat.
Hugo Velarde ...
... wird 1958 in La Paz geboren und siedelt 1977 nach Ost-Berlin über. Im Folgejahr beginnt er zunächst in Leipzig ein Philosophiestudium, das er an der Berliner Humboldt-Universität beendet, wo er 1987 zur Wissenssoziologie Karl Mannheims promoviert. 1989 geht Velarde zur Akademie der Wissenschaften der DDR. Seit 1991 arbeitet er freiberuflich als Übersetzer sowie Publizist und ist derzeit Redakteur der in Berlin erscheinenden Zeitschrift Gegner.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.